Zum Hauptinhalt springen

Für die 100 wird es nicht reichen

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Der „Bild"-Nimbus ist angekratzt – die wirklich wichtigen Themen werden längst von anderen besetzt. Gleichzeitig ist der Boulevard dank Facebook und Co. allgegenwärtig. Ob es einen 100. Geburtstag geben wird?

Von Gregor Gysi

 

 

 

Deutschland könnte gut ohne diese Zeitung leben. Ich selbst kann es auf jeden Fall. Und offenbar geht es immer mehr Menschen so, wenn ich mir die fallende Tendenz bei der „Bild"-Auflage anschaue. Dass der Springer-Konzern nun zum 60. Geburtstag des Blattes meint, das ganze Land mit der Jubiläumsausgabe zwangsbeglücken zu müssen, hat schon etwas Skurriles. Nichts könnte aber deutlicher machen, dass „Bild" immer noch glaubt, im Namen der Mehrheit zu sprechen.

In dem Brief an die Griechinnen und Griechen hat die „Bild"-Zeitung verkündet, im Falle eines Wahlerfolgs der Linken die Euro-Zahlungen an Griechenland unverzüglich einzustellen. „Bild" glaubt demnach, den Bundestag, den Bundesrat, die Bundesregierung, die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und den IWF ersetzen zu können. Übrigens, selbst in ihren Hochzeiten wurde sie maximal von einem Fünftel der Deutschen angeschaut, weniger gelesen.

Der „Bild"-Nimbus ist angekratzt

Die Zeiten jedenfalls, in denen ein Kanzler glaubte, nur „,Bild‘, ,BamS‘ und Glotze" beherrschen zu müssen, um die öffentliche Meinung beeinflussen zu können, sind vorbei. Es bedurfte nicht erst der Preisverweigerung von Hans Leyendecker, der den Henri-Nannen-Preis für Investigation nicht ex aequo mit „Bild"-Redakteuren in Empfang nehmen wollte, um vor Augen zu führen, wie angekratzt der „Bild"-Nimbus ist.

Das hat auch mit dem Fall Guttenberg zu tun. Wenn ein Blatt derartig jegliche journalistische Distanz verliert und zum Hofberichterstatter mutiert, nimmt es sich selbst nicht mehr ernst. Zwar mag es noch wie beim vormaligen Bundespräsidenten gelingen, ihn erst ins Amt und dann wieder herauszuschreiben – doch die Themen, die die Gesellschaft wirklich beschäftigen und prägen, werden längst von anderen gesetzt und journalistisch bearbeitet. „Bild"-Kampagnen haben zumindest etwas von ihrem „Schrecken" verloren und gehen immer öfter ins Leere.

Vielleicht beginnt aber auch die Zeit, über das Blatt insoweit hinwegzugehen, als die Form der maximalen Vereinfachung und mit Ressentiments aufgeladenen Informationen dem Anspruch von immer mehr Menschen nicht mehr genügt. Sie wollen ernsthaft politische Entscheidungen in die eigene Hand nehmen. Und in einer vernetzten Welt, in der bei Facebook ohnehin die größte Peinlichkeit freiwillig öffentlich gemacht wird, ist der Boulevard so allgegenwärtig, dass auch „Bild" wie ein Anachronismus wirkt.

Ein Stück Kulturgeschichte

Die „Bild"-Zeitung ist ohne Zweifel auch ein Stück Kulturgeschichte des Nachkriegsdeutschlands. Als solches hat sie nach 60 Jahren eine deutlich kritische Würdigung verdient. Von einem Abgesang kann noch keine Rede sein. Ob es allerdings auch noch einen 100. Geburtstag gibt, wage ich zu bezweifeln. Wie gesagt, Deutschland könnte auch gut ohne diese Zeitung leben. Mitunter denke ich, sogar besser.

Am Schluss noch ein Geständnis: Im Urlaub lese ich keine Zeitung, ich will mich ja erholen. Um aber größte Katastrophen doch mitzubekommen, schaue ich dann täglich in die „Bild". Nach zwei Wochen brauche ich dann davon Erholung und lese wieder Zeitung.

The European, 21. Juni 2012