Bofinger forderte schon vor anderthalb Jahren, man solle in Deutschland mal wieder „über Industriepolitik nachdenken“ und wurde damals zugleich aus der breiten Mainstream-Ökonomenzunft zurückgewiesen. Auch der Sachverständigenrat schreibt in seinem aktuellen Jahresgutachten, die Bundesregierung sollte lieber auf staatliche Lenkung der Wirtschaft verzichten. Im Text heißt es weiter, es sei „unwahrscheinlich, dass die Politik über Wissen und Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen verfügt.“ Vielmehr sei es notwendig „eher auf das dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen verschiedener Akteure zu vertrauen“. Bofinger widerspricht dem in seinem Sondervotum vehement und präsentiert einige Gründe für einen aktiven Staat in der Industriepolitik. Neben externen Effekten, Interdependenzen in den Wertschöpfungsketten und den daraus resultierenden Innovations- Ökosystemen, der Gefahr von Überkapazitäten, spielen vor allem Unsicherheiten eine Rolle. Unsicherheiten ob und wann sich Profite mit Batteriezellen oder dem Breitbandausbau in der Fläche realisieren lassen führen dazu, dass Unternehmen in diesen Bereichen erst gar nicht investieren.
Bofinger sagte dazu: „Wenn die Unsicherheiten zu groß sind, ist der Staat gegenüber den Unternehmen der überlegene Akteur.“ Außerdem führten Pfadabhängigkeiten – wie die Diesel-Dominanz in der Automobilindustrie – zu Versäumnissen, die schwer aufzuholen sind.
China und andere Staaten betrieben schon lange „strategische Handelspolitik“, deswegen dürfe Deutschland in dem Bereich nicht passiv bleiben. Auch, wenn die anderen Sachverständigen gegenteiliges Behaupten und viele Mainstream-Ökonomen der Meinung sind, der Staat könne gar nicht wissen, was die Zukunftstechnologien sind, so braucht es nur einen Blick auf die Zielindustrien der chinesischen Industriestrategie „Made in China 2025“ um zu erkennen, dass es so schwierig gar nicht ist, zu erkennen, dass da wohl ziemlich viele tatsächliche Zukunftsindustrien dabei sein werden. Viele Beispiele, wie Airbus, ICE, die Entwicklungspolitik von Japan, Korea, China und Brasilien, das Smartphone, CERN und das Internet zeigen, dass staatliche Industriepolitik erfolgversprechend ist.
Es gehe, so Bofinger, jetzt darum Branchen genau zu analysieren und daraus eine Strategie zu entwickeln. Die Solarenergie zeige gut, „wenn sich die Chinesen vornehmen einen Markt zu übernehmen, dann bekommen sie das auch hin.“ Und als nächstes zielen sie auf die Automobilindustrie.
Deswegen möchte Altmaier jetzt aktiv werden. Der ehemalige Sachverständige fragt in die Runde: „Aber warum denn erst jetzt?“ Die Bundesregierung hat jahrelang den Trend zu neuen Antrieben und moderner Mobilität verschlafen.
„Ein ganz zentraler Punkt ist das öffentliche Beschaffungswesen“, so Bofinger über die Instrumente, mit der eine progressive Industriepolitik umgesetzt werden könnte. Sie kann ein starker Hebel sein, wenn bestimmte Umwelt- und Sozialstandards zur Zulassungsbedingung werden. Als Alternative zum Seidenstraßenprojekt der Chinesen könnte die EU, so ein Vorschlag von Bofinger, doch auch ein eigenes „Belt and Road“-Projekt starten und so industriepolitische und entwicklungspolitische Ziele gleichermaßen verfolgen. In jedem Fall, stellte er fest, braucht „Deutschland eine mit der EU konsistente Industriepolitik“.
Dr. Astrid Ziegler von der IG Metall betonte die Notwendigkeit Industriepolitik mit den Beschäftigten gemeinsam zu entwickeln und kritisierte Altmaier dafür, dass sein Papier den Ordnungspolitischen Rahmen der sozialen Marktwirtschaft zu stark betont, die seine industriepolitischen Vorschläge andauernd wieder „konterkariert“. Alexander Ulrich kommentierte, dass sich Altmaiers Papier so lese: „als ob sich der CDU-Wirtschaftsminister auf jeder Seite dafür entschuldigt, was er auf der letzten Seite geschrieben hat.“