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Sahra Wagenknecht im Interview © APA/Georg HochmuthFoto: APA/Georg Hochmuth

Was Deutschland jetzt braucht, um den Wohlstand der Mittelschicht zu retten

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht, Focus,

Von Sahra Wagenknecht


Schon in der letzten großen Finanzkrise hat der Motor der Globalisierung zu stottern begonnen. Mit Zollerhöhungen und verbalen Kampfansagen an Handelspartner streut US-Präsident Trump seit Beginn seiner Amtszeit zusätzlich Sand ins Getriebe.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie schließlich hat nicht nur globale Lieferketten zusammenbrechen lassen, sondern auch ein grelles Licht auf die Abhängigkeit und Verletzbarkeit geworfen, in die sich eine Volkswirtschaft begibt, wenn Schlüsselelemente der Fertigung oder auch lebenswichtige Güter wie Arzneimittel oder Schutzmasken nur noch am anderen Ende der Welt produziert werden.

In Deutschland werden De-Globalisierungs-Forderungen dennoch gern mit dem Argument verworfen, dass gerade eine exportabhängige Wirtschaft wie die unsrige vom internationalen Handel enorm profitiere und daher jede Abkehr von der globalisierten Wirtschaft zu massiven Wohlstandsverlusten führen würde. Die große Erzählung lautet: Freihandel, freier Kapitalverkehr und die Internationalisierung der Produktion bringen reichen wie ärmeren Ländern Vorteile. Handelsbeschränkungen oder Kapitalverkehrskontrollen beeinträchtigen dagegen die Effizienz der Märkte. Bis zur Corona-Krise galt das nahezu unwidersprochen. Wer Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft forderte – etwa als die Regierung Merkel zusah, wie die deutsche Solarindustrie von chinesischen Dumpingexporten zerstört oder solide Firmen von angelsächsischen Finanzinvestoren filetiert und zerschlagen wurden – setzte sich dem Verdacht aus, wirtschaftliche Zusammenhänge nicht verstanden zu haben oder, schlimmer, ein Nationalist zu sein. 

Globalisierung muss hinterfragt werden

Zu den Folgen der aktuellen Krise gehört, dass die Diskussion jetzt differenzierter geführt wird. Sogar die Bundesregierung hat sich der Erkenntnis genähert, dass es durchaus nützlich sein kann, wichtige Güter in Deutschland oder zumindest in Europa herzustellen und dass ausländische Übernahmen, bei denen es nur um den Zugang zu Knowhow oder um die finanzielle Plünderung des betroffenen Unternehmens geht, verhindert werden sollten. Die Gefahr besteht allerdings, dass diese Einsichten sich mit dem Abflauen der Krise ebenso verflüchtigen wie die Forderung führender Politiker in der letzten Finanzkrise, den Finanzsektor so zu regulieren, dass niemals wieder Steuergeld zur Rettung maroder Banken fließen muss.

Deshalb ist es Zeit für eine Grundsatzdebatte. Ist die Globalisierung, wie sie sich seit den 1980er Jahren mehr und mehr durchgesetzt hat, Fluch oder Segen? Wer profitiert, wer verliert? Sollen wir versuchen, sie über die Krise zu retten, oder ist es im ureigenen Interesse Deutschlands, andere Wege zu gehen?

Verlierer des globalen Wachstums

Internationale Statistiken über die Einkommensentwicklung zeigen, dass die Mittelschicht der westlichen Welt, besonders die untere Mittelschicht, vom globalen Wachstum seit Beginn der 80er Jahre kaum etwas abbekommen, vielfach sogar Einkommen verloren hat. Profitiert hat dagegen die Mittelschicht aufstrebender Schwellenländer, vor allem Südostasiens. Hohe Zugewinne für große Teile der Bevölkerung gibt es in China.

Der größte Gewinner der Globalisierung aber sind die reichsten 1 Prozent der globalen Einkommenspyramide, darunter der internationale Club der Milliardäre, deren Vermögen geradezu explodiert ist, aber auch eine neue gehobene Akademikerklasse, die in den trendigen Innenstadtvierteln der westlichen Metropolen lebt und in hochbezahlten Dienstleistungsberufen von Beratung, Finanzen und IT bis zu Webdesign und Werbung arbeitet.

Viele dieser Berufe sind erst in jüngerer Zeit entstanden und stark international ausgerichtet. Diesen Globalisierungsgewinnern stehen diejenigen gegenüber, deren Leben härter und unsicherer geworden ist. Auch darunter gibt es viele Akademiker, vor allem aber betrifft das Menschen, die keinen Hochschulabschluss haben und deren Aussichten auf einen soliden Job und beruflichen Aufstieg heute sehr viel geringer sind als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Sie sind in Europa und den USA in der Mehrzahl. Das gilt auch für Deutschland.

Globalisierung durch Lohnkosten und Steuergesetze motiviert

Ohne Zweifel: Globaler Handel erhöht die Vielfalt des Angebots und ermöglicht Spezialisierungen, die sich ohne Aussicht auf einen großen Markt nicht rechnen würden. Gerade in Deutschland gibt es viele Hidden Champions, mittelständische Weltmarktführer, die ein spezielles Bauteil oder Investitionsgut anbieten, in dem enorme Entwicklungskosten stecken und das es gar nicht geben könnte, wenn nicht für den Weltmarkt produziert würde. Die Hidden Champions sind eine wichtige Säule unserer Volkswirtschaft, sie sind innovativer als viele börsennotierte Konzerne und bieten gut bezahlte Arbeitsplätze. Bei der Forderung nach De-Globalisierung geht es also nicht um Phantasien einer nationalen Autarkie, die das Geschäftsmodell solcher Unternehmen zerstören würde.

Es geht um andere Regeln für den globalen Warenaustausch. Es geht um den Nutzen oder Schaden globaler Wertschöpfungsketten, die den halben Globus umspannen und wesentlich durch Unterschiede zwischen Lohnkosten, nationalen Standards und Steuergesetzen motiviert sind. Nicht primär die Ausweitung des Welthandels ist die Spezifik der Globalisierung der letzten 30 bis 40 Jahre, sondern der Umstand, dass 80 Prozent dieses Welthandels heute innerhalb der Fertigungskette großer multinationaler Konzerne stattfinden. Und es geht um die Frage, ob die Liberalisierung der globalen Finanzströme sich bewährt hat.

Nicht Freihandel, sondern Protektionismus hat USA und Deutschland reich gemacht

Viel spricht für Freihandel, wenn Länder sich auf einem ähnlichen Entwicklungsniveau befinden. Anders verhält es sich, wenn ein Land einem anderen technologisch unterlegen ist – oder eben, wenn ein Land die Standards eines anderen unterläuft und genau deshalb billiger produzieren kann. In beiden Fällen führt Freihandel bei dem benachteiligten Partner zu Deindustrialisierung und weniger Wohlstand. Als Deutschland im späten 19. Jahrhundert seine industrielle Rückständigkeit überwinden wollte, tat es das, ebenso wie übrigens die USA, hinter dem Schutz hoher Zollmauern. Nicht Freihandel, sondern Protektionismus hat beide Länder reich gemacht.

Interessanterweise haben auch von der jüngsten Globalisierung ausschließlich Länder profitiert, die nicht nach den westlichenSpielregeln – Freihandel, freier Kapitalverkehr, Rückzug des Staates aus der Wirtschaft – sondern nach eigenen Regeln gespielt haben. China, aber zuvor auch Japan oder Südkorea, haben nationale Industriebranchen äußerst selektiv und immer erst dann dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, als sie ihn auf Augenhöhe bestehen konnten. Die meisten afrikanischen Staaten dagegen sind im globalen Vergleich zurückgefallen, weil sie zu einer Öffnung ihrer Märkte genötigt wurden, obwohl ihre Industrie und Landwirtschaft in keiner Weise wettbewerbsfähig war.

Weniger entwickelte Länder brauchen Zugang zu Know-How

Auch die Öffnung für internationales Finanzkapital bringt armen Ländern selten Nutzen. Ein Standardargument für die Liberalisierung des Kapitalverkehrs lautet, dass dadurch Spargelder immer dort ankommen würden, wo es die effizienteste Verwendung für sie gibt. Spätestens seit der letzten Finanzkrise, in deren Vorfeld deutsche Spargelder unter anderem in spanische Betonwüsten und amerikanische Subprime-Kredite geflossen sind, kann man dieses Argument eigentlich nicht mehr ernst nehmen. Doch schon vorher gab es unzählige Beispiele dafür, dass kurzfristig orientiertes Finanzkapital mit seinen jähen Wendungen zu einem Zyklus von Boom und Crash führt, vor dem sich jedes Land, das Wert auf eine gute Zukunft legt, schützen sollte.

Was weniger entwickelte Länder brauchen, wenn sie aufholen wollen, ist nicht ausländisches Geld, sondern Zugang zu moderner Technologie und Knowhow. China konnte von ausländischen Direktinvestitionen und Produktionsverlagerungen vor allem deshalb profitieren, weil es keinen freien Kapitalverkehr, sondern restriktive Kapitalverkehrskontrollen und staatliche Auflagen gab, die ein klares Ziel verfolgten: ausländisches Knowhow ins Land zu holen. So verlangte Peking von ausländischen Investoren lange Zeit, sich auf Minderheitsbeteiligungen in Joint Ventures zu beschränken. Autofirmen, die in China produzieren wollten, mussten innerhalb weniger Jahre einen Anteil von bis zu 70 Prozent chinesischer Bauteile verwenden. So entstand nicht nur eine solide chinesische Zulieferindustrie, sondern BMW und Co. mussten sich selbst darum kümmern, diese auf einen Standard zu bringen, der ihren Qualitätsanforderungen genügte.

China hat einen eigenständigen Weg gefunden statt sich zu unterwerfen

Mittlerweile stammt über ein Drittel aller weltweit produzierten Industrieprodukte aus chinesischen Fabriken. Im Gegenzug verschwanden die betreffenden Industrien in den westlichen Ländern und mit ihnen Millionen auskömmliche Arbeitsplätze, deren Inhaber in die Arbeitslosigkeit oder in lausig bezahlte Jobs im Servicesektor abgedrängt wurden. Längst ist China nicht mehr nur Billiganbieter, sondern hat in Hightech-Branchen Weltniveau erreicht. Die einzigen relevanten Konkurrenten amerikanischer Digitalkonzerne kommen aus China, kein einziger aus Europa. Chinesische Stadtbewohner haben kaufkraftbereinigt mittlerweile ein höheres Einkommen als die Einwohner Rumäniens, Lettlands oder Litauens.

Es geht nicht darum, das chinesische Modell zu glorifizieren. China ist im Vergleich zur Bundesrepublik immer noch ein relativ armes Land mit großer Ungleichheit, und es pflegt einen Umgang mit Demokratie und Freiheitsrechten, den wir uns für Europa sicher nicht wünschen. Aber es hat, statt sich unseren Regeln der Globalisierung zu unterwerfen, einen eigenständigen Weg gefunden, dank dessen das Wachstum schneller verlief und mehr Menschen zugutekam als in jedem anderen Land.

Wer sich schutzlos Importen aussetzt, ist nicht weltoffen, sondern dumm

Und genau das ist es, was Deutschland und Europa von China lernen können. Wir haben es als selbstverständlich hingenommen, die Binnenwirtschaft an den angeblichen Erfordernissen der Globalisierung auszurichten, statt uns zu fragen, was in diesem Verhältnis eigentlich Mittel und was Zweck sein sollte. Wir müssen die Regeln so verändern, dass jedes Land wieder Spielräume zur Gestaltung seiner Wirtschaftspolitik bekommt, denn wenn Politik nichts mehr gestalten kann, weil sie in ein Korsett von Alternativlosigkeiten eingeschnürt ist, gibt es keine Demokratie mehr. Wir sollten es nicht länger als Privatangelegenheit großer Konzerne betrachten, was sie wo auf der Welt produzieren. Unternehmen müssen auch kein Handelsobjekt auf dem Basar des internationalen Finanzkapitals sein. Und wer sich schutzlos Importen aussetzt, die die eigenen Standards unterlaufen, ist nicht weltoffen, sondern dumm.

Mindestlöhne sind dazu da, Arbeitnehmer vor Lohndumping zu schützen. Ein Unternehmen, das den Mindestlohn in Deutschland unterschreitet, macht sich strafbar. Ein Unternehmen, das seine Produktion ins Ausland verlagert, um seinen Arbeitern weit weniger als den deutschen Mindestlohn zu zahlen, handelt dagegen legal. Auch Arbeits- und Umweltschutzgesetze lassen sich auf diese Weise umgehen. Was sind sie dann überhaupt wert? Einem Mittelständler, der seine Steuern nicht zahlt, macht das Finanzamt die Hölle heiß. Ein Dax-Konzern, der seine Gewinne in Steueroasen schiebt, darf das.

Abhängigkeiten überwinden, Wertschöpfung nach Europa zurückholen

Das Ergebnis dieses Regelwerks ist: wachsende Ungleichheit, zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht und eine Aushöhlung der Demokratie. Arbeitnehmer und heimische Anbieter vor Billigimporten und feindlichen Übernahmen zu schützen, ist nicht nationalistisch, sondern demokratische Pflicht. Ein einfaches Mittel dafür wäre, die Kostendifferenz, die sich aus den unterschiedlichen nationalen Standards ergibt, durch Zölle auszugleichen.

Wir müssen industrielle Wertschöpfung zurück nach Europa holen und in Schlüsselbranchen wie der Digitalwirtschaft unsere Abhängigkeit überwinden. Natürlich entstehen auch dadurch nicht alle alten Industriejobs wieder, sondern wegen der Automatisierung und Robotisierung deutlich weniger. Aber je höher die Wertschöpfung im Land, desto größer die Chance, dass auch Verkäuferinnen und Postzusteller von ihrem Einkommen gut leben können. Viele Jahre war das so, und die Politik könnte die Rahmenbedingungen dafür wiederherstellen.

In einer Demokratie sind Regierungen in erster Linie für das Wohl ihrer Wähler zuständig. Wenn die europäischen Regierungen das ernst nehmen, müssen sie neue Wege gehen.

Focus,