Am Ende konnte Minister Hubertus Heil (SPD) sein Arbeitsschutzkontrollgesetz nur mit Ach und Krach über die Ziellinie retten. Wieder einmal hatte die Fleischlobby der Politik gezeigt, wo der Hammer hängt. Ursprünglich sollten Werkverträge und Leiharbeit in den Kernbereichen der Fleischwirtschaft ab 2021 komplett verboten werden. Doch das Arbeitsschutzkontrollgesetz wurde auf Veranlassung der CDU/CSU kurz vor der geplanten Verabschiedung im Bundestag abgesetzt. Zufrieden ließ der Verband der Fleischwirtschaft (VdF) am 27. Oktober wissen: »Die zahlreichen Gespräche, Stellungnahmen und Argumente des Verbandes gegenüber Bundes- und Landtagsabgeordneten haben somit Wirkung gezeigt. Der Wirtschaftsrat der CDU hat sich gestern ebenfalls in unsere Richtung ausgesprochen.« Entsprechend zuversichtlich zeigte sich die Fleischlobby, dass das Gesetz noch in ihrem Interesse abgeschwächt werde. Zu Recht, denn Leiharbeit bleibt in der Fleischverarbeitung vorerst weiter erlaubt, wenn auch in begrenztem Maße und nur, wenn sie tarifvertraglich geregelt ist.
Ein weiterer Beweis dafür, dass die Fleischwirtschaft den deutschen Leitindustrien in nichts mehr nachsteht, was erfolgreiche Lobbyarbeit angeht. Zwar gibt es für die skandalgebeutelte Branche keine »Fleischgipfel« im Kanzleramt, da die Einflussnahme subtiler und eher auf kommunaler und Landesebene abläuft. Der Einfluss der Branche auf politische Mandatsträger und Gesetzesvorhaben war und ist jedoch beispielhaft. Infolgedessen konnte sich innerhalb weniger Jahrzehnte in der deutschen Fleischwirtschaft ein System organisierter Verantwortungslosigkeit etablieren, das auf dem Rücken von zumeist ost- und südosteuropäischen Kolleginnen und Kollegen Jahr für Jahr milliardenschwere Profite erwirtschaftet und kaum Konsequenzen fürchten musste.
Vom Kleinbetrieb zum Global Player
Seit den 1960er Jahren entstanden aus dem handwerklichen Bereich heraus immer mehr spezialisierte Betriebe für einzelne Schritte der Fleischverarbeitung wie Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung.¹ Nichtsdestotrotz blieb die deutsche Fleischwirtschaft über Jahrzehnte eine eher von kleinbetrieblichen Strukturen geprägte Branche mit einem hohen Anteil an Facharbeitern.
Erst vor zwei Jahrzehnten kam es, wie Serife Erol und Thorsten Schulten in einer aktuellen Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung feststellen, zu einer »zunehmenden Konzentration bei Herstellung und Absatz von Fleischprodukten«, die zu einer Verdrängung kleinerer Fleischerhandwerksbetriebe vom Markt geführt habe.² Nutznießer sind die großen Supermarktketten und Discounter, die den Verkauf vorverpackter Fleisch- und Wurstwaren deutlich ausdehnen konnten. Zwischen 1990 und 2016 hat sich der Anteil industriell hergestellter Fleischerzeugnisse mehr als verdoppelt. Die Marktmacht der Discounter wirkte somit als ein Treiber der fortschreitenden Industrialisierung in der Branche. Sie beschleunigten die Entwicklung zu den »heutigen Großbetrieben in der Fleischwirtschaft, die Schlachtung, Zerlegung, Verpackung und Logistik unter einem Dach« bündeln und immer größere Marktanteile erobern, so die WSI-Forscher.
Trotz dieser Konzentrationsprozesse sei die deutsche Fleischwirtschaft noch heute geprägt »durch eine Polarisierung von wenigen großen Fleischkonzernen und einer Mehrzahl von Klein- und Kleinstbetrieben«. Die großen Fleischkonzerne beschäftigen jedoch inzwischen ein knappes Drittel aller Arbeiter in der Fleischwirtschaft und erwirtschaften knapp die Hälfte des gesamten Branchenumsatzes.³
Spitzenreiter unter den fünfzehn großen Unternehmen auf dem deutschen Fleischmarkt ist der Tönnies-Konzern mit einem Umsatz von knapp sieben Milliarden Euro im Jahr 2018. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was die beiden Zweit- und Drittplatzierten – die Vion-Gruppe und Westfleisch – zusammen im gleichen Zeitraum erwirtschafteten. Ein Drittel aller in Deutschland geschlachteten Schweine geht auf das Konto von Tönnies. Das Stammwerk des Konzerns in Rheda-Wiedenbrück ist die größte Schlacht- und Verarbeitungsfabrik Europas – 6.000 der insgesamt 16.000 Konzernbeschäftigten arbeiten dort.
Diese immensen Expansions- und Konzentrationsprozesse in der deutschen Fleischindustrie basieren maßgeblich auf dem Geschäftsmodell der Billigproduktion. Denn durch die Zergliederung vormals handwerklicher Tätigkeiten in einzelne Arbeitsschritte und Fließfertigung war Facharbeit durch ungelernte Arbeit ersetzbar – und damit deutlich kostengünstiger. Grundlage dieser Entwicklung waren die Deregulierungsprozesse am Arbeitsmarkt. Dadurch sind seit Anfang der 2000er Jahre große Beschäftigungsbereiche ohne Gewerkschaften und Betriebsräte entstanden. Die Absenkung der Arbeitskosten im Rahmen der rot-grünen Politik der »Agenda 2010« verschafften der Fleischwirtschaft Wettbewerbsvorteile gegenüber europäischen Konkurrenten, in deren Ländern es starke Gewerkschaften und allgemeinverbindliche Tarifverträge gibt. Dies veranlasste Belgien bereits 2013, bei der Europäischen Union Beschwerde gegen Deutschland wegen unlauterer Wettbewerbspraktiken einzureichen. Die Lohnkosten in der nunmehr weitgehend tariffreien deutschen Fleischwirtschaft lagen 2018 mit knapp 32.000 Euro pro Beschäftigten im Jahr weit unterhalb der Kosten in anderen europäischen Ländern. In Dänemark etwa sind sie mit 69.000 Euro pro Beschäftigten im Jahr mehr als doppelt so hoch. Auch in Frankreich, Belgien und den Niederlanden liegen die Arbeitskosten deutlich höher.⁴
Diese Lohndumpingpolitik macht auch anderen Ländern Druck. Denn während die Bundesrepublik bis 2005 noch insgesamt mehr Fleischwaren importierte als exportierte, hat sich das Verhältnis seither umgekehrt. Die Branche erzielt erhebliche Exportüberschüsse, die Ausfuhren gehen vor allem ins europäische Ausland, mehr und mehr aber auch nach China. Im vergangenen Jahr wurden mehr als vier Millionen Tonnen Fleisch ins Ausland verkauft. Da sich zusehends ausländische Fleischkonzerne am deutschen Niedriglohnstandort niederlassen, ist die Bundesrepublik im gleichen Zeitraum zum Nettoimporteur für lebende Tiere und zum Schlachthof Europas aufgestiegen.
Parallel zu diesen Konzentrationsprozessen sank zwischen 1999 und 2014 die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Branche um 23 Prozent, obwohl der Umsatz im gleichen Zeitraum um 77 Prozent gesteigert werden konnte. Diese Steigerung geht nicht allein auf Produktivitätszuwächse zurück, sondern ist Folge der systematischen Ersetzung von Stammbelegschaften durch billigere Werkvertragsbeschäftigte aus Mittel- und Osteuropa.⁵
Schmutzkonkurrenz
Die systematische Ausbeutung osteuropäischer Arbeiter in den deutschen Schlachthöfen nahm 2004 ihren Anfang. Zwar gab es bereits seit den späten 1980er Jahren mit einzelnen Ländern bilaterale Vereinbarungen, sogenannte Kontingentverträge, über die Entsendung von Arbeitern. Aber erst mit der EU-Osterweitung entwickelten sich Werkverträge zur dominanten Beschäftigungsform in der deutschen Fleischwirtschaft. Die Praxis der Entsendung ermöglichte, in hohem Maße Lohnkosten einzusparen, da die Menschen zu den Konditionen des Heimatlandes beschäftigt werden konnten. Bis zur Einführung eines Mindestlohns 2014 bedeutete das in der Praxis Stundenlöhne zwischen drei und fünf Euro. Der entscheidende Vorteil von Werkvertragsbeschäftigung war und ist, dass die Arbeiter nicht direkt angestellt werden mussten, sondern bei Subunternehmen beschäftigt wurden. So entledigten sich Tönnies und Co. ihrer arbeitsrechtlichen Verantwortung für die Beschäftigten und waren für Lohnzahlung sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht mehr haftbar zu machen. Kern dieses ausbeuterischen Systems waren extrem lange Arbeitszeiten, fehlende Pausen, unbezahlte Mehrarbeit, unberechtigte Abzüge vom Lohn sowie unhygienische Sammelunterkünfte zu völlig überhöhten Mieten. Das gewerkschaftliche Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« konstatiert: »Die Fleischindustrie behandelt Arbeitnehmer aus dem Ausland wie Verbrauchsmaterial, das man bei externen Dienstleistern einkauft und nach Verschleiß austauscht. Inzwischen werden die Arbeitskräfte aus immer ärmeren Regionen Osteuropas rekrutiert: Erst waren es die Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien, jetzt kommen sie aus Moldawien oder der Ukraine. Diejenigen, die es schaffen, eine andere Arbeit zu finden, verlassen die Gegend schnellstmöglich. Andere werden ›aussortiert‹, weil sie krank werden oder die Leistung nicht mehr erbringen können. Spricht man mit Beschäftigten, die es trotz der miserablen Bedingungen geschafft haben, mehrere Jahre durchzuhalten, berichten sie von multiplen chronischen Leiden, die auf die harte körperliche Arbeit, auf die Feuchtigkeit und Kälte und auf das viel zu hohe Arbeitstempo zurückzuführen sind.«⁶