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Auf steinigem Weg zur Gegenöffentlichkeit

Im Wortlaut,

Beitrag in der Reihe »Was ist systemrelevant?«

Von Tom Strohschneider, Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland

"The poor stay poor, the rich get rich", singt Leonard Cohen. "That's how it goes. Everybody knows." Aber wenn es so ist, dass es jeder weiß: Warum erhebt sich dann so wenig Widerspruch, gibt es so wenig Protest dagegen, haben praktische Alternativen zu einer Politik, welche die Reichen immer noch reicher macht, so wenig Chancen in diesem Land?

Wir haben es mit einem alten Dilemma der Linken zu tun, es betrifft nicht nur die gleichnamige Partei, aber eben auch: DIE LINKE. Eine Mehrheit spricht sich gegen die Rente mit 67 aus, votiert in Umfragen gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr und für strengere Bankenregulierung. Doch politisch behalten jene Parteien die klare Mehrheit, die nicht selten das Gegenteil davon tun.

Vor ein paar Tagen ergab eine Umfrage im Auftrag der linker Umtriebe unverdächtigen Bertelsmann-Stiftung, dass sich 88 Prozent der Deutschen eine andere Wirtschaftsordnung wünschen – weil der Kapitalismus weder für einen "sozialen Ausgleich in der Gesellschaft" noch für den "Schutz der Umwelt" oder einen "sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen" sorge. Wer zur selben Zeit einen Blick auf die Wahlumfragen warf, dürfte irritiert gewesen sein.

Eine Bastion der Nicht-Veränderung

Ein Ansatz, das zu erklären, liegt auf der Hand: Politische Auseinandersetzung findet statt in einer von kapitalistischen Bedingungen der Produktion von Neuigkeiten und Meinung sowie lobbyistischen Interessen strukturierten Öffentlichkeit, die zwischen dem Alltagsdenken vieler Menschen einerseits und ihrem wahlpolitischen Verhalten andererseits nicht mehr vermittelt. Ein Zustand von Öffentlichkeit, der solche Risse zwischen gesellschaftlichen Anschauungen und parteipolitischen Präferenzen hervorbringt, ist "systemrelevant" für den Status quo – er ist eine Bastion der Nicht-Veränderung.

Damit zusammen hängt ein weiterer Grund, den die Linkspartei oft kritisiert: Ihre Positionen und Forderungen würden in den Medien nicht angemessen dargestellt. Dafür gibt es durchaus Belege, unlängst erst hat eine Untersuchung ergeben, dass Politiker der LINKEN in den Nachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und Sat.1 so gut wie gar nicht vorkommen. Andererseits lockt die Kritik Widerspruch hervor: Wird etwa nicht einigen prominenten Vertretern der Partei die häufige Gelegenheit zum Auftritt in Talkshows gegeben? Sind es nicht gerade auch überregionale Medien wie etwa die Frankfurter Allgemeine, die zumindest in ihrem Feuilleton eine Art kapitalismusskeptischen Frühling gewähren ließen? Und warum wollte, die Kritik am konzern-medialen Manipulationszusammenhang einmal ernst genommen, dann ausgerechnet DIE LINKE dort, in der "bürgerlichen Presse" besser wegkommen?

Abgesehen davon, dass viel mehr noch als die Linkspartei die Zivilgesellschaft von geringer Aufmerksamkeit in den reichweitenstarken Medien betroffen ist; abgesehen davon, dass mehr mediale Beachtung von alternativen Forderungen und radikalen Sichtweisen längst nicht automatisch auch mit einer Veränderung hegemonialen Denkens einhergeht – der kritische Blick auf die Medien und die veröffentlichte Meinung gehörte immer schon zum Kanon politischer Gegenbewegungen. Jede Partei, jede Protestkultur die grundsätzliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen formulieren will und darauf angewiesen ist, dass diese in einer Öffentlichkeit diskutiert werden, muss sich für die Mechanismen interessieren, die ihr dabei im Wege stehen. Und sie wird danach fragen, wer da "auf der anderen Seite" steht.

Linke Forderungen sind Störgeräusche

Doch Berichte und Kommentare werden in aller Regel nicht in Aufsichtsratssitzungen beschlossen, sondern von Journalisten geschrieben. Die haben eigene politische Vorstellungen, müssen sich zugleich als Angestellte in so genannten "Tendenzbetrieben" mit eingeschränkten Arbeitnehmerrechten herumschlagen, fühlen sich mal als Lohnschreiber, mal als Parteienberater und nicht selten als Leitesel im Politikbetrieb. Ihre Haltung wird von den sozialen Voraussetzungen mitbestimmt, von ihrer Herkunft, ihrem Einkommen. In dem, was sie tun, drückt sich "notwendig falsches Bewusstsein" aus. Und das ist vielen der studierten Kollegen durchaus bekannt, was nicht heißt, dass es sich abstreifen ließe wie ein T-Shirt, das einem nicht mehr gefällt.

Wer sich mit dem Selbstbild und der Handlungsrealität von Journalisten auseinandersetzt, stößt auf interessante Hinweise. 1993 und 2005 lief eine Studie, deren Ergebnisse später unter dem Titel "Die Souffleure der Mediengesellschaft" veröffentlicht wurden. "Im Durchschnitt verorten sich die Journalisten selbst eher links von der Mitte", heißt es darin. Die Kollegen würden "etwas weniger links vermutet", die Medien, in denen sie arbeiten "aber mehr oder weniger rechts von der Mitte" eingeordnet.

Dass sich das in der Berichterstattung, in den Diskurs bestimmenden Kommentaren nicht widerspiegelt, wird sich durch keine Schelte an Journalisten ändern. Dass diese, wie gerade eine andere Studie gezeigt hat, bei einer Mehrheit glaubwürdiger gelten als Politiker, muss auch den Kritikern der veröffentlichten Meinung zu denken geben – zumal das Misstrauen gegenüber den Parteien der Opposition sogar noch größer ist. Richtig ist freilich auch: Dieser Befund selbst ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Grundrauschens, in dem linke Forderungen Störgeräusche sind – ja: sein müssen. Die Veränderung der Welt wird selbstverständlich nicht von jenen vorangetrieben, die daran kein Interesse haben.

Gegenöffentlichkeit wächst langsam wie ein Mycel

Für die gesellschaftliche Linke bleibt kein anderer Weg als der mühseligste von allen. Es ist jener der täglichen Aufklärung über die verzerrende Sprache des Neoliberalismus, jener der selbstkritischen Bewusstmachung über die Möglichkeiten und Grenzen einer Öffentlichkeit, die in einem anderen Sinne "systemrelevant" wäre: erforderlich für neue, solidarische Verhältnisse; für die Durchsetzung von Produktionsweisen, welche Natur und Ressourcen auch dann im Blick haben, wenn damit kein grüner Profit mehr erzielt werden kann; für eine neue Kultur, in der nicht Konzerne bestimmen, was zum Massengeschmack wird.

Diese andere Öffentlichkeit müsste demokratischer und durchlässiger für alle sein, sie müsste mit dem Mut zur Parteilichkeit einhergehen, der nicht als falsche Treue zu einer Organisation verstanden wird. Was hindert die gesellschaftlich Linke daran, eine solche Öffentlichkeit mitzubauen? Nichts, sie versucht dies seit Jahrzehnten. Die Bedingungen sind im Vergleich zu jenen Zeiten, als jede Anklage gegen den Mainstream noch auf Papier kopiert und per Hand verteilt werden musste, sogar besser geworden. Allein über 650 Print-Zeitschriften führt das aktuelle Handbuch der Alternativmedien auf. Im Internet wird die Zahl um ein Vielfaches höher sein.

Doch Gegenöffentlichkeit wächst langsam wie ein Mycel – und sie kann niemals die Oberhand gewinnen, denn in diesem Moment wäre sie das nicht mehr: Gegen-Öffentlichkeit. Wer den steinigen Weg der Aufklärung beschreiten will, wird dies also auch innerhalb der bestehenden Öffentlichkeitsstrukturen versuchen müssen – in dem Wissen, dass diese so "systemrelevant" für den Status quo sind, wie es eine andere, demokratische Öffentlichkeit für den Bruch mit den falschen Verhältnissen sein wird.

"Everybody knows that the boat is leaking. Everybody knows that the captain lied", singt Leonard Cohen. Es liegt in der Verantwortung der gesellschaftlichen Linken, dass das nicht nur insgeheim jeder weiß. Sondern dass sich etwas daran ändert.

linksfraktion.de, 20. September 2012

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