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Zur Hartz IV-Anhörung der Linksfraktion

Nachricht von Gregor Gysi, Katja Kipping,

im Vorfeld der Bürgerschaftswahl in Bremen

Die Bremer Tagung vom Freitag ist nicht hinter den in der Ankündigung geweckten Erwartungen zurück geblieben. Es konnte die Öffentlichkeit der Wahrheit zu den drängensten sozialpolitischen Fragen unserer Tage hergestellt werden. Dabei ist nicht allein über uns Prekarier gesprochen worden, sondern - selten genug - mit uns.

Auf dem Fußweg vom Hauptbahnhof zum Tagungsort traute ich meinen Augen nicht: an jeder Ecke Wahlplakate der SPD mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro! So richtig diese Forderung auch sein mag, sie wird intellektuell unredlich, wenn sie erhoben wird von der Partei der sozialen Ungerechtigkeit eines Gerhard Schröders, der sich für die Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors rühmt, und eines Franz Münteferings, der sich bemüht sittenwidrigen Löhnen Gesetzeskraft zu verleihen.

DIE LINKE, die für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,00 Euro kämpf ohne sich Unglaubwürdigkeit vorwerfen lassen zu müssen, tagte im gut gewählten und voll besetzten Sitzungssaal des Konsul-Hackfeld-Hauses. Die Veranstaltung war in ihrem Verlauf gut organisiert und die Mehrzahl sowohl der ReferentInnen, als auch der BesucherInnen im Plenum hat es sich nicht nehmen lassen, an diesem herrlichen Maitag von der ersten bis zur letzten Minute den lohnenden Beiträgen zu folgen.

In seiner Eröffnungsrede hat der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dr. Gregor Gysi, darauf hingewiesen, dass es Aufgabe sei, Armut weltweit zu bekämpfen. Selbstverständlich müßte hierbei gegen die wachsende Armut im eigenen Land mit besonderer Schärfe vorgegangen werden. Einkommensunterschiede (nach Qualifikationsniveau, Verantwortung und Arbeitszeit) seien durchaus legitim. Die Einkommensunterschiede in Deutschland seien hingegen “völlig maßlos geworden”.

Die von der SPD und den Grünen durchgesetzte Kürzung der Bezugsdauer der Versicherungsleistung aus Arbeitslosengeld I auf 12 rsp. 18 Monate und die einhergehende sozio-kulturelle Exklusion der Betroffenen qualifizierte Gysi als einen “antidemokratischen” Verstoß gegen den Art. 1 des Grundgesetzes. Menschen gingen ihrer sozialen Kontakte und ihres kulturellen Umfelds verlustig. In der Folge würden nicht wenige “selbst in sich selbst zerstört”.

Als unverhältnismässig bezeichnete Gysi die umfassende Offenlegungspflicht bei der Beantragung des Arbeitslosengeldes II. Dies sei einem “neoliberalen Zeitgeist” geschuldet und die Tatsache, dass die Öffentlichkeit der Wahrheit dieser sozialen Ungerechtigkeit in den Medien nicht ignoriert werden könnte, führte er u.a. auf die Arbeit der Linksfraktion im Deutschen Bundestag zurück, in den sie bei der letzten Bundestagswahl mit 8,7 % Stimmenanteil eingezogen war.

Die Auswirkungen des neoliberalen Zeitgeistes vordemonstrierte Gysi am Beispiel der Gesundheitsreform. Zukünftig sollen Kosten für bestimmte Erkrankungen nurmehr von der Krankenkasse übernommen werden, wenn sie nicht auf persönliches Verschulden zurück geführt werden können. Wir müssten uns fragen:

Wollen wir Ärztinnen und Ärzte, die wie Kriminalbeamte erforschen, was für ein Verschulden vorliegt?

Dies sei eine Erosion des Solidaritätsgedankes, wie er seit bestehen der Bundesrepublik Konsens gewesen sei.

Die Forderung der Partei DIE LINKE nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,00 Euro/Stunde, erklärte Gysi, sei am Pfändungsfreibetrag (gegenwärtig 990 Euro/Monat) orientiert. Jeder Mensch müsste im Rahmen eines regulären Beschäftigungsverhältnisses wenigstens diesen Nettobetrag erwirtschaften können. Ein politisches Umsteuern sei notwendig. Zwar seien alle Länder neoliberal, keines sei dies jedoch so vollständig, wie Deutschland.

Abschließend forderte er mehr Beschäftigung durch:

  1. Größere Mittelaufwendung für Bildung und insbesondere die Schaffung einheitlicher sozialer Bildungschancen.
  2. Die Förderung von Wissenschaft und Forschung an Stelle der Subventionierung von Kapitalgesellschaften.
  3. Arbeitszeitverkürzungen.
  4. Einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für die Ausführung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben, die zunehmend brach liegen.
  5. Mit Blick auf das Wahlgeschehen warnte Gysi davor, die in Armut gestürzten Bevölkerungsteile dem rechten politischen Rand zu überlassen, vielmehr müsste diese soziale Schicht politisch aktiviert werden.

Die sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Katja Kipping, handelte in ihrem Referat von den Aktivitäten der Fraktion gegen Armut und Ausgrenzung. Die Bundesregierung müsste sich in der Bilanzierung von Hartz IV Ignoranz vorwerfen lassen, verfügte sie doch über keinerlei nennenswerte wissenschaftliche Expertise über die Auswirkungen der nunmehr im dritten Jahr durchgeführten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen.

So liege noch immer keine Zusammenstellung der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Hartz IV-Gesetze vor. Eine empirische Erhebung über Bildungsauswirkungen und die Entwicklung der Armut in der Folge von Hartz IV liege nicht vor und sei auch nicht geplant. Der inzwischen wissenschaftlich belegte Verdrängungseffekt der “Ein-Euro-Jobs” auf reguläre Arbeitsplätze werde ignoriert, wie überhaupt zahlreiche durch die Linksfraktion eingebrachte diesbezügliche Anträge.

Hartz IV gehörte fraglos abgeschafft, so Frau Kipping, realistischerweise müsste man jedoch erkennen, dass hierzu zur Zeit eine parlamentarische Mehrheit nicht zur Verfügung steht. Als aktuell zu verfolgende Ziele benannte sie die nachfolgenden:

  1. Die Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes I müssen wieder verlängert werden.
  2. Die “Ein-Euro-Jobs” müssen durch öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzt werden.
  3. Das ALG II ist durch eine repressions- und angstfreie Grundsicherung zu ersetzen.

In der Verwaltungspraxis der Arbeits- und Sozialverwaltung sei es erforderlich, dass Widersprüche eine aufschiebende Wirkung entfalten. Weil das “Beratungssystem” der Träger der Grundsicherung asymmetrisch ist, müssten unabhängige Erwerbsloseninitiativen finanziert werden, die ausschließlich den Interessen der Erwerbslosen verpflichtet sind.

SPD und Union verfügten über keinerlei tragfähige Konzepte für öffentlich geförderte Beschäftigung. Statt dessen würde die große Koalition ihren Einfallsreichtum darauf verwenden, wie weiter Menschen aus dem System der sozialen Sicherung heraus gedrängt werden könnten. Die Armut in Deutschland nehme zu und insbesondere die Kinder armer Bevölkerungsteile seien erheblich in ihren Bildungschancen gemindert.

Ohne den bisherigen parlamentarischen Widerstand der Linksfraktion, so das Fazit von Frau Kipping, wären die Verschärfungen des Sozialrechts noch schärfer ausgefallen, als sie ohnehin schon sind. Betroffenen gibt sie den Rat:

  • sich gegen Unrecht (etwa durch Widersprüche, Klagen und Petitionen) entschieden zu erwehren;
  • Widerstand zu organisieren; - und
  • die für einen politischen Bewußtseinswandel notwendige Öffentlichkeit her zu stellen.

Johannes Jakob vom DGB-Bundesvorstand hat einen wohl informierten Vortrag zum Thema “Hartz IV und Arbeitsmarkt. Arm trotz Arbeit?” gehalten. Der DGB habe stets auf die Auswirkungen von Hartz IV hin gewiesen. Zu kritisieren seien insbesondere die nachfolgenden Entwicklungen:

  • es werde viel gefordert und wenig gefördert;
  • die Umsetzung der Eingliederungsvereinbarungen komme in den meisten Fällen einem “Diktat” gleich;
  • es sei kein Qualifikationsschutz gegeben;
  • Löhne bis hin zur Sittenwidrigkeit würden regierungspolitisch hin genommen;
  • die Sozial- und Arbeitsmarktreformen wirkten sich negativ auf den Arbeitsmarkt aus;
  • insbesondere Langzeitarbeitslose partizipierten nicht am Rückgang der offiziellen Arbeitslosenzahlen;
  • 19% aller Vollzeitarbeitsverhältnisse seien im Niedriglohnsektor angesiedelt, wobei es sich keineswegs nur um geringqualifizierte Tätigkeiten handelte;
  • in Ostdeutschland seien Stundenlöhne von weniger als 4 Euro keine Seltenheit;
  • nach offiziellen Zahlen würden 600.000 Vollzeitbeschäftigte “aufstocken”, Hartz IV sei “ein Geschenk für die Unternehmen”;
  • die Aufstiegsmobilität aus dem Niedriglohnsektor sei in den vergangenen 5 Jahren deutlich um 20% zurück gegangen;
  • Deregulierung des Arbeitsmarktes und Prekarisierung gingen Hand in Hand;
  • 2,2 Millionen (oder 8 %) seien befristet beschäftigt;
  • 6,3 Millionen befänden sich in Minijobs;
  • seit 2000 sei die Zahl der PraktikantInnen um 16 % auf 600.000 angestiegen;
  • die “Ein-Euro-Jobber” würden als billige Arbeitskräfte mißbraucht.

Angesichts dieses Befundes forderte Jakob, es sei

Zeit politisch korrigierend ein zu greifen.

Deutschland werde im EU-Vergleich zunehmend sozial unattraktiver; deshalb müsste:

  • verstärkt Kontrolle über die Einhaltung sozialer Mindeststandards durchgeführt werden;
  • ein Mindestlohn von 7,50 Euro/Stunde einführt werden;
  • schneller und einfacher Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden;
  • die Vermögens- und Einkommenssteuer erhöht werden;
  • Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung ergriffen werden;
  • stärker auf die Umschulung und Weiterbildung von Erwerbslosen gesetzt werden;
  • eine Anschlußregelung für die Altersteilzeit gefunden werden;
  • ein ehrlicher zweiter Arbeitsmarkt mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen geschaffen werden.

Sein Referat beendete Johannes Jakob mit dem Appell:

Ich hoffe, dass ich auf Ihre Unterstützung zählen kann.

In eigener Sache
Den Aussasgen von Herrn Jakob ist nicht zu widersprechen, dennoch wird den aufmerksamen LeserInnen von forced-labour.de nicht verborgen geblieben sein, dass wir uns über den DGB im Allgemeinen und über Herrn Jakob im Besonderen hier schon reichlich geärgert haben. Namentlich über die aus unserer Sicht unverständliche Verweigerungshaltung des DGB endlich eine Verbandsbeschwerde gegen den völkerrechtswidrigen Ein-Euro-Arbeitszwang vor den Verwaltungsrat der ILO zu bringen.

Also habe ich Herrn Jakob sowohl mit dieser Kausa, als auch mit dem Ausbleiben des DGB bei der u.a. von Frau Sehrbrock angekündigten Verfassungsbeschwerde gegen den Hartz IV-Regelsatz konfrontiert. In beiden Fällen replizierte Herr Jakob, die Erfolgsaussichtens seien von Fachmenschen geprüft worden und für zu gering erachtet worden. Mir blieb - erneut - nichts anderes, als in leichter Abwandelung des bekannten Brecht-Zitats zu bemerken:

Wer vor Gericht zieht, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Diese Situation bleibt also höchst unbefriedigend, als uns einerseits eine Individualklage vor dem ILO-Verwaltungsrat nicht gestattet ist und andererseits die mit dem Recht zu einer Verbandsklage ausgestattete Organisation sich verweigert. Wir in der sozialen Bewegung (und nicht zuletzt ich ganz persönlich) haben gelernt, dass selbst Verzweiflungstaten manchmal einen Erfolg haben können und wir uns bestimmt nicht leisten können nur dort den Widerstand auf zu nehmen, wo wir zuvor hochprozentige Erfolgsaussichten bescheinigt bekommen.

Es sagt viel aus über Interessenpolitik in diesem Lande, wenn sich die Funktionärselite des Dachverbandes der deutschen Gewerkschaften ausgerechnet in der arbeitsmarkt- und sozialpolitisch bedrängtesten Stunde “saturiert” verhält. Wenn Herr Jakob richtig feststellt, dass Deutschland im EU-Vergleich sozial zunehmend unattraktiver wird, muss der sozialdemokratisch unterwanderte DGB gegenwärtig vielleicht eher als Teil des Problems, denn als Teil der Lösung angesehen werden.

Weitaus erfreulicher und einvernehmlicher war der Veranstaltungsteil, in dessen Verlauf Steffen Seifert aus Dresden, Michael Böst aus Neumünster und meine Wenigkeit auf dem Podium die Möglichkeit hatten, unsere Erfahrungen als Hartz IV-Betroffene mit Katja Kipping zu diskutieren. Was uns verbindet ist nicht allein, dass wir auf die eine oder andere Weise Widerstand gegen das Hartz-System ergriffen haben, sondern dass wir dabei auf die Unterstützung von Frau Kipping und ihren MitarbeiterInnen rechnen durften.

Für mich war dies die Gelegenheit, der sozialpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE erstmalig persönlich für ihre Unterstützung danken zu können. Ich habe dann kurz geschildert, wie ich am 06. Nov. 2006 mit meinem Protest vor der Universität Hamburg begonnen und die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen in Hamburg, Gudrun Köncke, davon unterrichtet hatte. Anstatt jedoch von Frau Köncke jemals eine Reaktion zu erfahren, war es am 09. Nov. 2006 Ronald Blaschke aus dem Büro von Frau Kipping, der den Kontakt zu mir aufgenommen und mich unterstützt hat.

Leider ist DIE LINKE bei uns in Hamburg noch nicht in der Bürgerschaft vertreten. In Bremen sind am 13. Mai die Wahlen zur Bürgerschaft und die Bremer LINKE hat gute Aussicht als erste den Einzug in ein Länderparlament der alten Länder zu nehmen. Ich habe mir die Wahprogramme angeschaut. Während die anderen Parteien den Ein-Euro-Arbeitszwang entweder gar nicht oder nur halbherzig thematisieren, steht bei der Bremer LINKEN gleich unter Punkt 1:

Bremen steigt aus der Praxis entwürdigender Ein-Euro-Jobs aus.

So geht’s! Und im nächsten Jahr geht’s so in Hamburg weiter!

von Thomas Meese

Quelle: www.forced-labour.de