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Türkeiwahl: Merkels moralischer Bankrott

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

 

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin der Fraktion für Internationale Beziehungen

 

„Die Bundeskanzlerin gratulierte Herrn Davutoğlu zur friedlichen Durchführung der gestrigen Parlamentswahlen. Die hohe Wahlbeteiligung unterstreiche eindrucksvoll, wie sehr das türkische Volk sich der Demokratie verpflichtet fühle", gab die Bundesregierung zum Ausgang der türkischen Parlamentswahlen bekannt.

„Die Bundeskanzlerin versicherte dem türkischen Ministerpräsidenten die Bereitschaft der Bundesregierung zur weiterhin engen Zusammenarbeit bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen, wie der Bewältigung der Auswirkungen der Syrienkrise", vermeldete Pressesprecher Seifert weiter.

Zudem seien sich die Bundeskanzlerin und der türkische Ministerpräsident einig gewesen, „dass der bilaterale Dialog zur Eindämmung der Flüchtlingsströme weiter fortgesetzt werden und rasch in konkrete Vereinbarungen münden müsse. Ebenso müsse es jetzt rasch zu Fortschritten in der Aushandlung des gemeinsamen EU-türkischen Aktionsplans zu Migrationsfragen kommen", so die Pressemitteilung der Bundesregierung zum Glückwunschtelefonat der Bundeskanzlerin mit dem türkischen Ministerpräsidenten.

Merkel war neben Hamas und der islamistischen Terrororganisation Ahrar al-Sham in Syrien eine der ersten unter den Gratulanten. Dies ist umso bemerkenswerter als dass internationale Organisationen wie die OSZE und die parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) erklärt hatten, die Parlamentswahlen in der Türkei seien durch die sich verändernde Sicherheitslage sowie Fälle von Gewalt und Einschränkungen der Medienfreiheit stark behindert worden. Beide Institutionen kritisieren die Wahlen in der Türkei als „unfair".

Verfolgungswelle gegen Andersdenkende und Oppositionelle

In der Tat hatte der türkische Staatspräsident Erdogan nach der Wahlniederlage der AKP im Juni eine regelrechte Verfolgungswelle gegen Andersdenkende und Oppositionelle entfesselt. Zugleich hatte er den Friedensprozess aufgekündigt und einen Krieg gegen die Kurden entfesselt, dem sowohl in der Türkei selbst, als auch im Irak zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. In der gleichen Zeit kam es in der Türkei zu einer ganzen Reihe von Attentaten gegen Demokraten und Linke, deren Urheberschaft IS-Strukturen in der Türkei zugeschrieben wurde.

Opfer wurden Menschen, die zuvor in Reden von Erdogan als Terroristen gebrandmarkt wurden. Die Attentatsserie gemahnt an die Anschläge der Strategie der Spannung, wie sie von den NATO-Organisationen Stay Behind und Gladio im Kalten Krieg angewandt wurde. Faschistische Gruppen, unterwandert von NATO-Geheimdiensten, verübten im Kalten Krieg schwere Anschläge gegen Linke oder einfach gegen Unbeteiligte mit dem Ziel, nicht nur ein Klima der Angst und der Einschüchterung zu schaffen, sondern auch Rechtsregierungen die Gelegenheit zu geben, sich als Ordnungskraft zu profilieren.

Genau darauf aber zielte die Wahlkampfstrategie von Erdogan ab. Neben den zahlreichen berichteten Wahlmanipulationen kann dieser Faktor den Ausschlag für die Wiedereroberung der Regierungsmehrheit durch die AKP gegeben haben.

Die deutsche Bundekanzlerin Merkel darf sich das zweifelhafte Verdienst auf die Fahnen schreiben, als einzige westliche Staatschefin durch ihren Türkeibesuch lediglich zwei Wochen vor dem Wahltermin Erdogan und seiner AKP großzügige Wahlhilfe im Gegenzug zum türkischen Versprechen der Flüchtlingsabwehr geleistet zu haben. So verwunderte es auch nicht, dass weder die US-Regierung noch Berlin Erdogan kritisierten, als dieser wenige Tage vor dem Wahltermin die Kurden in Syrien angreifen ließ.

Das Signal aus Washington und Berlin an die Türkei war klar: Auch wenn ihr diejenigen angreift, die sich dem barbarischen IS am entschiedensten in der Region entgegenstellen, werden wir euch gewähren lassen. Zu wichtig ist die Türkei für die Stellvertreterkriege und die Regime Change-Politik der führenden NATO-Staaten im Nahen Osten.

Mit der Türkei verbündete islamistische Terrormilizen

Seitdem die Türkei angekündigt hatte, den IS bombardieren zu wollen, ist dieser in Syrien immer weiter vorgerückt. Vieles spricht dafür, dass sich offen mit der Türkei verbündete islamistische Terrormilizen, von den Human Rights Watch berichtet, sie seien für den Tod von hunderten unschuldigen Zivilisten in Syrien verantwortlich, im Süden der Region Aleppos direkt mit dem IS koordinieren, um die - für die syrischen Regierungstruppen letzte - Versorgungsroute nach Aleppo anzugreifen.

Die Bundesregierung wagt es nicht einmal, die türkische Waffenhilfe für die Ahrar Al-Sham zu kritisieren, trotz Presseberichten, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst Kenntnis von diesen Lieferungen hat.

Insofern darf davon ausgegangen werden, dass Berlin und Washington Staatspräsident Erdogan kein rotes Licht für seine Gewaltpolitik setzen werden. Das Bundeskanzleramt berichtet in internen Unterrichtungen, dass es Ziel der deutschen Politik sei, dass die türkische Gendarmerie in Zukunft die syrischen Flüchtlinge nicht mehr ans Mittelmeer lasse.

Erdogan und die AKP haben schon das nächste Ziel ihres Wahlkriegs im Auge. Jetzt soll es um die Schaffung einer verfassungsändernden Mehrheit gehen. Die Abgeordnetenmandate der AKP reichen dazu nicht aus. Wenn Erdogan seinen Traum eines autoritären Präsidialsystems umsetzen will, braucht er aber diese Verfassungsänderung. Was aber, wenn die anderen Fraktionen nicht willig sind, der AKP die nötige Mehrheit zu besorgen?

Erdogan treibt die Türkei in den Bürgerkrieg

Einen Vorgeschmack der entsprechenden AKP-Strategie kann man bereits jetzt wenige Tage nach den Wahlen bekommen. Erneut kommt es zu Verhaftungen. Demonstranten werden getötet. Erdogan treibt die Türkei in den Bürgerkrieg. Seine AKP ist denn auch nicht mehr mit dem Selbstbild „islamisch-konservativ" in Übereinstimmung zu bringen. Hass auf vermeintliche Ungläubige, Schüren konfessioneller Spannungen gegen Schiiten und Aleviten, Hass auf Juden und Armenier wie auch Hetze gegen Homosexuelle gehören mittlerweile zum Ton der AKP-Wahlkämpfe.

Faschistische Praktiken wie die Entsendung von AKP-Schlägertrupps in kritische Zeitungsredaktionen sind Alltag in der Türkei geworden. Der einzige Lichtblick in einer düsteren Zukunftsperspektive neuer Gewaltwellen ist die HDP, die allen Manipulationen zum Trotz die 10%-Hürde übersprungen hat, auch weil sie längst keine Kurdenpartei mehr ist, sondern versucht, die demokratische Oppositionen gegen Erdogan zu organisieren.

Eines ist klar: Hilfe für die demokratischen Kräfte in der Türkei ist weder vom US-Präsidenten Barack Obama und noch weniger von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erwarten. Allein die Bündelung demokratischer Kräfte in der Türkei gegen die Strategie der Spannung von Erdogan und seiner AKP kann eine Widerstandsperspektive eröffnen.

Auch im Hinblick auf den Widerstand gegen den barbarischen IS in der Region liegt es auf der Hand, dass die USA und Deutschland, die auf Erdogan setzen und seine IS-Freundlichkeit ignorieren, keine sicheren Adressen für eine Unterstützung gegen diesen gefährlichen religiös verbrämten Faschismus sind.

Dabei müsste es darum gehen, alle Kräfte gegen den IS, diesen Feind der Menschheit, der ganze Bevölkerungsgruppen ausrotten und versklaven will, zu sammeln. Für die Kurden in der Region wird es das Signal sein, die eigenen Strukturen zu stärken.

Huffington Post, 3. November 2015