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Tödlicher Wahlkampf

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

 

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Immer tiefer treibt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Land in einen Bürgerkrieg. Städte im Südosten der Türkei werden belagert, Zivilisten getötet. Erdogan setzt auf Eskalation, weil es seine einzige Chance ist, die vorgezogenen Parlamentswahlen im November für seine islamistische AKP doch noch zu gewinnen. Mit der Mehrheit der Abgeordneten soll es dann an die Verfassungsänderungen für seine Präsidialdiktatur gehen. Dazu muss er die Demokratische Partei der Völker (HDP) ausschalten und unter die Zehnprozenthürde drücken. Doch nachdem Erdogan den Friedensprozess aufkündigte und PKK-Stellungen bombardieren ließ, konnte die HDP ihren Stimmenanteil in Umfragen auf über 14 Prozent steigern. Deshalb eskaliert der Staatschef jetzt den Krieg in der Türkei total. Hatte sich Erdogan durch seine Unterstützung islamistischer Terrormilizen in Syrien bereits den Namen »Schlächter« verdient, kommen für die Schuld am Tod von Zivilisten in der Türkei jetzt weitere zweifelhafte Meriten hinzu.

Erdogan war und ist ein politischer Zwerg, der von Euronationalsten aller Couleur stets als human, da europäisch, verklärt wird und dem Washington und Berlin den Rücken stärkten und stärken, weil er in ihr geopolitisches Konzept im Nahen und Mittleren Osten passt. Die EU-Kommission in Brüssel übertraf wie so oft alle anderen an machtpolitischem Zynismus. In den vergangenen Jahren eröffnete die EU quasi als Belohnung für Erdogans Weg in den Unterdrückungsstaat fleißig Beitrittskapitel. In Deutschland wurde dies von Union, SPD und Grünen bejubelt. Doch jetzt hat sich die EU-Kommission noch einmal eine Steigerung ausgedacht. Während in der belagerten Stadt Cizre im Südosten der Türkei Scharfschützen auf die Einwohner anlegen, will man im Berlaymont-Gebäude in Brüssel die Türkei zum sicheren Herkunftsland deklarieren. Flüchtlinge hätten damit keine Chance auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren. Eine derart lügenhafte bürokratische Menschenverachtung, wie sie die EU-Kommission gegenüber Flüchtlingen zeigt, sucht ihresgleichen.

Wie gesagt, Erdogan kann seinen Krieg nur führen, weil ihm Washington und Berlin, die NATO und die EU zur Seite springen. Der Mann ist, um in ihrer zynischen Herrschaftssprache zu bleiben, ihr Stabilitätsanker in der Region. Erst wenn die US-amerikanischen und die deutschen Rüstungsexporte gestoppt werden, wird er ins Wanken kommen. Erst dann wird sein als Krieg geführter Wahlkampf, den unzählige Menschen in der Region mit dem Leben bezahlen, ein Ende finden. Wer Erdogan in den Arm fallen will, muss dies gerade auch in den USA und in Deutschland tun.

junge Welt, 8. September 2015