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Regierungspartei bei Kommunalwahlen bestätigt

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag im Interview über die Kommunalwahlen in der Türkei

 



Stimme Russlands: Frau Dagdelen, die Türkei hat am Sonntag gewählt, bei den Kommunalwahlen hat Erdogans Partei, die AKP, eine deutliche Mehrheit erhalten. Nach den Gezi-Protesten und den Korruptionsskandalen der letzten Zeit – wie kommt es, dass die AKP scheinbar noch gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen ist?

Sevim Dagdelen: Ich habe es befürchtet und eigentlich auch damit gerechnet, dass die AKP ein gutes Ergebnis einfahren wird, sogar ein besseres Ergebnis als bei den letzten Kommunalwahlen. Das liegt auch daran, dass das AKP-Regime nahezu die gesamte Medienlandschaft in der Türkei kontrolliert; die Menschen in der Türkei, vor allem auf dem Land, sind ständiger Propaganda und auch einseitiger Berichterstattung ausgesetzt, und das beeinflusst die Menschen natürlich. Ferner trauen auch viele Menschen den anderen Parteien neben der AKP nicht, für viele Menschen gelten auch alle anderen Parteien als korrup, sie halten auch die AKP für korrupt, aber sie denken, dass sie ja immer noch etwas für die Allgemeinheit tut, beispielsweise eine Gesundheitsversorgung für die Menschen, und halten die AKP für weniger unfähig als alle anderen Regierungsparteien zuvor. Außerdem gibt es einen Mangel an tatsächlicher Opposition in der Türkei, die dem neoliberalen Kurs der AKP auch Einhalt gebietet, so ist die größte Oppositionspartei, die CHP, keine glaubhafte Alternative, da sie die soziale Frage in keinster Weise stellt und selbst auch neoliberal ausgerichtet ist. Und insofern wird in der Türkei, solange sich dort keine starke Linke etabliert, die ganz besonders auch die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt, befürchte ich, die AKP immer stärker.

Es gibt Meldungen über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen und viele Zwischenfälle, außerdem gab es Hackerangriffe auf einige oppositionelle Medien, meinen Sie, dass diese Unregelmäßigkeiten das Wahlergebnis möglicherweise beeinflusst haben?

Ja, die Berichte über Unregelmäßigkeiten sind weitreichend. Es gibt über 1.400 Beschwerden, die bei den Behörden eingegangen sind. An vielen Orten gab es seltsamerweise Stromausfälle, weshalb die Stimmauszählung bei Kerzenschein erfolgen musste, es gab Berichte, dass auch zivile Polizisten in den Wahllokalen anzutreffen waren. Und diese ganz knappen Ergebnisse in den umstrittenen Bürgermeisterämtern, wie z.B. in Ankara, die hinterlassen schon einen faden Beigeschmack, aber ich denke, die Unregelmäßigkeiten können nicht alles erklären. Als Erklärungsmuster reicht es z.B. nicht, für die Ergebnisse außerhalb der Großstädte, wie Ankara oder Istanbul. Wenn die AKP außerhalb der großen Metropolen, gerade in Mittel- und Ostanatolien, wie ich bereits sagte, große Mehrheiten erreichen konnte, sind da eben auch andere Gründe ausschlaggebend. Das ist, wie Sie schon sagten, einmal die Kontrolle der sozialen Medien, aber eben auch die schwache Opposition, und ferner ist es auch selbstverständlich das Soziale. Die Politik Erdogans, der mit einem auf Pump finanzierten Aufschwung versucht, die Menschen für sich zu gewinnen, und es gibt auch ein anderes Problem, dass hier offensichtlich geworden ist, nämlich dass die Saat der Islamisierung, die Erdogan und die AKP mit ihrem bisherigen Verbündeten Gülen mit ihrer Sekte gesät haben, leider gerade auch im Osten aufgeht, dass ist auch eine der Erklärungen für diese neu errungenen Mehrheiten.

Die Bevölkerung in der Türkei scheint so tief gespalten wie nie zu sein, dazu kommt noch das provokative Verhalten Erdogans, der sich von seinen Anhängern feiern lässt und zu drastischen Maßnahmen in der Bekämpfung der Opposition greift – im Vorfeld der Wahlen wurde bspw. der Online-Chatdienst Twitter verboten; in welche Richtung wird sich die Situation nun entwickeln, was glauben Sie?

Zu befürchten ist, dass Erdogan das Wahlergebnis als eine Art Card Blanche begreift für seine repressive Innenpolitik, aber auch für seine agressive Außenpolitik, Stichwort "false flag" und unter einem Vorwand in Syrein einmarschieren zu wollen, das wird er höchstwahrscheinlich auch jetzt für sich reklamieren und hat es auch schon so erklärt. Außerdem wird er seine repressive Politik ausweiten und bei seinen politischen Gegnern Rache nehmen, da ist jetzt zu befürchten, dass die Türkei mit Syrien einen Krieg vom Zaun brechen wird, und deshalb ist es wichtig, dass die Europäische Union und auch die Bundesregierung ein klares Stoppzeichen setzen. Wahlen gewinnen heißt nicht, für sich zu beanspruchen, dass man der Opposition mit stärkerer repressiver Verfolgung drohen kann und das dann auch umsetzen kann. Es muss einen Dialog geben, er muss hin zu einer Versöhnung gehen und er muss versuchen, auf die Opposition zuzugehen, um dort auch zu versuchen, Kompromisse zu machen.

Stimme Russlands, 1. April 2014