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Regierung bleibt beim Assoziationsrecht rechtsbrüchig und untätig

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

“In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen.” – Ein Kommentar von Sevim Dağdelen


  Am 16. September 2011 erhob meine Fraktion Organklage beim Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des parlamentarischen Fragerechts. Anlass war, dass die Bundesregierung auf Kleine Anfragen zu sogenannten Unterstützungseinsätzen der Bundespolizei am 19. Februar 2011 in Dresden und am 1. Mai 2011 in Berlin und anderen Städten unzureichend geantwortet hatte. In der Presseerklärung des Justiziars der Linksfraktion, Wolfgang Neskovic, hieß es: „Gerade in sensiblen Politikbereichen (Terrorbekämpfung, Waffenexport, Lobbyismus etc.) macht es sich die Bundesregierung offenbar zur Aufgabe, parlamentarische Anfragen nur so restriktiv wie irgend möglich zu beantworten, oder, anders formuliert, eine klare, umfassende Antwort im Rahmen des rechtlich Möglichen zu vermeiden. Hierdurch entsteht häufig der Eindruck, als investierten die Ministerien mehr Energie dafür, Anfragen nicht zu beantworten, anstatt Parlament und Öffentlichkeit so sorgfältig und wahrheitsgetreu wie möglich zu informieren.“ Genau dieser Eindruck verfestigt sich angesichts des Antwortverhaltens der Bundesregierung bezüglich zweier Kleiner Anfragen zum EWG-Türkei-Assoziationsrecht.   Zwar erhielt ich von der Bundesregierung unaufgefordert eine Aufzählung und Auflistung aller von mir zu diesem Thema bisher gestellten Anfragen. Doch Antworten auf die konkreten Fragen erhielt ich nicht wirklich, auch wenn die Bundesregierung meint, sie habe „die meisten der mit der neuerlichen Kleinen Anfrage gestellten Fragen“ in den von ihr gezählten zwölf Kleinen Anfragen in den letzten 28 Monaten „bereits beantwortet“. Wäre dem so, hätte ich nicht stets erneut nachfragen müssen. Genau so, wie die Bundesregierung gezielt europäisches Recht aus politischem Kalkül missachtet, höhlt sie auch das parlamentarische Fragerecht durch gezielte Nichtbeantwortung aus. Der Grund ist klar: Würde die Bundesregierung die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Assoziationsrecht umsetzen, wäre dies das Eingeständnis, mit allen maßgeblichen aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen der letzten Jahre faktisch gescheitert zu sein. So ist zum Beispiel die diskriminierende Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug, auf die vor allem die CDU/CSU-Fraktion so stolz ist, wegen des Assoziationsrechts auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar, obwohl sie gerade in Hinblick auf diese Gruppe geschaffen wurde. Wenn aber Regeln im Aufenthaltsrecht für die größte MigrantInnen-Gruppe in Deutschland nicht gelten – für Unionsangehörige gelten sie ohnehin nicht –, dann drängt sich die Frage nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Bezug auf alle anderen Migrantinnen und Migranten geradezu auf. In letzter Konsequenz bedeutet das, im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik einen grundlegenden Politikwechsel zu vollziehen, der nicht auf Gesetzesverschärfungen, Zwang und Ausgrenzung setzt, sondern auf gleiche Rechte, aktive und inklusive Förderung und soziale Gerechtigkeit.   Worum geht es genau? Bekanntlich ignoriert bzw. hintertreibt die Bundesregierung seit Jahren die Rechtsprechung des EuGH und die entsprechende Kommentierung in der Fachliteratur insbesondere zu den Verschlechterungsverboten des Assoziationsrechts. Nicht zuletzt aus der von mir in Auftrag gegebenen Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom Juni 2011 ergeben sich detailliert die eigentlich erforderlichen umfangreichen Änderungen für das deutsche Aufenthaltsrecht. Nachdem dann selbst die nicht gerade als liberal bekannte Regierung der Niederlande im September 2011 auf Sprachanforderungen im In- und Ausland bei türkischen Staatsangehörigen verzichtete (Österreich zog vor kurzem nach), hätte selbst ein juristischer Laie erkennen können, dass die Rechtsauffassung der Bundesregierung unhaltbar und ihre Verweigerungshaltung ein übles Spiel auf Zeit zu Lasten der Betroffenen ist. Staatssekretär Dr. Ole Schröder räumte auf mein Nachfragen im Parlament unumwunden ein, dass dies „letztlich … auch eine politische Frage“ sei: „Solange es rechtlich möglich ist, einen solchen Sprachnachweis zu verlangen, werden wir das auch tun“ (17/145, S. 17265).   Die Regierung leistet in anderen Worten so lange hinhaltenden Widerstand gegen die europäischen Rechtsprechungsvorgaben, wie sie nur irgend kann – in Kenntnis dessen, dass sie längst verloren hat. Auf eine kritische Frage zu dieser Hinhaltetaktik erhielt ich zur Antwort: „Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, dass der EuGH ‚zu jeder nur vorstellbaren Detailverschärfung der bestehenden Gesetzeslage seine gefestigte Rechtsprechung immer wieder erneut wiederholen muss‘. Die Bundesregierung ist allerdings auch nicht der Auffassung, dass jede Detailfrage im Bereich des Assoziationsrechts bereits eindeutig vom EuGH entschieden ist“ (Frage 12). Angesichts der sehr klaren allgemeinen Vorgaben des EuGH zum Assoziationsrecht, die auf alle Detailfragen nur „runtergebrochen“ werden müssten, belegt genau dies die unverschämte und im Kern europarechtswidrige Haltung der Bundesregierung.   Die Absurdität der Lage wird vor allem im europäischen Vergleich deutlich: Das niederländische Gericht, das im August 2011 letztinstanzlich entschied, dass von türkischen Staatsangehörigen keine Sprach- oder Integrationsnachweise verlangt werden dürfen, hielt diese Konsequenz aus dem Assoziationsrecht für so klar und eindeutig, dass es die Frage nicht einmal dem EuGH zur Entscheidung vorlegte! In Deutschland hingegen wird regierungsoffiziell das genaue Gegenteil für offenkundig zutreffend gehalten. An dieser Stelle muss an die unrühmliche Rolle des Bundesverwaltungsgerichts erinnert werden, das bei seiner Grundsatzentscheidung zum Ehegattennachzug vom 30. März 2010 eine „Prüfung“ des EWG-Türkei-Assoziationsrechts vernahm, die diesen Namen kaum verdiente und sogar noch dürftiger ausfiel als die Prüfung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie, hinsichtlich derer sich das Bundesverwaltungsgericht inzwischen immerhin korrigieren musste. Das höchste deutsche Fachgericht hätte die Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug auch wegen des Assoziationsrechts zwingend dem EuGH vorlegen müssen, und vermutlich sieht es dies inzwischen genauso, nachdem die EU-Kommission in einer Stellungnahme an den EuGH der diesbezüglichen Rechtsauffassung der Bundesregierung (und des Bundesverwaltungsgerichts) klar widersprochen hat. Die Bundesregierung erklärte hierzu lapidar, dass „Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommission und Bundesregierung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nichts Ungewöhnliches sind“ (17/129, S. 15192).   Ich habe die Bundesregierung mehrfach danach gefragt, inwieweit sie sich mit den Regierungen in den Niederlanden, aber auch in Dänemark und in Österreich, über deren gänzlich andere Auslegung und Anwendung des Assoziationsrechts inhaltlich austauscht hat und ob sie versucht, zu einer einheitlichen Anwendungspraxis zu kommen. Nachdem die Regierung zunächst noch sinngemäß geantwortet hatte, die Praxis in den europäischen Nachbarstaaten sei ihr egal und sie würde hierüber auch keine Gespräche führen, geht aus ihrer jüngsten Antwort hervor, dass es zumindest einen Austausch der Argumente auf Regierungsebene gegeben haben muss. Allerdings seien dabei der Bundesregierung „keine Argumente bekannt geworden, die ihre Rechtsüberzeugung zu erschüttern vermocht hätten“ (Fragen 14 und 15). Kein Wunder: Um überzeugt zu werden, muss man dazu bereit sein, sich überzeugen zu lassen. Doch die Auffassung der Bundesregierung ist ideologisch begründet und fußt nicht auf rechtlichen Argumenten, sondern einzig und allein auf politischem Kalkül. Da ist es geradezu lächerlich, wenn die Bundesregierung kritischen Nachfragen hierzu entgegnet, dass sie es „nicht als ihre Aufgabe ansieht, ihre Rechtsauffassung fortlaufend zum Anlass von Detailstellungnahmen zu machen und in einen juristischen Fachdisput einzutreten“. In der aktuellen Antwort findet sich diese Floskel gleich vier Mal, und aus dem Kontext wird deutlich, dass sie als Chiffre dafür zu lesen ist, dass die Bundesregierung zu einem Thema nichts mehr sagen will, weil sie genau weiß, dass sie im Unrecht ist und ihr die Argumente ausgegangen sind. Die Unglaubwürdigkeit dieser Haltung wird offensichtlich, wenn sich die Regierung an anderer Stelle dann doch detailversessen in den ansonsten abgelehnten „Fachdisput“ begibt, wenn sie nämlich glaubt, noch Argumente auf ihrer Seite zu haben (Fragen 8 und 11)   Angesichts dieses Rechtsnihilismus verwundert es nicht, wenn selbst eine Richterin des EuGH, Maria Berger, vor nicht allzu langer Zeit sogar öffentlich ihren Unmut über die mangelhafte Umsetzung des Assoziationsrechts durch einige EU-Mitgliedstaaten bekundete: „Auffällig oft landen bei uns derzeit Fälle, bei denen es um die Einhaltung des Assoziierungsabkommens mit der Türkei geht. In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen“. Die Bundesregierung will diese Äußerung verständlicherweise nicht kommentieren und zieht hieraus auch keine Schlussfolgerung für ihr eigenes Handeln (Frage 13).   Die Verweigerungshaltung der Bundesregierung manifestiert sich auch in der Farce der seit dem Jahr 2002 nicht mehr aktualisierten Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum Assoziationsrecht. Jedenfalls in Bezug auf dessen Verschlechterungsverbote sind diese amtlichen (und verbindlichen!) Hinweise zum Assoziationsrecht nämlich das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, da der EuGH hierzu gerade in den letzten Jahren maßgebliche Entscheidungen getroffen hat. Vor einem Jahr erklärte die Bundesregierung auf meine Anfrage, die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“. Ein geschlagenes Jahr später fällt die Antwort auf Nachfrage identisch aus – versehen allerdings mit dem vorsorglichen Hinweis, es sei auch „noch nicht absehbar, wann die Überarbeitung abgeschlossen sein wird“ (Frage 3). Dazu passt, dass auch in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz eindeutig falsche Vorgaben zum Assoziationsrecht enthalten sind, wie selbst aus früheren Angaben der Bundesregierung hervorgeht: „Sollten einzelne Verwaltungsvorschriften jedoch nicht im Einklang mit höherrangigem Recht stehen, ist mit ihrer Änderung bei der nächsten Überarbeitung der Verwaltungsvorschriften zu rechnen“, heißt es knapp. Dazu nur folgender Hinweis: Im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 war vereinbart worden, „schnellstmöglich“ Verwaltungsvorschriften zum neuen Aufenthaltsgesetz auszuarbeiten. Vier Jahre später, am 31.10.2009, traten diese dann in Kraft.   Vor kurzem wies ich mit einer Pressemitteilung auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen zu den überhöhten und rechtswidrigen Gebühren bei Aufenthaltstiteln für türkische Staatsangehörige hin und forderte Betroffene auf, sich hiergegen zur Wehr zu setzen. „Dieses Urteil wird derzeit noch geprüft“, verkündet die Bundesregierung nun (Fragen 28/29). Aber wie die Antwort ausfallen wird, lässt sich bereits anhand der nachfolgenden Frage 30 zur aktuellen Entscheidung des EuGH zu rechtswidrigen Gebühren bei langfristig Aufenthaltsberechtigten erahnen: Das Urteil, so die Bundesregierung, das gegen die Niederlande erging, sei auf Deutschland nicht übertragbar, weil „die Gebühren in Deutschland deutlich niedriger“ seien. Deutlich! Als eindeutig europarechtswidrig erachtete der EUGH Gebühren, die in den Niederlanden etwa sieben Mal so hoch wie für einen inländischen Personalausweis waren. In Deutschland sind sie hingegen „nur“ fast fünfmal so hoch – na, wenn es so ist…   Eingangs schrieb ich von zwei Kleinen Anfragen der Fraktion DIE LINKE zum Assoziationsrecht. Der Umgang der Bundesregierung mit der zweiten Anfrage ist an Ignoranz und zur Schau gestellten Inkompetenz kaum noch zu überbieten. Sie enthält etwa 20 Fragen – und im Grunde gibt es nur eine Antwort: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor“. Gefragt worden war nach der Umsetzung der assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbote durch die Bundesländer. Zuvor hatte die Regierung nämlich erklärt (17/5884), dass sie es nicht als ihre Aufgabe ansehe, eine Beachtung des Assoziationsrechts in der Auslegung durch den EuGH sicherzustellen, zumal für die Rechtsanwendung „überwiegend“ die Bundesländer zuständig seien. Schon diese Behauptung ist fragwürdig, da die für die gesamte Bundesrepublik verbindlichen Verpflichtungen aus dem EWG-Türkei-Assoziationsrecht in ihrer Bindungswirkung nicht nur nationalen Bestimmungen, sondern sogar EU-Verordnungen und Richtlinien vorgehen! Wenn die Bundesregierung zur Anwendungspraxis der Bundesländer (angeblich) keine Kenntnisse hat, hätte sie sich diese durch eine Länderabfrage verschaffen müssen – was von den Fragestellerinnen und Fragestellern auch angeregt worden war. Die Regierung aber sieht es nicht als ihre Aufgabe an, „eine Länderumfrage zu der Frage zu machen, auf welche Weise die Länder von ihrer Verwaltungshoheit bei der Anwendung des Assoziationsrechts Gebrauch machen“. Außerdem habe sie im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht „einen gewissen Spielraum, ob, wann und wie sie beaufsichtigt“. „Belege“ über „systematische Rechtsverstöße“ hätten die Fragesteller zudem „nicht vorgelegt“. Da frage ich mich schon, ob die Bundesregierung, wenn sie schon auf Fragen nicht antwortet, diese wenigstens noch liest. Zwölf, bzw. nunmehr schon 14 Anfragen zur unzureichenden Umsetzung des Assoziationsrechts, und die Bundesregierung will von keinen systematischen Rechtsverstößen wissen?! Zu all den vielen Kleinen wird die Bundesregierung nun noch eine Große Anfrage zum Assoziationsrecht beantworten müssen, denn diese Missachtung des parlamentarischen Fragerechts lasse ich mir nicht gefallen – auch wenn ich keine Hoffnung habe, künftig Antworten zu erhalten, die um Wahrheit und Vollständigkeit bemüht sind.   Die Bundesregierung behauptet übrigens allen Ernstes, es sei nicht schlimm, dass die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum Assoziationsrecht aus dem Jahr 2002 „nicht aktuell sind“. Denn dies wirke „sich in der praktischen Rechtsanwendung nicht aus, da die für die Anwendung des Aufenthaltsrechts zuständigen Ausländerbehörden gemäß Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) an Recht und Gesetz gebunden sind und dabei auch die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung beachten“ (Frage 3). Das klingt wie aus dem Lehrbuch gegriffen, aber wohl nicht einmal die Bundesregierung selbst glaubt ernsthaft daran, dass die kommunalen Ausländerbehörden die komplexe und sehr unzugängliche höchstrichterliche Rechtsprechung des EuGH zum assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbot kennen – geschweige denn, sie eigenständig bewerten und ihre Auswirkungen einschätzen können.   Ich möchte nicht wissen, wie viel bürokratische Energie zur Nicht-Beantwortung parlamentarischer Anfragen hier wieder verbraucht wurde. DIE LINKE jedenfalls wird bei diesem Thema nicht locker lassen und drängt unter anderem auf eine parlamentarische Sachverständigen-Anhörung zu den Auswirkungen der Verschlechterungsverbote des EWG-Türkei-Assoziationsrechts.
Quelle: MiGAZIN - Migration in Germany