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Privatisierungen auf Wunsch von EU und Berlin

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für Migration und Integration der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag




Seit 2003 erlebt die Türkei einen Schub an Privatisierungen, die die Entstaatlichungsmaßnahmen bis zum Jahr des ersten Amtsantritts Erdoğans und seiner AKP weit in den Schatten stellen – weniger Arbeitsschutz und immer mehr tote Arbeiterinnen und Arbeiter sind die Folgen dieser Politik. Auch wenn das AKP-Regime mit Erdogan sowie die Unternehmensspitze die Hauptverantwortlichen der tödlichen Bergwerkskatastrophe von Soma sind, der 301 Kumpel zum Opfer gefallen sind, können sich EU und Bundesregierung nicht von ihrer Verantwortung freisprechen. Sie sind Mittäter bei diesem Verbrechen.

Denn Brüssel und Berlin fordern von der Türkei insbesondere im Rahmen EU-Beitrittsverhandlungen seit Jahren eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und Wirtschaftsliberalisierung. Sie haben die AKP-Regierung durch die Eröffnung weiterer EU-Beitrittskapitel stets ermuntert und immer wieder belohnt für deren Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und ihre brutale Privatisierungs- und Ausverkaufspolitik. Das Resultat sind täglich Arbeitsunfälle mit Toten. Noch im April hatte der türkische Minister für Energie und Natürliche Ressourcen, Taner Yildiz, bekanntgegeben, dass die Türkei plane, die meisten ihrer Kohlefelder zu veräußern. Doch wenn die Privatisierungspolitik und den Wirtschaftsliberalismus auch durch Erdogans AKP-Regime auf die Spitze getrieben wurde, beteiligt waren daran sämtliche Regierungen der letzten 35 Jahre.

Ausgangspunkt war der Militärputsch von 1980. Dieser kam nicht von ungefähr. Anfang 1980 hatte die damalige türkische Regierung den Schwenk weg von einer nachholenden Industrialisierung hin zu einer neoliberalen exportfixierten „freien“ Marktwirtschaft vollzogen. Doch die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds, an die sich große Teile in Regierung, Militär und den Unternehmerverbänden halten wollten, ließen sich nicht in einer bürgerlichen Demokratie umsetzen. Die Gewerkschaften erschienen zu stark, um solch ein Programm anzugehen. Deswegen schritt das Militär ein und setzte die neoliberale Schocktherapie mit Gewalt in dem Land durch.

  In den folgenden zwei Jahrzehnten gingen die verschiedenen türkischen Regierungen langsam die Privatisierung von Staatsbetrieben an. Die Entstaatlichungsmaßnahmen sollten neue Geschäftsfelder für das einheimische und das ausländische Kapital eröffnen. Beispielsweise zog sich der türkische Staat in den 1980er und 1990er Jahren aus allen Unternehmen der heimischen Zementindustrie zurück. Vor diesem Wirtschaftsliberalisierungsschub hatten die staatlich kontrollierten Zementbetriebe 40 Prozent der türkischen Zementindustrie ausgemacht. Gewissen Teilen des türkischen Kapitals ging diese Privatisierungspolitik jedoch nicht weit genug. Mit ideologischer Schützenhilfe aus den Medien machte sich der Arbeitgeberverband TÜSİAD deswegen daran, den Neoliberalismus immer weiter in verschiedenen Bevölkerungsschichten zu verankern.

Doch in den klassisch-etatistischen Trägern des ursprünglich von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten Staates konnte sich der Wirtschaftsliberalismus nicht in vollem Umfang, wie von nationalem und internationalem Kapital erhofft, durchsetzen. Geographisch hatten diese traditionellen Schichten ihren Schwerpunkt in Istanbul und einigen anderen Küstenstädten. Ideologisch setzten diese Kräfte stets auf einen starken Sicherheitsapparat inklusive tiefem Staat sowie eine säkulare Verfasstheit der türkischen Nation.   In den 1990er Jahren jedoch entstand eine neue heimische Bourgeoiseschicht, welche sich voll und ganz dem Neoliberalismus verschrieben hatte. In den vorwiegend ländlich strukturierten Gebieten Anatoliens entwickelten sich seit diesem Jahrzehnt neue Industriezentren, die über eine sehr lange Zeit konstant boomten, weswegen die Region von ausländischen Vertretern gerne als der „anatolische Tiger“ bezeichnet wurde. Die dort zu Einfluss gekommenen neuen Eliten hatten ihre Wurzeln in traditionalistisch-ländlichen Milieus sowie im politischen Islam – die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi/Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist ihre Partei. Diese neue Bourgeoise setzte außenpolitisch zunächst auf die EU, da diese von der Regierung in Ankara damals Deregulierungen und Privatisierungen verlangte und das auch bis heute verlangt. Seit 1996 besteht eine gemeinsame Freihandelszone zwischen der EU und der Türkei, Beitrittsverhandlungen mit der Türkischen Republik begannen 1999 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft. Die EU-Bedingungen für einen türkischen Beitritt überlappten sich dabei mit den Anforderungen des neoliberalen Weltwährungsfonds.   Nachdem die AK-Partei 2003 die Regierung übernommen hatte, erfasste das Land ein neoliberaler Schub, der bis heute noch nicht beendet ist. Allein in den sieben Jahren von 2002 bis 2009 verkauften die türkischen Regierungen, also ab 2003 die AKP-Regierung, frühere Staatsunternehmen im Wert von 28,5 Milliarden US-Dollar – mehr als das Dreieinhalbfache der Privatisierungen in den 16 Jahren zuvor. In einem „Notfallaktionsplan“ machte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinen Ministern im Jahr 2003 klar, dass sich der türkische Staat auf Kernbereiche wie Bildung, Gesundheit, das Justizwesen und den Sicherheitsbereich beschränken werde. Die vor über 10 Jahren erklärten Ziele verfolgt Erdoğan bis heute. Laut der türkische Zeitung Hürriyet, sind in den vergangenen zehn Jahren staatliche Unternehmen für mehr als 54 Milliarden US-Dollar privatisiert worden. Nach Angaben des türkischen Premiers Erdoğan übertreffe die Türkei in Sachen Privatisierung nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten und diene der Entwicklung des Privatsektors.   Während die türkische Regierung nicht zuletzt wegen des Drucks der EU im Zusammenhang mit dem Prozess der EU-Beitrittsverhandlungen neoliberale Wirtschaftsreformen und die Deregulierung rasch vorangetrieben hat, blieben politische und demokratische Reformen weitgehend auf der Strecke. Die Lage für viele arbeitende Menschen in der Türkei sieht weiterhin katastrophal aus. Viele Jahre der Liberalisierungen und Deregulierungen führen zu beispiellosen sozialen Missständen. Jährlich kommt es in der gesamten Wirtschaft der Türkei zu rund 700.000 Arbeitsunfällen. In den Jahren seit dem ersten Amtsantritt der AKP im März 2003 ist die Türkei mit 14.000 tödlichen Arbeitsunfällen zum Spitzenreiter in Europa aufgestiegen. Die Unfallrate ist damit siebenmal höher als im Durchschnitt der EU. Weltweit ist die Türkei derzeit auf Platz 3 der ILO-Liste zu Unfällen am Arbeitsplatz. Statistisch sterben in der Türkei täglich drei bis vier Menschen bei Arbeitsunfällen. Egal ob auf dem Bau, in den Bergwerken oder im Transportsektor – in der Türkei sind alle Jobs gefährlich. Die gesetzlichen Arbeitszeiten in der Türkei liegen zwar bei 45 Stunden pro Woche, doch diese Regelungen gelten ausschließlich für gesetzlich angestellte Arbeiter. Das ist in der Türkei mit den durch das Militär damals nachhaltig geschwächten Gewerkschaften nur jeder zweite. Fast die Hälfte aller türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter ist illegal angestellt und somit nicht versichert und rechtlos.   Einer der Hauptgründe dürfte die anhaltende Schwäche der Gewerkschaften sein. Nachdem das türkische Militär 1980 die nationalkonservative Regierung von Süleyman Demirel weggeputscht hatte, folgte eine „technokratische Regierung“ unter einem Ex-Militär, die die Gewerkschaften nachhaltig „kastrierte“, um die vorab gemachten IWF-Kreditbedingungen umsetzen zu können. Die organisierte Arbeiterschaft in der Türkei leidet bis heute unter der Verfassung, die die Militärs damals durchdrückten und welche bis heute gültig ist. „Bis zum Militärputsch von 1980 waren 85 Prozent aller Arbeiter im Textilsektor organisiert. Heute sind es zwei Prozent. […] Die Militärs wollten eine gewerkschaftsfreie Gesellschaft schaffen, und das ist ihnen gelungen“, erklärte Kazim Dogan vom Gewerkschaftsverband DISK vor wenigen Wochen.   Die Rolle der Streitkräfte, eine der Hauptstützen der kemalistischen Türkei vor Erdoğans Regierungsantritt, wurde mit Zuckerbrot und Peitsche beschränkt. Einerseits wurden in Prozessen wie dem Energekon-Gerichtsverfahren viele Ex-Militärs und Militärs abserviert und andererseits verkaufte die AKP-Regierung im Jahr 2005 einen Anteil von knapp 50 Prozent des Unternehmens Erdemir für fast 2,8 Milliarden US-Dollar an den Pensionsfonds der türkischen Streitkräfte OYAK (Ordu Yardımlaşma Kurumu). Diese Privatisierung des damals zwölftgrößten Rohstahlproduzenten Europas war weltweit die größte Privatisierung im Stahlbereich im Jahr 2005. Mit solch gezielten Privatisierungen sollten die Militärs in den neoliberalen Boom eingebunden werden.   Das internationale Kapital zeigte sich erfreut über die neuen Geschäftsmöglichkeiten und den neuen Kurs in der Innenpolitik (Islamisierung und weitere Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten) und auch der Außenpolitik. Auf internationaler Bühne ging die Türkei im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends zu einer neo-osmanischen Politik über, die über historische, kulturelle und religiöse Bande den türkischen Einfluss auf dem Balkan und in der arabisch-muslimischen Welt ausbaute und auch weiterhin ausbaut. Das betrifft unter anderem die aggressive Politik gegen die Republik Zypern, mit der die Türkei bisher eine Lösung der Zypern-Frage verhindert hat. Hier haben NATO und Bundesregierung mit ihrer Zusage zur Unterstützung bei der Luftabwehr die Türkei in ihrem Eskalationskurs bestärkt. Der Patriot-Einsatz ist teuer und gefährlich und das Gegenteil von verantwortungsvoll.   Die jüngst aufgekommene Kritik an Erdogan und den Zuständen in seinem Land aus den Reihen von CDU/CSU, SPD und Grünen ist jedoch heuchlerisch. Die brutale Polizeigewalt in der Türkei gegen freiheits- und friedensliebende Demonstranten mit sieben Toten und über 7.000 Verletzten, die Unterdrückung von Aleviten, Kurden und anderen Minderheiten, die Angriffe der AKP auf Gewerkschaftsrechte und die aktuellen Säuberungsaktionen im Polizei- und Justizapparat, um Ermittlungen gegen die Regierung zu unterbinden, blieben folgenlos für die Beziehungen. Stattdessen haben Bundesregierung und EU-Kommission die Türkei im letzten November mit der Eröffnung eines neuen Beitrittskapitels für diesen Kurs sogar noch zu einem „Weiter so“ ermuntert. Zu wichtig sind offenbar die Interessen der Großkonzerne an weiteren Privatisierungen und Marktöffnungen im Zuge des EU-Beitrittsprozesses und an der Türkei als strategischer Partner gegen Syrien sowie bei der Abwehr von Flüchtlingen. Grüne, SPD und CDU/CSU haben das ausdrücklich begrüßt. DIE LINKE unterstreicht ihre Forderung nach sofortiger Einstellung der militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Kooperation mit der Regierung und dem Stopp von Rüstungsexporten in die Türkei. Zudem fordert DIE LINKE den sofortigen Abzug der Patriot-Raketen aus der Türkei, mit denen Erdogans aggressiver außenpolitischer Machtanspruch in der Region unterstützt wird.

Neue Rheinische Zeitung, 28. Mai 2014