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Ohne Minderheitenrechte keine Opposition

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Einigen sich CDU, CSU und SPD auf eine große Koalition, könnten sie den Bundestag nach Belieben dominieren. Das Machtgefüge zwischen Regierung und Opposition im Bundestag wäre aus den Fugen. Nach geltenden Regeln stünden der Opposition aus LINKEN und Grünen fundamentale Minderheitenrechte nicht mehr zu Verfügung.

LINKE und Grünen kommen in der 18. Legislatur gemeinsam auf 20 Prozent der Stimmen. Sie könnten weder Gesetze vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen noch Untersuchungsausschüsse oder Enquete-Kommissionen einsetzen. Dafür sind 25 Prozent der Stimmen im Bundestag notwendig. Um eine Sondersitzung des Bundestags zu verlangen, braucht es sogar ein Drittel der Stimmen (Art. 39 GG).

Gesetze vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen

Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, hält insbesondere die Möglichkeit, Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, für unverzichtbar. Sonst könne man den Bürgerinnen und Bürgern nur sagen, sie müssten klagen. Auf dem vorgeschriebenen Instanzenweg könne es lange dauern, bis eventuell das Bundesverfassungsgericht entscheidet.

Das kann sich nachteilig für die von dem Gesetz Betroffenen auswirken. So zum Beispiel im Streit um die Regelsatzhöhe von Hartz IV. Die Fraktion DIE LINKE versuchte in der vergangenen Legislatur vergeblich über eine Normenkontrollklage die große Hartz-Koalition aus CDU, CSU, SPD und Grüne zu Fall zu bringen. Da DIE LINKE nicht über 25 Prozent der Abgeordneten verfügte, hätte sie für eine Normenkontrollklage Stimmen von SPD oder Grünen benötigt, um die Klage auf den Weg zu bringen. Die Betroffenen standen im Regen. Und wie wichtig Untersuchungsausschüsse für die öffentliche Aufklärung für das Fehlverhalten von Regierungshandeln oder anderen Einrichtungen sind, zeigten in der vergangenen Legislatur die Untersuchungen zum "Euro Hawk" und zur Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund".

Kaum Redezeit für die Opposition

Nicht minder brisant sind die Auswirkungen auf die Redezeit. Nach den Regeln der vergangenen Wahlperiode würde bei einer einstündigen Debatte im Plenum ein Großteil der Redezeit auf CDU/CSU und SPD entfallen. Für LINKE und Grüne blieben kaum mehr als zehn Minuten übrig. Eine öffentlichkeitswirksame Kritik der Regierungsarbeit und die Diskussion von Alternativen wären stark eingeschränkt. "Da die Kanzlerin die Reden der Opposition regelmäßig zu ausgedehnten Spaziergängen durch den Plenarsaal nutzt, müsste sie diese Aktivitäten künftig extrem einschränken", kommentiert Gregor Gysi diesen Sachverhalt lakonisch. "Aber im Ernst: Natürlich müssen die Regelungen so angepasst werden, dass Abgeordnete der Opposition angemessen lange auf das reagieren können, was seitens der Regierungsfraktionen im Parlament gesagt wird", so Gysi.

Die Arbeit in den Ausschüssen ist außerdem betroffen. Wer wie viele Experten zu Anhörungen einladen kann, darüber entscheidet die Fraktionsgröße. Experten unterstützen in der Regel die Position der einladenden Fraktion. Die Übermacht einer möglichen großen Koalition könnte somit zur Verödung der Ausschussarbeit beitragen.

Lammert erinnert an "parlamentarische Kultur"


Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erinnerte am Dienstag in seiner Rede während der konstituierenden Sitzung des Bundestags an die Bedeutung der Minderheitenrechte: "Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen." Sollte es zu einer großen Koalition kommen, plädierte Lammert für entsprechende Änderungen der Geschäftsordnung des Bundestages oder in einschlägigen gesetzlichen Regelungen – sofern dies möglich sei.

Union und SPD scheinen dazu bereit zu sein – aber die konkrete Ausgestaltung ist bislang völlig offen. Gregor Gysi ist zwar zuversichtlich, dass unter Leitung von Bundestagspräsident Lammert eine rechtsverbindliche Lösung gefunden wird. In einem Brief an Lammert hat Gysi jedoch unlängst davor gewarnt, dass eine Opposition ohne Minderheitenrechte das parlamentarische System schwächen, "womöglich extremistische Parteien stärken und die Wahlbeteiligung senken" würde. Falls man sich wider Erwarten nicht verständigen könne, kündigte Gregor Gysi in einem ZDF-Interview bereits eine Klage beim Bundesverfassungsgericht an, um die Rechte der Opposition zu schützen.

linksfraktion.de, 23. Oktober 2013