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Neuer Flugzeugträger

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Der Westen sieht seine Mission im Afghanistan-Krieg als erfüllt an. Entstanden ist ein Brückenkopf für Operationen in ganz Zentralasien.

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages



Viel wurde diskutiert und spekuliert über die Gründe, die hinter der Intervention in Afghanistan stehen. Klar ist: Die Taliban waren bereit, Osama bin Laden auszuliefern, die Frauen tragen heute noch ihre Burkas. Darum ging es offensichtlich nie. Auch bei den »Rohstoffreserven im Wert von einer Billion Dollar«, die das US-Verteidigungsministerium 2010 plötzlich gefunden haben wollte, dürfte es sich um eine Beruhigungspille für die Heimatfront gehandelt haben. Bleibt noch die Pipeline vom Kaspischen Meer über Afghanistan an die pakistanische Küste des Indischen Ozeans, die lange vor der NATO-Invasion geplant wurde. Bis durch sie einmal verläßlich Öl fließt, werden im besten Falle noch Jahrzehnte vergehen. Dennoch ist der Hinweis auf sie richtig. Bereits 2008 sah Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen mit Rückgriff auf den früheren US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski eine wesentliche Triebfeder des Krieges in Afghanistan darin, einen Brückenkopf der NATO nahe der ölreichen Kaspi-Region und an der Südflanke Rußlands aufzubauen – eine Art Flugzeugträger im riesigen eurasischen Landmassiv. Diese Deutung der Interessen hinter dem Waffengang wird dadurch gestützt, daß US-Außenministerin Hillary Clinton am 7. Juli bei ihrem Überraschungsbesuch in Kabul Afghanistan zum »wichtigen Verbündeten außerhalb der NATO« erklärte. Das deutet darauf hin, daß die Mission trotz aller Opfer und der desolaten Lage in Afghanistan aus westlicher Sicht erfolgreich war.
  Geld und Gegenleistung
Die meisten Medien berichteten zum neuen Status Afghanistans lediglich, daß Kabul künftig leichter in den USA Waffen erwerben könne. Das geht allein deshalb am Kern der Sache vorbei, weil die Regierung von Hamid Karsai in absehbarer Zeit nicht einmal den Sold ihrer von der NATO ausgebildeten Soldaten und Polizisten selbst zahlen kann. Den Status als Hauptverbündeter der USA (außerhalb der NATO) teilt sich Afghanistan jetzt u.a. mit Australien, Japan, Israel und Ägypten. Israel und Ägypten erhalten in dieser Reihenfolge derzeit die umfangreichste US-Militärhilfe. Neben gemeinsamen Übungen und der Ausbildung von Soldaten bedeutet das vor allem beträchtliche Summen, die im Falle Ägyptens sogar den Großteil des Rüstungshaushaltes ausmachen. Hinzu kommt, daß in großem Umfang (allerdings nur bei US-Rüstungsfirmen) auf Kredit eingekauft werden kann. Würde etwa Ägypten der Status als »wichtiger Nicht-NATO-Verbündeter« plötzlich aberkannt und würden die gegenwärtigen Zahlungen von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich eingestellt, wäre der Militärapparat – und damit der Staat – mit einem Schlag pleite.   Die Gegenleistungen des ägyptischen Militärs an die USA sind u.a. dank Wikileaks bekannt. Ganz oben steht dabei das Festhalten am Vertrag von Camp David von 1978, also dem Frieden mit Israel, der auch durch auf dem Sinai stationierte US-Soldaten gesichert wird. Von herausragender Bedeutung sind aber auch Überflugrechte und gesicherte Passagen durch den Suezkanal. Das ägyptische Militär zeigte sich auch durch die Entsendung von »Friedenstruppen« in den benachbarten Sudan erkenntlich - just zu dem Zeitpunkt, als die USA den Druck auf Khartum erhöhten, um die Abspaltung des Südsudan zu ermöglichen. In Kairo unterhält das US Central Command ein großes »Büro für Militärkooperation«.
  Zweites Standbein
  Dabei handelt es sich im Vergleich mit Afghanistan bei Ägypten noch um einen verhältnismäßig starken Staat. Die afghanische Armee, die Polizei und die Geheimdienste wurden von der NATO aufgebaut und werden auf absehbare Zeit von ihr und ihren Verbündeten bezahlt. Dem diente die sogenannte Geberkonferenz vom 8. Juli in Tokio. Verbindungsleute der NATO und der USA sitzen in sämtlichen Kommandozentralen und im Verteidigungsministerium. Somit ist undenkbar, daß Afghanistan der NATO Stationierungs-, Lande-, Überflug- oder – wie bis vor kurzem etwa Pakistan – Passagerechte verweigert, selbst wenn Karsai eines Tages fallengelassen werden sollte. Das bedeutet: Afghanistan wird zukünftig als Basis für offene und vor allem auch verdeckte Operationen in der gesamten Region dienen. Es grenzt neben den zentralasiatischen Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan und damit dem unmittelbaren Einflußbereich Rußlands, auch an Pakistan, den Iran und an China. Die USA schaffen sich somit ein zweites, bilaterales Standbein für ihr Engagement in diesem Bereich neben der im Mai beim NATO-Gipfel in Chicago mit unbestimmtem Zeithorizont beschlossenen ISAF-Nachfolgemission. Diese soll insbesondere »dem Training, der Beratung und der Unterstützung der ANSF (afghanischen Sicherheitskräfte – d.Red.), einschließlich der afghanischen Spezialkräfte« dienen.   Von der Aufgabenbeschreibung her unterscheidet sich die geplante Nachfolgemission kaum von ISAF, sollte es doch auch dabei vornehmlich um die »Sicherheitsunterstützung« gehen. Zukünftig sollen lediglich weniger ­NATO-Soldaten präsent sein und von den ANSF geschützt werden. Sie wurden von Human Rights Watch zutreffend als »Magneten für Angriffe von Aufständischen« bezeichnet. Bereits heute tragen sie den Löwenanteil der Verluste, wobei die NATO über Opfer aus ihren Reihen keine (offiziellen) Statistiken führt.
  Deutsche Beteiligung
Bereits im Rahmen von ISAF werden von Afghanistan aus Aufklärungsflüge und »gezielte« Tötungen in den Nachbarstaaten vorgenommen. Nach dem Abschuß eines US-Transporthubschraubers des Typs CH-47 »Chinook« am 6. Oktober 2011 wurde z.B. bekannt, daß das Kommando der Navy Seals, das ein knappes halbes Jahr zuvor im pakistanischen Abbottabad Bin Laden exekutiert hatte, nach wie vor (oder wieder) in Afghanistan stationiert war. Das mag zwar wenig überraschen, bezeichnend ist jedoch, daß die Information keinerlei Debatte darüber auslöste, wie die Durchführung von Kommandoaktionen in Nachbarländern mit dem vom Sicherheitsrat erteilten Mandat für die ISAF-Truppen zu vereinbaren sei. Die nun erklärte strategische Partnerschaft zwischen Washington und Kabul kann auf Grund ihres bilateralen Charakters solche Debatten auch zukünftig neutralisieren – den Beziehungen zwischen Afghanistan und seinen Nachbarstaaten und damit auch der Aussicht auf eine friedliche Entwicklung im Land selbst dürfte sie hingegen abträglich sein.   Auch ansonsten haben die USA unter dem ISAF-Mandat umfangreich Voraussetzungen für ihr zukünftiges Engagement in der gesamten Region geschaffen. So wurden mehr oder weniger verdeckt operierende Einheiten und Milizen aufgebaut und hierfür unter den Afghanen Personal rekrutiert. So sollte etwa mit dem AP3-Programm (»Afghan Public Protection Program«) eben der Teil der Bevölkerung erfaßt und formal der Kontrolle des Innenministeriums, in der Praxis jedoch dem US-Militär unterstellt werden, der sich ansonsten aufgrund von Geschlecht, Alter und Fähigkeiten dem Widerstand hätte anschließen können. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das »Critical Infrastructural Program«, bei dem es nicht darum geht, Brücken und Straßen aufzubauen, sondern zivil agierende Sicherheitsverbände, mit denen auch die Soldaten der Bundeswehr zusammenarbeiten. Laut Aussagen deutscher Militärs machen gerade die Angehörigen dieser Gruppen oft keinen Hehl daraus, daß sie gegenwärtig nur wegen der Bezahlung mit der ISAF und nicht mit den Taliban zusammenarbeiten.   Eine zentrale Bedeutung bei grenzüberschreitenden Aktivitäten dürfte jedoch in Zukunft dem afghanischen Geheimdienst zukommen. Er wurde selbst von der vor Ort tätigen UN-Mission UNAMA schon für seine »robusten« Verhörmethoden kritisiert. An seinem Aufbau waren auch Deutschland und der Bundesnachrichtendienst (BND) beteiligt. Wie sich in der Antwort auf eine schriftliche Frage von mir an die Bundesregierung herausstellte, wurde der BND dafür aus dem Etat des Auswärtigen Amtes mit 3,1 Millionen Euro querfinanziert. Der entsprechende Haushaltstitel im vom Bundestag abgesegneten Haushalt nannte sich »Leistungen im Rahmen der Stabilitätspakte Afghanistan und Südosteuropa«. Weitere Mittel erhielt der BND »für die materielle Ausstattung ausländischer Nachrichtendienste« aus dem Haushaltstitel zur »Drittstaatenunterstützung der Terrorismusbekämpfung«. Von Afghanistan aus werden in Zukunft mit deutscher Beteiligung Geheimdienstkriege in der ganzen Region geführt werden.

Junge Welt, 21. Juli 2012