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Mehr tun und sich nicht alles bieten lassen

Interview der Woche von Gregor Gysi,

Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über den Wert von Arbeit, die Vorstellung von Union und SPD vom Mindestlohn, die Spaltung des Arbeitsmarktes, vermeintlich von der Krise profitierende bundesdeutsche Arbeitnehmer und mit Antworten auf Merkels Spardiktat
 

Mehrere hunderttausend Bürgerinnen und Bürger kamen zu den knapp 420 Veranstaltungen der Gewerkschaften am diesjährigen 1. Mai. DIE LINKE war vielerorts mit dabei. Welche Forderungen standen dabei im Mittelpunkt?


Gregor Gysi: Vor allem die Solidarität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa, die von Lohn- und Rentensenkungen und der Kürzung von sozialen Leistungen als Folge der so genannten Eurokrise, die in Wirklichkeit eine Fortsetzung der Bankenkrise ist, betroffen sind. Die Agenda 2010 Gerhard Schröders mit Hartz IV, prekärer Beschäftigung und der Privatisierung sozialer Leistungen dient als Vorbild für Griechenland und andere Länder, die den europäischen Zusammenhalt gefährden. Mit dem Fiskalpakt setzt die Mehrheit der europäischen Regierungen zum Schuldenabbau auf drastische Kürzungen öffentlicher Ausgaben dank der Übernahme der deutschen Schuldenbremse. Wir dagegen wollen kein Hartz IV-Europa, sondern ein demokratisches und soziales Europa, bei denen vor allemdie Verursacher der Krise, die Reichen und Vermögenden die Kosten der Krise bezahlen müssen.


Aus guter Arbeit wird seit Jahren immer öfter prekäre Arbeit. Knapp acht Millionen Menschen in Deutschland arbeiten inzwischen im Niedriglohnbereich. Wie steht es um den Wert der Arbeit?

Der heutige Kapitalismus widerspricht selbst seinem Klassiker Adam Smith, der den Wert der Arbeit, den Lohn, an der Deckung der grundlegenden Bedürfnisse eines Menschen und einer Familie nach Wohnung, Kleidung, Ernährung und kultureller Teilhabe maß. All das gilt für die knapp 8 Millionen Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr. Das verstößt gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, das heißt gegen die Würde eines Menschen. Deshalb fordert DIE LINKE seit langem einen Existenz sichernden flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro ebenso wie eine soziale Grundsicherung für Bedürftige und eine steuerfinanzierte soziale Grundrente in Höhe von 900 Euro.

Welche Entwicklung hat dazu geführt, dass die Wertschätzung der Arbeit derartig abgenommen hat?


Durch die Agenda 2010 und Hartz IV, eingeführt von der rot-grünen Bundesregierung. Denn wenn die soziale Grundsicherung massiv gesenkt wird, dann übt das auch Druck auf die Löhne aus, die ebenfalls sinken.

SPD und Grüne haben sich doch Anfang des Jahres im Bundestag für einen Mindestlohn eingesetzt ...

... und damit die Forderung der LINKEN übernommen, was zu begrüßen ist. Aber Vorsicht! Da die SPD es vorzieht, lieber mit der Union zu regieren, wird es einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn höchstens nach deren Vorstellungen geben. Das Land Berlin votierte unter einem rot-roten Senat im Bundesrat für einen Mindestlohn. Jetzt muss sich Herr Wowereit der Stimme enthalten, weil er mit der Union regiert.

Die Spaltung des Arbeitsmarktes schreitet indes voran. Niedriglohn, Leiharbeit, Werkverträge und immer weniger Festangestellte – das alles gibt es mitunter in einem einzigen Unternehmen. Welche Wirkung hat das auf Arbeitnehmer?



Zum einen ist prekäre Beschäftigung in allen seinen Formen – als Leiharbeit, befristete Tätigkeiten, erzwungene Teilzeit, Minijobs oder als Aufstockungen – demütigend und diskriminierend, weil sie nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts und damit auch nicht zur Teilhabe am kulturellen und politischen Leben ausreicht. Niedriglöhne gefährden auch die Demokratie, weil sich diese Menschen von der Politik insgesamt, einschließlich auch der LINKEN, keine Veränderungen und Verbesserungen ihrer Lage mehr erwarten. Dann bleiben sie lieber zu Hause.

Sind die Gewerkschaften mit der Situation überfordert oder zu wenig kämpferisch?


Für meinen Geschmack könnten nicht nur wir, sondern auch die Gewerkschaften durchaus etwas rebellischer agieren. Dass ver.di beispielsweise komplett auf ihre Forderung nach einer Erhöhung der Löhne um 200 Euro in Form eines Festbetrages verzichtete und dass Gewerkschaften zum Teil Tarifverträge mit Unterschieden zwischen Ost und West unterschreiben, müsste nicht sein. Andererseits darf aber auch nicht ignoriert werden, dass der Schaden, den Rot-Grün mit Hartz IV anrichtete, auch die Gewerkschaften in den Verhandlungspositionen schwächte.

Einmal unten, immer unten. In der vergangenen Woche machte die Nachricht die Runde, dass immer Menschen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld I mit Hartz IV aufstocken müssen. Sie haben schlicht zu wenig verdient. Dann wartet der nächste Job ganz unten. Ludwig Erhards Losung vom "Wohlstand für alle" scheint längst passé.

Das sind die unmittelbaren Folgen der Ausweitung prekärer Beschäftigung. Ein Zehntel von Menschen, die Arbeitslosengeld I beziehen, sind auf zusätzliche Leistungen aus Hartz IV angewiesen. Man kann sich darüber hinaus vorstellen, welche Auswirkungen diese Niedriglöhne auf die spätere Rentenhöhe haben werden. Eine massive Zunahme von Altersarmut ist vorprogrammiert. Deshalb brauchen wir soziale Mindestsicherungen und Mindestlöhne, eine Erhöhung der Renten und die Rücknahme der Rentenkürzungen der letzten Jahre.

Die Bankenkrise in Europa wird immer stärker zu einer sozialen Krise. Die Arbeitslosigkeit in Spanien liegt zum Beispiel bei 23,6 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei fast 50 Prozent. Im Vergleich dazu steht Deutschland relativ gut da. Profitieren die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig von der Krise?



Zumindest ein kleiner Teil von ihnen, die von den hohen Exporterlösen profitieren. Aber auch das ist nur kurzsichtig gedacht. Die drastischen Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen in den anderen europäischen Ländern werden als Folge zu schwächerer Nachfrage aus Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Irland führen und damit auch zum Rückgang unserer Ausfuhren. Wenn jedoch die dortige Nachfrage zurückgeht, setzt eine neue Runde des Wettlaufs nach unten ein: Mit dem Argument, nur wenn auch bei uns die Löhne und Renten weiter sinken, könnten wir wieder mehr, weil preiswerter exportieren, werden Frau Merkel und Co auch bei uns neue soziale Kürzungsrunden veranstalten.

Sie waren kürzlich in Griechenland. Verstehen Sie dann einen deutschen Arbeitnehmer, der angesichts der teilweise dramatischen Situation in anderen europäischen Ländern sagt: Alles richtig gemacht, Frau Merkel?

Nein, denn Vergleiche hinken immer. Selbstverständlich geht es im Schnitt deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser als ihren griechischen Kolleginnen und Kollegen. Ebenso geht es griechischen Beschäftigten im Schnitt immer noch besser als denen in Rumänien oder Bulgarien. Aber ein deutscher Arbeitnehmer hat seine Besserstellung, die ja nur sehr relativ ist, teuer bezahlt. Mit Reallohnsenkungen von 4,5 Prozent in den letzten 10 Jahren. Mit Renten- und Sozialkürzungen von 8,5 beziehungsweise 5 Prozent. Mit Teilprivatisierungen bei der Gesundheit, der Pflege und den Renten.

Ungleichheit nach deutschem Modell soll nun zum gesellschaftlichen Funktionsprinzip für ganz Europa werden. Ein rigides Spardiktat soll eingeführt werden. Das Finanzkapital freut es, solange es keinen Widerstand gibt. Wer kämpft hier eigentlich gegen wen? 


Ungleichheit gehört zum Funktionsprinzip des Kapitalismus und zum Grundpfeiler des Neoliberalismus. Jener nach wie vor dominanten Wirtschaftsideologie - nicht  Theorie -, die alle Zähmungen und Regulierungen des Marktes durch staatliche Akteure für Teufelszeug hält. Aber dieses Modell, das sich zwar durch die Bankenkrise in der Praxis bis auf die Knochen blamierte, bleibt weiter dominant und damit auch die Diktatur der Finanzmärkte und -mächte. Hier ist insbesondere DIE LINKE gefragt, nachdrücklich Druck auszuüben, um das Primat der Politik über die Wirtschaft und die Banken wiederherzustellen.


Die Abhängigkeit der Staaten von den Finanzmärkten scheint längst so groß, dass die Menschen den Eindruck haben: Wir können wählen, wen wir wollen, am Ende kommt immer dasselbe raus. Können Sie den Bürgerinnen und Bürgern Mut machen?

Ja. Gerade erst hat der 1. Mai erneut gemeinsame Solidarität und den Zusammenhalt im wahrsten Sinn des Wortes demonstriert. Und wenn die Beteiligten an den Demonstrationen und Kundgebungen aus dem 1. Mai mitnehmen, dass weit mehr getan werden muss und man sich nicht länger alles bieten lassen darf.

linksfraktion.de, 2. Mai 2012