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Handlungsreisende

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Zum Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei.

Als Handlungsreisende für die Interessen des deutschen Kapitals hat sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel letzte Woche auf den Weg ihres zweiten Türkei-Besuchs gemacht. Auf dem Programm der zweitägigen Reise Merkels standen unter anderem das zum Jahresende auslaufende Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei, die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen, die EU-Beitrittsverhandlungen, die Sanktionspolitik gegen den Iran, und das von der EU mitgeplante Milliardenprojekt Nabucco, eine Erdgasleitung, die unter Umgehung Russlands Erdgas aus dem Kaukasus nach Mitteleuropa liefern soll.

Geht es nach Merkels Willen, soll der Export in die Türkei weiter ausgebaut und die Türkei noch weiter ausgeplündert werden, um die Profite des deutschen Kapitals zu steigern. Im Rahmen der Gemeinsamen Zollunion seit 1996 exportiert Deutschland immer mehrWaren in die Türkei, als es von dort importiert. 2008 standen in der Türkei 9,7 Mrd. Euro Ausfuhren über 15,1 Mrd. Euro an Einfuhren gegenüber. Für 2009 beklagt die Bundesregierung einen leichten Rückgang des Handelsvolumens. Das soll sich schnell wieder ändern. Im Zuge der Liberalisierungen in den 80er Jahren und der EU-Beitrittsverhandlungen wurden rund 300 staatliche Betriebe in der Türkei privatisiert. Neben den Branchen Textil, Eisen und Stahl, Mineralölraffinerien und Elektrizität sind zum Beispiel auch das staatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol TEKEL privatisiert worden. Aktuell kämpfen in der Türkei die rund 12 000 TEKEL-Arbeiterinnen und -Arbeiter gegen die Massenentlassungen im Zuge der Privatisierung.

Für das Jahr 2010 sind weitere Privatisierungen geplant: Zuckerproduktion und langfristig auch die Wasserbetriebe. Entsprechend wurde die Bundeskanzlerin durch eine Wirtschaftsdelegation begleitet. Dieser gehörten auch die Vorstandsvorsitzenden der mörderischen Rüstungsunternehmen Rheinmetall AG, Diehl Stiftung & Co. KG und EADS an. Auch die Chefs von Berlinwasser International AG, der RWE AG, EnBW AG, Deutschen Telekom AG und Deutschen Bahn AG wollten sich im Rahmen der Merkelschen Handlungsreise Aufträge bei den anstehenden Privatisierungsprojekten der türkischen Regierung sichern.

Diese einseitig auf wirtschaftliche Interessen gestützte Türkeipolitik, insbesondere als Absatzmarkt für deutsche Produkte, teilt die Bundesregierung mit der SPD und den Grünen. So klagte der SPD-Chef Gabriel, dass Merkel mit ihrer Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei die wirtschaftlichen Interessen opfere. Die Panik ist jedoch fehl am Platz. Ob „privilegierte Partnerschaft" oder EU-Vollmitgliedschaft, das deutsche Kapital wird in jedem Falle profitieren. Die Verlierer sind in jedem Falle die Menschen in der Türkei. Denn genauso wenig wie die SPD in ihren elf Regierungsjahren zeigt auch Merkel Interesse an der Verbesserung der sozialen und politischen Verhältnisse der Türkinnen und Türken in der Türkei wie auch in Deutschland. Eine Befürwortung eines EU-Beitritts der Türkei unter dem Zeichen der Türkei- und Menschenfreundlichkeit, wie sie auch immer wieder gern von Sozialdemokraten und Grünen ins Feld geführt wird, ist zynisch. Forcieren sie doch unverhohlen die Interessen des deutschen Kapitals, wie jüngst die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei anlässlich der Beratung des Antrags der Linksfraktion „Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei" am 25. März im Bundestag als eine „Frage von enormer strategischer Bedeutung" erklärt hat. Dass hier mit „enormer strategischer Bedeutung" nicht die sozialen und politischen Menschenrechte gemeint sind, müsste eigentlich auch dem letzten linken Zeitgenossen einleuchten. Man gibt sich antirassistisch und möchte aber lediglich die Profitinteressen der deutschen Industrie befördern. Auch deswegen sollten nicht die Wirtschaft oder die Regierungen, sondern vor allem die Bevölkerungen in der Türkei und der Europäischen Union über einen EU-Beitritt der Türkei entscheiden.

Von Sevim Dagdelen

unsere zeit, 9. April 2010