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»Geltendes Recht wird gebogen«

Im Wortlaut von Ulrich Maurer,

Bahnprojekt »Stuttgart 21« soll angesichts wachsenden Widerstands rasch durchgepeitscht werden. Ein Gespräch mit Ulrich Maurer

Der sogenannte Lenkungskreis in Stuttgart - bestehend aus Vertretern des Bundes, der Deutschen Bahn AG, der Landesregierung und der Stadt - hat ein weiteres Mal verkündet, daß »Stuttgart 21« gebaut werden würde. Als Baubeginn wird der Februar 2010 genannt. Halten Sie den Termin für realistisch?

Ich glaube, es geht den Befürwortern des Projekts jetzt darum, die Sache durchzupeitschen, bevor der Widerstand in der Bevölkerung übermächtig wird. Da greift man auch schon mal zu unrealistischen Terminen.

Das Projekt »Stuttgart 21« wird seit 1994 von einer breiten Koali­tion vor Ort, im Land und bundesweit getragen. Es gibt kein anderes Mammutprojekt vergleichbarer Art, das so lange und gegen so viel Widerstand durchgezogen wird. Was sind Ihrer Ansicht nach die wesentlichen Gründe für diese Hartnäckigkeit?

Ich habe in den Anfängen in diesem Projekt durchaus auch einmal eine städtebauliche Chance gesehen. Den damaligen Siedlungsdruck auf das Bahngelände zu lenken, anstatt ökologisch wertvolle Freiflächen zu opfern, hatte ja eine vordergründige Logik. Mittlerweile haben sich aber die Zeiten gründlich geändert. Die Gegner des Projekts haben einen Alternativvorschlag entwickelt, der kaum weniger Wohnbebauungsmöglichkeiten eröffnet. Unter Gesichtspunkten des Verkehrs war das Projekt ohnehin immer fragwürdig. Ich glaube, den Befürwortern geht es schon lange nicht mehr um Sachargumente, sondern um Machtdemonstration und Prestige. Die Unfähigkeit von Provinzfürsten, Fehlentscheidungen zuzugeben, ist ein weit verbreitetes Phänomen.

Sie sind in Sachen »Stuttgart 21« kein unbeschriebenes Blatt. Als führender Politiker der baden-württembergischen SPD traten Sie gut ein Jahrzehnt lang, bis Mitte 2005, für den Kellerbahnhof ein. Was hat sich geändert?

Den Zeitraum haben Sie nicht ganz richtig angegeben. Meine Wandlung vom Saulus zum Paulus hat schon deutlich früher begonnen. Heute wird dieses Projekt von einem Land und einer Stadt durchgezogen, die glauben, ihrer Bevölkerung Privatisierung und Sozial­abbau zumuten zu können, nachdem sie die öffentlichen Gelder auf dem Altar von Banken und Spekulanten verbrannt haben. Die Stadt Stuttgart hat nach eigenen Angaben allein bei ihren Schulgeländen einen Instandhaltungsrückstau von 327 Millionen Euro. Sie kürzt wie auch das Land Baden-Württemberg derzeit massiv bei sogenannten Freiwilligkeitsleistungen. Wer in solchen Zeiten Milliarden in ein fragwürdiges Prestigeprojekt verbuddelt, während gleichzeitig der schienengebundene Verkehr durch fehlende Elektrifizierung, fehlenden Streckenausbau und immer mehr sogenannte Langsam-Fahrstellen darniederliegt, ist nicht ganz bei Sinnen.

Laut Bundesrechnungshof handelt es sich bei »Stuttgart 21« eigentlich um ein Projekt des Bundes, da mehr als die Hälfte der Kosten vom Bund getragen werden würde. Der Rechnungshof verweist auf den Verkauf von Bahngelände, wo die Bahn die Einnahmen auf ihr Konto bucht und damit »Stuttgart 21« kofinanziert, und argumentiert, daß solche Erlöse als Teil der Bundesfinanzierung anzusehen sind. Wie erklären Sie eine solche Differenz in einer entscheidenden Rechtsfrage?

Ich kann sie nicht erklären. Ich glaube, der Durchsetzungswille der Politiker von CDU und SPD, aber auch der organisierte Druck aus der regionalen Wirtschaft sind so groß, daß auch das geltende Recht gegebenenfalls gebogen wird.

In Stuttgart gibt es seit mehreren Wochen Montagsdemos gegen »Stuttgart 21«. Wird man Sie dort sehen?

Ja. Allerdings brennt es in Zeiten der schwersten Krise des Finanzmarktkapitalismus seit Ende der 20er Jahre an allen Ecken und Enden. Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart befinden sich mitten in der massenhaften Vernichtung industrieller Arbeitsplätze. Die Zahl der Armen steigt. Die Bildungsmisere nimmt zu, und die Menschen beginnen sich erst jetzt langsam zu wehren. Ein Abgeordneter der Linken ist deshalb gut beschäftigt, vor allem auch dann, wenn die Entwicklung der eigenen Partei bekanntermaßen nicht völlig widerspruchsfrei verläuft.

Interview: Winfried Wolf

junge Welt, 12. Dezember 2009