Zum Hauptinhalt springen

Fünf Jahre nach dem Putschversuch: Für eine 180-Grade-Wende in der Türkeipolitik

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen


In den vergangenen fünf Jahren hat die Bundesregierung nicht nur tatenlos dabei zugesehen, wie sich die Türkei unter Erdogan nach dem gescheiterten Putschversuch in eine islamistisch-nationalistische Diktatur verwandelt hat, sondern dessen autoritären Kurs auch noch mit Finanz- und Wirtschaftshilfen sowie Waffenlieferungen aktiv unterstützt. Das Bündnis aus islamistischer AKP und faschistischer MHP setzt auf Repressionen im Inland und Völkerrechtsbrüche im Ausland. Höchste Zeit für eine 180-Grad-Wende der deutschen Türkeipolitik!

Der Putschversuch vom 16. Juli 2016 diente der Regierung Erdogans als Blaupause für die Einschränkung von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und die massenweise Verfolgung oppositioneller Regierungskritiker sowie kritischer Journalisten und Menschenrechtler. In Zuge dessen kam es zu Entlassungen, Zwangsversetzungen und Inhaftierungen von Staatsbedienstete. Alleine während des zwei Jahre andauernden Ausnahmezustands wurden 130.000 Staatsbedienstete entlassen, darunter etwa 4.000 Staatsanwälte und Richter, und mindestens 77.000 Menschen verhaftet. Der EU-Erweiterungsbericht aus dem Jahr 2020 hat vor diesem Hintergrund schwerwiegende Rückschritte in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und bei der Unabhängigkeit der Justiz festgestellt.

Die jüngste Verhaftungswelle von Oppositionspolitikern verschärft die Einschränkung demokratischer Grundrechte zusätzlich. Im Februar 2021 wurden über 700 Menschen, darunter Dutzende regionale Vorstandsmitglieder und Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der oppositionellen HDP unter dem Vorwand der vermeintlichen Terrorunterstützung verhaftet. Auf Erdogans Druck hin reichte die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara im März 2021 einen Antrag auf ein Verbot der HDP ein. Nachdem das türkische Verfassungsgericht die Klage im Juni einstimmig annahm, wurde nun ein Verbotsverfahren gegen die HDP eröffnet. Vor dem Hintergrund des von Erdogan geschürten Hasses fand auch der Angriff eines mutmaßlichen Rechtsextremisten auf das Parteibüro der HDP in Izmir statt, bei dem eine Mitarbeiterin der Partei erschossen wurde.

Seehofer hintertreibt "Graue Wölfe"-Verbot

Auch in Deutschland leben Erdogan-Kritiker gefährlich. Das zeigt der Angriff auf den regierungskritischen Journalisten Erk Acarer, der im deutschen Exil ist und in Berlin von einem bewaffneten Schlägertrupp mutmaßlicher Erdogan-Anhänger attackiert und verletzt wurde. Die Bundesregierung muss Schutzsuchende schützen und den Schlägertrupps des türkischen Staates in Deutschland endlich das Handwerk legen. Dazu gehört in erster Linie auch, dass die Bundesregierung ein Verbot der Vereine der faschistischen "Grauen Wölfe" erlässt, damit Verbände wie ADÜTDF und ATIB als Teil des rechtsextremen Netzwerks des türkischen Autokraten Erdogan nicht länger ihr Unwesen in Deutschland treiben.

Die "Grauen Wölfe" verbreiten ein Klima der Angst und tragen mit ihrem extremen türkischen Nationalismus wesentlich zur Polarisierung in Deutschland bei. Mithilfe des Dreiecks aus "Grauen Wölfen", dem von der türkischen Regierung gesteuerte Verein "Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V." (DITIB) und der radikal-islamistischen Millî Görü-Bewegung (IGMG) nimmt Erdogans massiven Einfluss auf muslimische Gemeinden und wirbt bei Migranten aus der Türkei für Unterstützung für das faschistisch-islamistische AKP-MHP-Regime in Ankara. Dieses antidemokratische Netzwerk muss zerschlagen statt staatlich gefördert werden! Doch anstatt den im November 2020 im Bundestag beschlossenen Prüfauftrag umzusetzen, hintertreibt Innenminister Seehofer in unseliger CSU-Tradition das "Graue Wölfe"-Verbot.

Der Grund: Die Bundesregierung scheint ihr enges Verhältnis zum Autokraten Erdogan nicht mit einem "Graue Wölfe"-Verbot gefährden zu wollen. Nur dank deren Mutterpartei, der faschistischen MHP, kann sich die islamistische AKP Erdogans an der Macht halten. Offensichtlich haben die geopolitischen Interessen der Bundesregierung Vorrang vor der Sicherheit der Aleviten, Armenier, Kurden, Griechen und Juden, der Gewerkschafter und Sozialisten sowie aller Andersdenkender, die von den faschistischen "Grauen Wölfen" hierzulande bedroht und angegriffen werden. Ein Skandal!

Vorzugsbehandlung Erdogans beenden

Es ist zynisch, dass Bundesregierung und EU den türkischen Autokraten weiter als Türsteher zur Flüchtlingsabwehr anheuern, obwohl dieser selbst für die Entstehung von Fluchtursachen mitverantwortlich ist. Schließlich hat die Bundesregierung schon im Jahr des gescheiterten Putsches festgestellt, dass Erdogan die Türkei zur "zentralen Aktionsplattform" für islamistische Gruppen im Nahen Osten gemacht hat. Trotz seiner völkerrechtswidrigen Invasionen in Syrien und im Irak, dem Bruch des UN-Waffenembargos in Libyen, den Kriegsdrohungen gegen EU-Mitglied Griechenland im Erdgasstreit im Mittelmeer und der Entsendung islamistischer Söldner nach Aserbaidschan im Bergkarabach-Krieg wird Erdogan jedoch weiter mit EU-Hilfsgeldern in Milliardenhöhe gestützt und hofiert.

In der Europäischen Union blockiert die Bundesregierung ein Waffenembargo gegen die Türkei. Stattdessen befeuert sie mit Waffenlieferungen weiter die neoosmanischen Großmachtphantasien Erdogans. In den Jahren 2018 und 2019 war die Türkei Hauptempfängerland deutscher Kriegswaffenexporte. Eine auf Menschenrechten und Völkerrecht basierte Außenpolitik sieht wahrlich anders aus.

Nach fünf Jahren der Gleichschaltung im Inneren der Türkei und der gewaltsamen Expansionsversuche nach Außen ist es höchste Zeit für eine 180-Grad-Wende in der deutschen Türkeipolitik: Mit der Aufrüstung und Vorzugsbehandlung des Aggressors aus Ankara muss ein für alle Mal Schluss sein! Anstatt in der EU ein generelles Waffenembargo gegen die Türkei zu blockieren, sollte sich die Bundesregierung aktiv dafür einsetzen und die Auslieferung aller Kriegswaffen stoppen sowie sämtliche Exportgenehmigungen widerrufen. Die EU-Beitrittsverhandlungen und Wirtschaftshilfen an die Türkei gehören sofort beendet und die Zollunion auf Eis gelegt. Schluss mit der Kumpanei mit Erdogan!