Ein Bürger schrieb mir unlängst: »Meine Frisörin Frau Bo., mit der ich bei der monatlichen Haarpflege über Gott und die Welt plaudere, sagte neulich, als wir das Stichwort Finanzkrise erwischten: »Mich regt das nicht auf. Ich habe schon jahrelang eine Finanzkrise.« (...) Warum waren die Hunderte von Milliarden Euro, die man jetzt den Banken, den notleidenden Autoproduzenten und anderen Konzernen zuschiebt, vorher nicht da, um diese Finanzkrise der einfachen Leute zu überwinden?«
Warum ist das wohl so? Weil die Regierung mit Milliarden Steuergeldern ganz bewusst ein Wirtschaftssystem bewahren will, in dem viele Millionen Steuerzahler, wie Frau Bo., ihre persönlichen Finanzkrisen nie überwinden können. Dabei ist es dringend erforderlich, dieses Wirtschaftssystem zu verändern.
Wenn Frau Bo. möchte, darf sie sich daran beteiligen. Denn das Grundgesetz schützt nicht den Kapitalismus, sondern die freiheitlich demokratische Grundordnung. Es schützt also eine Ordnung, in der die Menschen frei und demokratisch darüber entscheiden dürfen, in welchem Wirtschaftssystem sie leben wollen. Das kann der Kapitalismus sein, die soziale Marktwirtschaft oder ein demokratischer Sozialismus.
Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes diesen flexiblen Bauplan für die westdeutsche Gesellschaft entwarfen, taten sie das in einer elenden Trümmerwelt. Nichts sprach für ein Wirtschaftswunder. Die westdeutschen Verfassungseltern der Jahre 48/49 rechneten nicht mit Wundern. Sie rechneten mit dem Schlimmsten. Welche Verfassung also gibt man einer elenden Trümmerwelt? Die Bauplanersteller formulierten eine vorsichtige Utopie der sozialen Demokratie. »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« heißt es in Artikel 20, Absatz 1 Grundgesetz, der die tragenden Grundsätze der Gesellschaft festlegt.
Doch die Verfassungseltern präzisierten nicht den Umfang der Pflicht des Staates zur sozialen Aktivität. Sie schufen auch keine einklagbaren sozialen Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger. Vielleicht fehlte es ihnen an Mut. Vielleicht vermieden sie nur Übermut in einer elenden Trümmerwelt.
Die Bundesrepublik wuchs aus der Asche zu einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Doch hinter ihrer östlichen Grenze versprachen Sozialisten ein Paradies der sozialen Gleichheit. Das sorgte für Unmut und auch für Druck. So fanden schließlich die Richter des Bundesverfassungsgerichts doch noch den Mut, der den Verfassungseltern gefehlt hatte. Am 17. August 1956 entwickelten sie eine breite Interpretation des schmalen sozialen Verfassungstextes: »Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern.«
Der geschichtliche Hintergrund des Satzes ist noch bemerkenswerter, als sein Inhalt. Denn die Passage mit sozialistischer Färbung entstammt der Begründung eines Urteiles, mit dem das Gericht die Kommunistische Partei Deutschlands verbot. Hintergrund und Inhalt des Satzes münden in ein Versprechen. Das Gericht versprach der Gesellschaft, dass es unnötig sei, für das erstrebenswerte Ziel sozialer Gleichstellung den demokratischen Staat zu stürzen.
Dies war der Leitgedanke, der lange Zeit in der alten Bundesrepublik Früchte trug. Die Renten stiegen auf ein erträgliches Maß. Die Krankenversorgung verbesserte sich stetig. Die Unterstützungsleistungen für Arbeitslose und Berufsunfähige entwickelten sich günstig. Die Schichten der Gesellschaft wurden durchlässiger. Zu den Lebenslügen der westdeutschen Gesellschaft gehört die irrige Vorstellung, dass man sich diese soziale Entwicklung nur selbst zu verdanken hatte. In Wahrheit war das Ringen um mehr Gleichheit in der Freiheit auch dem Systemwettstreit geschuldet. Der Kapitalismus musste zu seinem Überleben beweisen, dass auch er für sozialen Fortschritt sorgen konnte. Doch die stetig wachsenden sozialen Leistungen der alten Bundesrepublik gründeten sich auf unzählige gerichtliche und gesetzgeberische Interpretationen eines Verfassungstextes, der für sich genommen unverändert winzig blieb. Eine Pyramide der Sozialstaatlichkeit stand auf dem Kopf und suchte Halt in einem winzigen Punkt. Bis sie umfiel.
Im Herbst 1989 stürzten die Menschen in der DDR den real existierenden Sozialismus und damit das Konkurrenzmodell zur Bundesrepublik. Als sie dann die Wiedervereinigung forderten, entschieden sie sich nicht nur für Freiheit. Sie votierten für Freiheit in sozialer Sicherheit. Die geschichtliche Ironie ist bitter: Mit diesem Votum endete der Systemwettstreit und damit anscheinend die Chance, das Votum überhaupt einzulösen.
Das Grundgesetz wurde die Verfassung des geeinten Deutschlands. Doch seine kleinen sozialen Passagen wurden nun plötzlich ganz anders gelesen oder schlicht ignoriert. Ab der Mitte der 90ziger Jahre setzte ein massiver Rückbau sozialer Leistungen ein. Die soziale Utopie der Verfassung errichtete man einst unter den allerschlimmsten wirtschaftlichen Bedingungen. Nun sollten die behaupteten Bedürfnisse einer blühenden Wirtschaft herhalten, um Sozialabbau zu rechtfertigen. Nun gab es Lohnverluste trotz steigender Profite. Nun droht eine weltweite Wirtschaftskrise nach einer globalen Finanzkrise.
Doch vielleicht gibt es eine zweite geschichtliche Ironie. Sie wäre nicht bitter, sondern süß: Vielleicht musste der Kapitalismus den Systemwettstreit gewinnen, um überhaupt überzeugend an sich selbst scheitern zu können. Rosa Luxemburgs bekannter Satz klingt nahezu prophetisch: »Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.« Beides bringt uns nicht weiter - kann man hinzufügen.
Wer weder Unterdrückung noch Ausbeutung duldet, wer eine Welt beschreiben will, die ohne beide auskommt, der muss daran gehen, die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu kombinieren. Die Lehre aus der Geschichte des Grundgesetzes aber ist, dass dieser Ansatz der verfassungsrechtlichen Absicherung bedarf. Soziale Grundrechte wären ein wesentlicher Schritt zu mehr Gleichheit in einer freien Gesellschaft. Sie würden die bürgerlichen Freiheitsrechte in der Verfassung ergänzen und wie diese echte klagbare Ansprüche gegen den Staat schaffen. Der wäre nun verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die bürgerliche Freiheit Allgemeingut wird, indem er den Menschen die materiellen Mittel für den Gebrauch der Freiheit gewährt. Er müsste für Freiheit sorgen: vor existentieller Bedrohung, vor Armut und vor Entwürdigung.
Auch Frau Bo.s Finanzkrise würde dann enden. Nach und nach könnte die Versöhnung von Freiheit und Gleichheit noch weiter voranschreiten. Doch ein solcher Staat könnte seine enormen sozialen Ausgaben nur leisten, wenn er Profite beschneidet und Rieseneinkommen wegbesteuert. Das wäre Frau Bo. wohl ganz recht, ebenso wie der Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler, die Lohnempfänger sind. Ein solcher Staat wäre kein bloßer Überbau kapitalistischer Wirtschaft mehr. Er wäre ganz im Sinne unseres Grundgesetzes ein »sozialer Rechtsstaat« (Artikel. 28 GG). Wer möchte, kann das auch demokratischen Sozialismus nennen. Er steht zur Wahl, für Frau Bo. und alle anderen das nächste Mal am 27. September 2009.
Wolfgang Neskovic, geboren 1948 in Lübeck, war Richter am Landgericht seiner Heimatstadt und am Bundesgerichtshof. Seit 2005 ist er rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.
Neues Deutschland, 23. Mai 2009

Frau Bo. und der demokratische Sozialismus. Das Grundgesetz braucht eine neue Sozialstaatsidee
Im Wortlaut
von
Wolfgang Neskovic,