Zum Hauptinhalt springen

»Euch die Uhren, uns die Zeit« – Einblicke in die parlamentarische Arbeitszeitdebatte

Im Wortlaut von Susanne Ferschl, Sozialismus 7/8 2020,

I. Brennglas Corona

Seit Jahren macht die Arbeitgeberlobby Druck, das Arbeitszeitgesetz zu einem Flexibilisierungs-instrument umzubauen – ungeachtet aller arbeitsmedizinischen Warnungen vor überlangen Arbeitszeiten. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wird, bildet nun den Ausgangspunkt, um bestehende Schutzrechte einzuschränken.

Eine der ersten Maßnahmen der Regierung war der Erlass einer befristeten Covid-19-Arbeitszeitverordnung, die es erlaubt, für Beschäftigte in der kritischen Infrastruktur den Arbeitstag auf bis zu 12 Stunden zu verlängern. Diese überlangen Arbeitszeiten gefährden die Gesundheit der betrof-fenen Beschäftigten und werfen ein Schlaglicht auf die fragmentierte Arbeitswelt: Vor allem Pflegekräfte, aber auch Niedriglohnbeschäftigte wie Verkäuferinnen oder Erntehelfer gelten als „systemrelevant“ und werden von dieser Verlängerung des Arbeitstages direkt erfasst. Hinzu kommt, dass sie durch berufsbedingten Kontakt mit anderen Menschen einem überdurchschnittlich hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Die oft höher bezahlten Wissensarbeiter und Angestellten profitieren hingegen von der Möglichkeit, ihren Arbeitsplatz ins Home-Office zu verlagern und haben ein deutlich geringeres Infektionsrisiko. Hinzu kommen Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit, die unter erzwungener Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich leiden und von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Entstanden ist ein landesweites Versuchslabor für die 60-Stunden-Woche einerseits und die Arbeit im Home-Office andererseits. 

II.  Angriffe auf das Arbeitszeitgesetz

Mit dem 1994 in Kraft getretenen Arbeitszeitgesetz wurde in Paragraf 3 festgeschrieben, dass die tägliche Arbeitszeit 8 Stunden nicht überschreiten darf.  Ausnahmen bis zu 10 Stunden sind zulässig,   aber begrenzt und sind aufgrund von Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit auch zwingend notwendig. Die Arbeitgeber halten diese Regelungen für zu starr und unflexibel. Seit Jahren trommeln sie für eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten sowie die Aufhebung der täglichen Höchstarbeits- sowie Ruhezeiten und fordern ein „grundlegendes Update des Arbeitszeit-gesetzes“ (BDA-Präsident Ingo Kramer). Die Koalition setzte statt Update auf bewährte „Tariföffnungsklauseln“. Dieses Instrument, das in anderen Schutzgesetzen bereits etabliert ist, erlaubt es auch Konservativen, sich positiv auf Tarifbindung zu beziehen. Denn der Kern solcher Regelungen ist, dass die Sozialpartner per Tarifvertrag gesetzliche Schutzstandards unterlaufen können. Diese Form sozialpartnerschaftlicher Einbindung untergräbt die Glaubwürdigkeit von Gewerkschaften und schwächt langfristig ihre Durchsetzungskraft, da jeder Fortschritt faktisch mit einem Rückschritt „erkauft“ werden muss. 

Im Koalitionsvertrag vereinbarten SPD und CDU, „über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen“ zu schaffen, mit denen die Tarifpartner neue Formen der Flexibilisierung erproben können (siehe hierzu Ferschl: 2019). Eine parlamentarische Umsetzung erfolgte bislang nicht. Einzig die FDP legte einen Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes vor. Dieser Gesetzentwurf, der 1:1 die Forderungen aus dem BDA-Positionspapier „Arbeit 4.0“ übernommen hatte, sah die Streichung der täglichen Höchstarbeitszeit und stattdessen die Festlegung einer wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden sowie eine erhebliche Kürzung der gesetzlichen Ruhezeiten auf weniger als 9 Stunden vor. Die Bundesanstalt für Arbeits-schutz und Arbeitsmedizin (BAuA) machte in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf (2019: S. 10) überdeutlich, dass aus arbeitsmedizinischer Sicht eine Begrenzung der Arbeitszeiten auf werktäglich 8 Stunden weiterhin zwingend geboten ist und das Arbeitszeitgesetz gerade nicht starr, sondern bereits ausreichend flexibel ist „wie man an der Vielfalt der betrieblichen Arbeitszeitregelungen sehen kann.“ 

III.  DerEuGH bremst

Die maßgeblich von arbeitgeberseitigen Flexibilisierungswünschen vorangetriebene Debatte im Parlament wurde von einem wegweisenden Urteil jäh unterbrochen. Am 14. Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Schutzfunktion des Arbeitszeitgesetzes gestärkt. Er urteilte, dass zukünftig die komplette Arbeitszeit vollständig erfasst und dokumentiert werden muss, also Beginn, Ende und Dauer. Bisher galt das nur für bestimmte, unter anderem im Mindestlohngesetz genannte Branchen und Überstunden. Trotz des klaren Handlungsauftrags seitens des EuGH gaben das SPD-geführte Arbeitsministerium und das CDU-geführte Wirtschaftsministerium jeweils eigene Rechtsgutachten in Auftrag. Der Wirtschaftsminister versteckte sein Gutachten  monatelang vor Parlament und Öffentlichkeit. Nicht einmal das Arbeitsministerium hatte Kenntnis davon, wie Hubertus Heil in einer Regierungsbefragung angab. Seit der Veröffentlichung ist klar, warum Altmaier so lange mauerte: Er hatte der Wirtschaft Bürokratieabbau versprochen. Aber auch seine Gutachter kamen, wie auch das Gutachten aus dem Arbeitsministerium, zu dem Schluss, dass das Arbeitszeitgesetz ergänzt werden muss.  Auf Grundlage der gutachterlichen Übereinstimmung schien es wahrscheinlich, dass das Arbeitszeitgesetz präzisiert wird. Allerdings ist auch das durch die „Coronakrise“ ins Wanken geraten und die Deregulierer in der Regierung bekommen Rückenwind. Die Arbeitgeberverbände haben die Gunst der Stunde ergriffen. Sie drohen mit Stellenabbau und fordern ein „Belastungsmoratorium“ für die Unternehmen zur Bewältigung der „Coronakrise“. 

Der Südwestmetall-Hauptgeschäftsführer Peer-Michael Dick mahnte Anfang Mai zur Zurückhaltung bei „weiteren gesetzlichen Regeln, die die Unternehmen einengen und belasten“, denn es sei absehbar, „dass es für lange Zeit keinen Spielraum mehr gibt für kostspielige soziale Wohltaten.“ 

Bestandteil dieses „langfristigen Belastungsmoratoriums“ soll auch die vom EuGH angeordnete Erfassung der Arbeitszeiten sein. Südwestmetall warnt vor „überzogenen Regelungen bei der Arbeitszeiterfassung“ und fordert stattdessen „Erleichterungen bei gesetzlichen Regelungen, um mehr Flexibilität in der wirtschaftlichen Erholung zu ermöglichen (z.B. bei den Arbeitszeitregelungen)“. 

IV. Kämpfe ums Arbeitszeitgesetz

Damit dürfte der Kampf um den Schutzcharakter des Arbeitszeitgesetzes erst richtig Fahrt aufnehmen. Die CDU/CSU wird die Gunst der Stunde nutzen und eine weichere, also arbeitgeberfreundlichere Regelung zur Arbeitszeitdokumentation einfordern, etwa  eine Verpflichtung der Beschäftigten, ihre Arbeitszeiten selbstverantwortlich zu dokumentieren. Auch wird sie innerhalb der Koalition den Druck erhöhen, die Experimentierräume aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. 

Eine verbindliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung wäre ein großer Gewinn für den Arbeits- sowie Gesundheitsschutz von Beschäftigten und würde  die Umgehung von Lohnuntergrenzen erschweren. Ist aber eine Regelungslücke gestopft, weichen Unternehmer erfahrungsgemäß auf Alternativen aus. Zu befürchten ist, dass bereits bestehende prekäre Beschäftigungsmodelle weiter an Bedeutung gewinnen – wie zum Beispiel die projektbezogene Vergabe von Aufträgen durch Werkverträge und Scheinselbstständigkeit, kurzum: die Flucht in kaum regulierte und vom Arbeitsschutz befreite Beschäftigungsmodelle. Werkverträge sind ein Paradebeispiel für eine “ergebnis- oder marktorien-tierte Steuerung“ (Urban: S. 71) neoliberaler Arbeitszeitregime. Von Interesse ist einzig und allein das Ergebnis. Diese Entwicklungen zunehmender Entgrenzung und Arbeitsverdichtung sind aber nicht allein ein Symptom selbstständiger Arbeit, sondern greifen auch in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen immer mehr Raum und belasten die Beschäftigten. 

Umso wichtiger ist es, dass die gesetzlichen Regelungen, die die Basis tariflicher Bestimmungen bilden, nicht noch weiter aufgeweicht werden. Abhängige Beschäftigung – ob im Krankenhaus, am Fließband oder am Computer auf der Couch – bleibt fremdbestimmte Arbeit, da der Arbeitgeber das Weisungsrecht behält. Gesetzliche Regelungen – die Begrenzung auf einen 8-Stunden-Tag und verbindliche Ruhezeiten –, die Arbeitgeber zur Rücksicht zwingen, sind auch in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts unerlässlich. Denn auch heute noch ist „das Kapital rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird“ (MEW Bd. 1: S. 285). Dafür spricht, dass ein erheblicher Teil der Beschäftigten mit psychischen Belastungen im Arbeitskontext konfrontiert ist und nicht „davon auszugehen ist, dass die Arbeitsintensität zukünftig in relevantem Maße abnehmen wird“ (BAuA: S. 10). 

Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind unbedingt zu verteidigen, denn sie stellen einen für Alle verbindlichen Schutzrahmen her, „jene Art von Goldstandard der Arbeitszeitgestaltung, der die höchste wissenschaftliche Evidenz für sich beanspruchen kann“ (Urban: S. 76). 

Schon heute bietet das Arbeitszeitgesetz genug Spielraum für Flexibilisierung. Auch Beschäftigte wünschen sich Flexibilität. Der Wunsch von Beschäftigten nach besserer Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf steht unternehmerischen Wünschen nach Flexibilität, die an  betriebswirtschaftlichen Kennzahlen ausgerichtet ist aber diametral gegenüber. Entscheidend ist die Ausgestaltung, damit die Arbeit sich an den Bedürfnissen der Beschäftigten und nicht an entfesselten Märkten orientiert. Aufgabe von Politik ist es, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die den Schutz von Beschäftigten sicherstellen. Gewerkschaften sind im Rahmen der Tarifautonomie gefordert, betriebliche Vereinbarungen für individuelle Lösungen zu schaffen. Leitbild beschäftigtenorientierter Politik und gewerkschaftlicher Interessenvertretung muss eine „arbeitskraftorientierte Arbeitszeitpolitik“ (Urban: S. 74) sein, die Länge und Intensität des Arbeitstages begrenzt und Überlastung entgegenwirkt. 

V. Zeitdiebstahl und Lohnraub verhindern

Der Kampf um die Arbeitszeit, deren Verteilung und Regulierung begleitet die Arbeiterbewegung seit ihren Ursprüngen. Denn dem Interesse der Beschäftigten an Freizeit und Erholung steht das Interesse der Unternehmen, den Mehrwert zu erhöhen, diametral entgegen. Diese Erhöhung wird entweder durch eine Intensivierung von Arbeitsabläufen oder eine Verlängerung des Arbeitstages realisiert. „Wenn Sie mir erlauben, täglich nur 10 Minuten Überzeit arbeiten zu lassen, stecken sie jährlich 1000 Pfund in meine Tasche“, so ein von Marx zitierter Unternehmer über das Verhältnis von Mehrarbeit und Profit (MEW: S. 257). Auch heute schieben Beschäftigte einen Berg unbezahlter Überstunden vor sich her, insgesamt knapp eine Milliarde. Auf diese Weise, so das ehemalige DGB-Bundesvor-standsmitglied Annelie Buntenbach, „wirtschaften sich die Arbeitgeber rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche“ (vgl. Stützle 2020: S. 8 f.).

Hinzu kommen die Kosten für gesundheitliche Beeinträchtigungen, die als Folge dauerhaft überlanger Arbeitszeiten die Gesundheit der Beschäftigten schädigen. Diese werden aktuell von der Krankenversicherung finanziert und somit von der Allgemeinheit getragen. DIE LINKE fordert, dass auch die Kosten für arbeitsbedingte psychische Erkrankungen von der arbeitgeberfinanzierten Unfallversicherung zu tragen sind,.

Vergegenwärtigt man sich, dass menschliche Arbeitskraft aber der entscheidende Faktor bei der Herstellung von Mehrwert ist, wird klar, dass es einen „Arbeitgeberbeitrag“ nicht geben kann. Denn „der gesamte Lohn (Bruttolohn plus Arbeitgeberbeiträge plus sonstiger Vergütung) wird immer über die Arbeitszeit erwirtschaftet, eine darüber hinaus gehende Quelle für einen Arbeitgeberbeitrag gab es nie.“ (Christen: S. 182)  

Der Kompromiss der Parität in den Sozialversicherungssystemen darf angesichts der Wirtschaftskrise nicht länger in Stein gemeißelt sein. Nicht nur die Löhne müssen rauf, sondern die Unternehmen sollten sich über höhere Beiträge stärker an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligen – wie es zum Beispiel in Österreich bei der Rentenversicherung praktiziert wird.Die Kosten dieser Krise dürfen nicht einseitig die Lohnabhängigen bezahlen, während die Unternehmen sich nach der Krise ungeschmälerter oder gar größerer Profite erfreuen. 

DIE LINKE fordert die sofortige Rücknahme der 12-Stunden-Arbeitstage und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf sechs Stunden für Pflegekräfte, insbesondere für diejenigen, die Covid-19-Patienten betreuen – das ist schon aus Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zwingend notwendig. 

Um Beschäftigung über diese Krise und die anstehende Transformation zu sichern, brauchen wir dringend eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, um den gesellschaftlichen Wohlstand gerecht zu verteilen. 

 

Literatur:

Beermann, Beate et al. (2019): Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu Arbeitszeit und gesundheitlichen Auswirkungen. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua): Fokus.  

Christen, Christian (2020): Alter(n) im Kapitalismus. Die Rentenfrage im Kontext sozialer Reproduktion. In: Stützle, Ingo (Hrsg.): „Marx, die Poren des Arbeitstags und neue Offensiven des Kapitals. Berlin: Dietz Verlag. S. 194-215.

Ferschl, Susanne (2019). Schutzrechte verteidigen, Selbstbestimmung stärken. In: Behruzi, Daniel & Zeise, Fanny (Hrsg.): „Individuelle Bedürfnisse, kollektive Aktionen, Politische Alternativen. Beiträge zur neuen Arbeitszeitdebatte.“ Berlin: Reihe MATERIALIEN der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Nr. 28, 1. Auflage. S. 11-14.

Marx, Karl & Engels, Friedrich (1867): Der Arbeitstag. In: „Das Kapital“, MEW Bd. I. Berlin: Dietz Verlag: 1968. S. 245-320.

Stützle, Ingo (2020): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): „Marx, die Poren des Arbeitstags und neue Offensiven des Kapitals. Berlin: Dietz Verlag. S. 8-33.

Urban, Hans-Jürgen (2019): „Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus.“ Hamburg: VSA-Verlag.

Sozialismus 7/8 2020,