Zum Hauptinhalt springen

»Ein schlimmer Tabubruch«

Im Wortlaut von Alexander S. Neu, Sahra Wagenknecht,

Sahra Wagenknecht, Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, und Alexander S. Neu, MdB und Außenpolitik-Experte, im Interview über die dramatische Situation in der Ukraine

 


Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat am Mittwoch einen einseitigen Waffenstillstand der Regierungstruppen angekündigt. In einer „sehr kurzen“ Feuerpause sollten prorussische Aufständische ihre Waffen abgeben, sie könnten dann auf eine Amnestie hoffen. Wie bewerten Sie dieses Angebot?

Alexander Neu: Es handelt sich um den Versuch Poroschenkos, nachdem er massiv schwere Waffensysteme gegen die Aufständischen einsetzt und dabei Zivilisten getötet und zivile Infrastruktur zerstört werden, die Schuldfrage an einer fortgesetzten militärischen Auseinandersetzung auf die Aufständischen zu verlagern.

Der Tenor ist: Würden sie auf das wohlmeinende Angebot eingehen, so wäre weiteres Blutvergießen gestoppt. Lehnen die Aufständischen das Angebot ab, so tragen sie die Alleinschuld für alle weiteren Opfer. In seinem "Angebot" steht kein politischer Lösungsansatz, weshalb das Angebot für die Aufständischen vermutlich nicht akzeptabel ist. Es ist im Prinzip nur ein Kapitulationsangebot.

Vor gut drei Monaten haben Sie Verständnis dafür geäußert, dass sich die russische Mehrheit auf der Krim nach Russland orientiere. Schließlich habe die Regierung in Kiew signalisiert, Russen seien in der Ukraine nicht mehr erwünscht. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?

Sahra Wagenknecht: Die Lage hat sich seitdem in der Ukraine dramatisch zugespitzt. Im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai wurden mindestens 46 Menschen von einem Mob unter Beteiligung des Rechten Sektors ermordet und zum Teil lebendig verbrannt. Die Parteizentrale der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) in Kiew wurde monatelang besetzt und verwüstet. Andere Parteibüros wurden in Brand gesetzt. Der vom Faschisten Andrij Parubij geleitete Sicherheitsrat fordert immer wieder das Verbot der KPU oder die Visumspflicht für russische Staatsbürger. Und im Osten der Ukraine herrscht Krieg. Die Menschen wollen in erster Linie Frieden und Sicherheit zurückhaben. Dazu muss die Regierung in Kiew sofort ihre sogenannte Anti-Terror-Offensive stoppen.

Die Drohung lag lange in der Luft, jetzt hat Russland ernst gemacht: Die Ukraine erhält kein Gas mehr, bevor die Schulden nicht bezahlt sind. Welche politischen Folge hat das und welche für die Bevölkerung?

Alexander Neu: Sollte die Einstellung der Gaslieferungen über den Winter andauern, würde das vermutlich dramatische Auswirkungen auf das Leben der ukrainischen Bevölkerung mit sich bringen. Die Winter sind dort wesentlich kälter als in Deutschland. Aber auch die übrigen wirtschaftlichen Bereiche sind betroffen:Die Menschen in der Ukraine, die vom bilateralen Handel leben, sind die ersten Opfer der ohnehin schwierigen sozio-ökonomischen Lage in der Ukraine. In den nächsten Monaten werden wir einen massiven Niedergang der sozialen Lebensverhältnisse in der gesamten Ukraine erleben. Unternehmen werden schließen, da einerseits der Handel gen Russland zum Erliegen kommt. Andererseits sind die ukrainischen Produkte in der EU nicht wettbewerbsfähig. Ein wirklicher Absatzmarkt EU für die Ukraine wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

DIE LINKE kritisiert die Beteiligung der faschistischen Partei Swoboda an der Regierung in Kiew. Aber gibt es nicht auch rechte Scharfmacher auf russischer Seite?

Sahra Wagenknecht: Das eine rechtfertigt doch das andere nicht. Die Swoboda-Partei hat freundschaftliche Kontakte zur NPD und sieht sich selber in der Tradition von Stephan Banderas Ukrainischen Partisanenarmee (UPA). Diese arbeitete im Zweiten Weltkrieg phasenweise mit Hitlers Wehrmacht zusammen und verübte noch nach Ende des Krieges Terroranschläge gegen kommunistische Funktionäre und überlebende Juden. Es ist ein schlimmer Tabubruch, dass die Bundesregierung – in Übereinstimmung mit den Grünen – und die EU die Swoboda-Faschisten als Gesprächs- und Verhandlungspartner anerkannt haben. Es ist offensichtlich, dass neofaschistische Kräfte aus dem Rechten Sektor in die wieder gegründete Nationalgarde aufgenommen und bewaffnet wurden und jetzt auch im Osten der Ukraine im Einsatz sind.

In der ukrainischen Putschregierung in Kiew sitzen vier Minister der faschistischen Swoboda-Partei. Poroschenko tauscht jetzt zwar den Swoboda-Generalstaatsanwalts aus, erklärt aber zugleich, dieser solle Präsidentenberater werden. Auch nach der Präsidentschaftswahl, bei der die faschistischen Kandidaten zum Glück relativ niedrige Ergebnisse erzielten, sind die faschistischen Minister nicht abberufen wollen. Jetzt wollen uns große Koalition und Grüne auf die Parlamentswahl vertrösten. Das ist einfach unglaubwürdig. Der Tabubruch bleibt.

Die OSZE warnt inzwischen, dass die Wasserversorgung der Millionenstadt Donezk und der Region sei gefährdet. Wie schwer sind die Folgen für die Bevölkerung durch die Kriegshandlungen?

Alexander Neu: Die Belastungen für die Zivilisten in der Kriegsregion steigen täglich. Neben den bereits erwähnten Angriffen durch Großwaffensysteme, bei denen zahlreiche Zivilisten getötet und verletzt werden, bricht die Versorgungstruktur immer weiter zusammen. Mich wundert es sehr, dass westliche Politiker und Medien dies ignorieren und Poroschenko nicht auf Mäßigung drängen. Gegenüber seinem Vorgänger, Janukowitsch, der auf der anderen Seite stand, wurden während der Maidan-Proteste ständig Mäßigungsforderungen seitens westlicher Politiker laut, kein Blut zu vergießen.

Jetzt stellt der Einsatz von Armee und Nationalgarde von der pro-westlichen Führung sogar einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung dar. Trotzdem wird dazu geschwiegen. Bei Janukowitsch hat es keinen Krieg gegeben, sondern einen überschaubaren Polizeieinsatz, bei der sowohl Aufständische als auch Polizisten zu etwa gleichen Opferzahlen getötet und verletzt wurden.

Die Ukraine ist hochverschuldet, der Internationale Währungsfond (IWF)hat dem Land Anfang Mai Kredithilfen in Höhe von rund 12 Milliarden Euro für zwei Jahre gewährt, damit gehen Auflagen einher. Wie bewerten Sie dieses Hilfspaket?

Sahra Wagenknecht: Als erstes braucht das Land Frieden und einen Dialog, an dem alle beteiligt sind – auch die Aufständischen. Sonst wird die ökonomische Situation durch den Krieg noch hoffnungsloser und die soziale Lage der Menschen immer prekärer. IWF-Kredite sind wie die Finanzzusagen der EU überhaupt keine Hilfe. Der IWF fordert als Gegenleistung für seine Kredite, dass die Gaspreise für die Menschen erhöht werden und der Wechselkurs flexibel bleibt. So steigen durch die Abwertung der ukrainischen Währung auch die Preise anderer Güter des täglichen Bedarfs. Und das in einer Situation, in der jetzt immer mehr Menschen ihre Jobs verlieren und kaum noch Geld da ist. Die Ukraine braucht stattdessen einen echten Neustart und muss dazu die Raubvermögen der Oligarchen heranziehen. Die geplante Unterzeichnung des EU Assoziierungsabkommen dagegen wird die soziale Lage eher verschärfen und die Bereicherungsmöglichkeiten für Oligarchen verbessern.

Alexander Neu: Die Auflagen zielen auf eine Verschlankung des Staates und einer Ausgabenminderung ab, um den desaströsen Haushalt zu konsolidieren. Diese Ausgabenminderung wird, wie üblich bei IWF-Auflagen, gerade die weichen Bereiche, als Sozial- und Bildungsausgaben treffen. Ob sich die Menschen nochmals aufraffen, um dagegen zu protestieren, bleibt abzuwarten. Die Putschregierung um Jazenjuk wird nicht so einfach vom neoliberalen Kurs abzubringen sein oder sogar vor dem Druck der Straße aufgeben, wie Janukowitsch und sein Kabinett.

Was sollte die Bundesregierung an ihrer Außenpolitik ändern?

Sahra Wagenknecht: Die Ereignisse in der Ukraine belegen, dass die Beteiligung von Faschisten an einer Regierung für die Menschen eine Katastrophe ist. Das müssen Steinmeier und Merkel deutlich zum Ausdruck bringen, anstatt im Schlepptau der USA Politik zu machen. Außerdem müssen Bundesregierung und EU auf die Regierung in Kiew Druck ausüben, damit der Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Osten der Ukraine gestoppt und das Morden beendet wird. Es sollte berücksichtigt werden, dass Deutschland und die EU bei einer weiteren Verschärfung des Konflikts und einem Wirtschaftskrieg gegen Russland viel zu verlieren hätten – im Gegensatz zu den USA. Bei uns profitieren Verbraucher und Industrie von den seit Jahrzehnten sicheren russischen Öl- und Gaslieferungen. Die Unterstützung einer Regierung, die durch Wahlen bisher nicht legitimiert wurde, an der Faschisten beteiligt sind und die ständig dazu beiträgt, die Lage zu eskalieren, schadet den Interessen der ukrainischen und der deutschen Bevölkerung. Die Bundesregierung darf sich nicht weiter an der Eskalationspolitik in der Ukraine beteiligen. Das Land darf nicht zu einer Entweder-Oder-Entscheidung gedrängt werden. Stattdessen sollte die Ukraine eine Brückenfunktion zwischen der EU und Russland erfüllen.

linksfraktion.de, 20. Juni 2014