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Doppelte Solidarität im Nahost-Konflikt

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Perspektiven - unter diesem Titel veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Kommentare, Essays und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen. Heute: Gregor Gysi, Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Linkspartei, über das Verhältnis der Linken zum jüdischen Staat. Das Recht Israels auf eine gesicherte Existenz, die Solidarität mit Israel, gehören zur außenpolitischen Staatsräson, sagt der Politiker. Gregor Gysi appelliert an die Linken, ihr Verhältnis zu Israel grundsätzlich zu überdenken.

Israel begeht in diesem Jahr den 60. Jahrestag seiner Existenz. Wenn in Deutschland darauf Bezug genommen wird, dann ist dieser Anlass zweifellos nicht nur ein Grund für Feierlichkeiten, sondern immer auch des Gedenkens. Am 10. April dieses Jahres erinnerte der Deutsche Bundestag in einer Gedenkstunde an den 75. Jahrestag der Machtübernahme durch Hitler und den damaligen Beginn der Verfolgung und Diskriminierung der Jüdinnen und Juden - angefangen mit den Nürnberger Rassegesetzen, die in zahlreichen Pogromen und letztlich in die systematische, fabrikmäßige Ermordung von 6 Millionen europäischer Jüdinnen und Juden mündete.

Diese beiden historischen Daten weisen bereits darauf hin, dass die Beziehungen Deutschlands zum Staate Israel immer besondere Beziehungen sind, so lange der kategorische Imperativ Theodor W. Adornos gilt, alles dafür zu tun, damit sich Auschwitz nie wiederholt.

Die Feierlichkeit wird auch dadurch eingeschränkt, dass im Nahen Osten kein Frieden herrscht, die Palästinenserinnen und Palästinenser unterdrückt sind und keinen eigenen Staat besitzen.

Das Recht Israels auf eine gesicherte Existenz, die Solidarität mit Israel, gehören zur außenpolitischen Staatsräson. Die Linke, die ein traditionell eher kritisches Verhältnis zur konkreten Politik der israelischen Regierungen hat, muss trotzdem solidarisch zu Israel stehen, denn die gescheiterte politische Emanzipation der Jüdinnen und Juden in den europäischen Nationalstaaten und insbesondere der Holocaust haben die Gründung eines eigenen jüdischen Nationalstaates so zwingend erforderlich gemacht, dass sie von der Sowjetunion und den USA beschlossen wurde.

Die Solidarität mit Israel sollte zugleich aber immer eine kritische sein. Israel hat in seiner Geschichte des Öfteren das Völkerrecht verletzt, am vielleicht einschneidendsten im Sechs-Tage-Krieg mit der Besetzung des Westjordanlands und der Golan-Höhen und durch die Siedlungspolitik.

Es hat Unrecht begangen und begeht es noch heute. Darunter leiden besonders die Palästinenserinnen und Palästinenser, die glauben dürfen, einen Teil jener Schuld auszugleichen, die Deutsche ausgleichen müssten. Schon deshalb muss es ebenso Solidarität mit Palästina geben. Daran zu erinnern, dass das Völkerrecht auch von Israel respektiert werden sollte und muss, das sollte und muss die Linke schon leisten. Wenn man wie Israel Jahrzehnte lang fremde Territorien besetzt, verwaltet, nicht nur militärisch kontrolliert, trägt man auch die Verantwortung dafür, wenn es dort keine ausreichende Anzahl von Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Kultureinrichtungen und Arbeitsplätzen gibt. Auch das können und müssen wir sagen.

Aber die Deutschen tragen auch ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern, denn diese tragen die Folgen von Flucht, Vertreibung und Besatzung bis heute.

Den Weg, dieser doppelten Solidarität und Verantwortung gerecht zu werden, hat die Entscheidung der vereinten Nationen von 1947 gewiesen. Die „Teilung Palästinas in zwei separate Staaten“ - Israel und Palästina. Ein Staat wurde Realität, der andere noch nicht. Nur wenn in Umsetzung des UNO-Beschlusses zwei Völkerrechtssubjekte entstehen, wird auch der Weg der gegenseitigen Annäherung frei. Der Weg zur Annäherung führt über die Trennung, anders wird es nicht gehen, ohne dass es zu neuen Konflikten käme.

Die Verpflichtungen, die aus der deutschen Geschichte resultieren, begrenzen auch den Handlungsspielraum nicht nur der Linken, sondern der deutschen Außenpolitik insgesamt.

Solange die deutsche Vergangenheit als verpflichtend angesehen wird, werden wir im Nahostkonflikt nicht als neutral wahrgenommen werden.

Das lässt sich exemplarisch an der Entsendung deutscher Truppen für die UN-Mission UNIFIL im Libanon-Konflikt zeigen. Bundeswehrsoldaten sollten die Letzten sein, die bei einem Konflikt zwischen Israel und einem anderen Staat dazwischenstehen. Jede Seite wird bei jeder Schwierigkeit einen historischen Bezug herstellen. Wenn man Blauhelme im Auftrag der UNO stellt, muss man hinsichtlich des Konfliktes neutral sein. Man muss gegenüber beiden Seiten die gleiche Glaubwürdigkeit besitzen. Die Bundesregierung ist nicht neutral und will es auch nicht sein.

Auf den UN-Einsatz im Libanon bezogen spricht gegen die Neutralität, dass deutsche Soldaten Waffenlieferungen an die Hisbollah verhindern sollen, die Bundesregierung ihre Waffenlieferungen an Israel aber fortsetzt, bis hin zu U-Booten, die sogar mit Atomwaffen bestückt werden können.
Ein Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten erfordert vor allem:

1. Es muss ein in jeder Hinsicht lebensfähiger Staat Palästina neben dem Staat Israel geschaffen werden. Beide Staaten müssen in sicheren und klar vereinbarten Grenzen existieren. Das geht nicht ohne die Auflösung der meisten Siedlungen von Israelis.

2. Das Problem der palästinensischen Flüchtlinge muss durch Israel anerkannt und mit Palästina gelöst werden.

3. Israel soll nicht weiter versuchen, kulturell Europa im Nahen Osten zu sein, sondern müsste versuchen, eine kulturelle Macht d e s Nahen Ostens zu werden.

4. Politische, wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche und damit vor allem zivilgesellschaftliche Beziehungen müssen zwischen Israel und Palästina sowie den anderen Ländern des Nahen Ostens schrittweise aufgebaut werden, damit die Akzeptanz für Israel im Nahen Osten wächst, das Existenzrecht Israels nicht länger politisch angezweifelt und in Perspektive aus Feindschaft Freundschaft wird.

Von Gregor Gysi

Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Gysi am 14. April 2008 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten hat

Sächsische Zeitung, 14.Juni 2008