Beitrag zur Serie "Was ist systemrelevant?"
Von Niko Paech, außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt
(PUM) an der Universität Oldenburg und Autor des Buches "Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie", München 2012
Weiteres Wachstum des Bruttoinlandsproduktes scheitert erstens an absehbaren Ressourcenengpässen (fossile Ressourcen, Flächen, Metalle, seltene Erden etc.), verringert zweitens per se keine Verteilungsungleichheiten, sorgt drittens nach Erreichen eines bestimmten Wohlstandsniveaus für keine Glückszuwächse. Viertens ist Wirtschaftswachstum auch unter günstigsten Bedingungen nicht zum ökologischen Nulltarif zu haben. Dies gilt trotz vieler vermeintlich grüner Produkte und Technologien, die sich niemals vollständig dematerialisieren lassen. Die Umweltschäden werden lediglich umgewandelt oder in die Landschaft (Energiewende) bzw. auf ferne Kontinente (Asien) verlagert. Hinzu kommt ein zweites Problem: Wenn das volkswirtschaftliche Gesamteinkommen infolge auch noch so grünen Wachstums zunimmt, sorgt die erhöhte Güternachfrage früher oder später dafür, dass die ohnehin nur relative Ressourceneinsparung wieder zunichte gemacht wird. Das gilt nicht minder, sollte das Wachstum auf Dienstleistungen (Gesundheit, Pflege, Bildung etc.) beruhen. Wenn beispielsweise 1000 zusätzliche Lehrerarbeitsplätze eingerichtet werden, entsteht in entsprechendem Umfang zusätzliches Einkommen. Wie ließe sich je verhindern, dass dieses Einkommen für zusätzliche Einfamilienhäuser, Flugreisen, Autos und sonstige Konsumgüter verwendet wird?
Den Industrierückbau sozial und ökonomisch stabilisieren
Insoweit es systematisch misslingt, Wirtschaftswachstum stofflich zu entkoppeln, verbleibt nur die schrittweise Reduktion industriell-arbeitsteiliger Versorgungssysteme auf ein räumlich und zeitlich übertragbares ökologisches Niveau. Den Industrierückbau sozial und ökonomisch zu stabilisieren, liegt im Kern einer Postwachstumsökonomie und erstreckt sich unter anderem auf drei Ebenen.
(1) Umverteilung: Wenn der Industriekomplex auf etwa die Hälfte reduziert würde, könnte die verbliebene Arbeitszeit umverteilt werden, so dass sich für alle Erwerbstätigen eine durchschnittliche Wochensarbeitszeit von 20 Stunden ergäbe.
(2) Ökonomische Resilienz: Die nunmehr freigestellte Zeit entspräche einer wichtigen Ressource, aus der sich eigenständige, marktfreie Versorgungsleistungen speisen könnten, um ein reduziertes Geldeinkommen materiell zu ergänzen. So gelänge es, soziale Sicherheit unabhängiger von Geldströmen und industrieller Fremdversorgung werden zu lassen. Wenig zu verbrauchen und davon möglichst viel selbst oder auf Basis lokaler Netzwerke zu produzieren, senkt nicht nur die Absturzgefahr, sondern erhöht die Autonomie.
(3) Ökologische Verantwortbarkeit: Gerechtigkeit mit Mitteln einer Einkommens- und Vermögensverteilung erzielen zu wollen, führt den zugrundeliegenden moralischen Anspruch ad absurdum. Wie lässt sich ein Wohlstand "gerecht" verteilen, der aus ökologischer Plünderung der Lebensgrundlagen räumlich entfernt oder zukünftig lebender Menschen resultiert? Wenn die mit der Einhaltung des Zwei-Grad-Klimaschutz-Zieles korrespondierende CO2-Menge auf alle sieben Milliarden Erdbewohner gleich verteilt würde, stünde jeder Person ein jährliches Emissionsbudget von 2,7 Tonnen zu. Unternehmen könnten alle Produkte mit dem CO2-Fußabdruck entlang des gesamten Lebenszyklus kennzeichnen, damit Konsumenten ihre CO2-Bilanz erstellen können.
Wohlstandsschrott, der das Leben verstopft
Die Einhaltung dieser Rahmenbedingungen dürfte ohne Suffizienz (Reduktion) und Subsistenz (Selbstversorgung) undenkbar sein. Das Gestaltungsprinzip der Suffizienz konfrontiert die Steigerungslogik konsumtiver Selbstverwirklichungsexzesse mit einer Gegenfrage. Von welchen Energiesklaven und Komfortkrücken ließen sich überbordende Lebensstile und schließlich die Gesellschaft als Ganzes befreien? Welcher Wohlstandsschrott, der längst das Leben verstopft, obendrein Zeit, Geld, Raum sowie ökologische Ressourcen beansprucht, ließe sich ausmustern? In einer Welt der Reiz- und Optionenüberflutung, die niemand mehr bewältigen kann, werden Überschaubarkeit und Entschleunigung zum Selbstschutz.
Moderne Subsistenz bezweckt, von außen bezogene Leistungen durch eigene Produktion punktuell oder graduell zu ersetzen. Sie entfaltet sich im sozialen Umfeld, also auf kommunaler oder regionaler Ebene. Dazu zählt die (Re-)Aktivierung der Kompetenz, manuell und kraft eigener handwerklicher Tätigkeiten Bedürfnisse jenseits kommerzieller Märkte und staatlicher Versorgung zu befriedigen.
- Nutzungsintensivierung durch Gemeinschaftsnutzung: Wer die Nutzung von Gebrauchsgegenständen mit anderen Personen teilt, trägt dazu bei, industrielle Herstellung durch soziale Beziehungen zu ersetzen. Doppelte Nutzung bedeutet halbierter Bedarf.
- Nutzungsdauerverlängerung: Wer durch handwerkliche Fähigkeiten oder manuelles Improvisationsgeschick die Nutzungsdauer von Konsumobjekten erhöht – zuweilen reicht schon die achtsame Behandlung, um frühen Verschleiß zu vermeiden –, substituiert materielle Produktion durch eigene produktive Leistungen, ohne auf Konsumfunktionen zu verzichten. Wo es gelingt, die Nutzungsdauer durch Instandhaltung, Reparatur, Umbau etc. durchschnittlich zu verdoppeln, könnte die Produktion neuer Objekte entsprechend halbiert werden.
- Eigenproduktion: Im Nahrungsmittelbereich erweisen sich Hausgärten, Dachgärten, Gemeinschaftsgärten und andere Formen der urbanen Landwirtschaft als dynamischer Trend, der zur Deindustrialisierung dieses Bereichs beitragen kann. Künstlerische und handwerkliche Betätigungen reichen von der kreativen Wiederverwertung ausrangierter Gegenstände über selbst gefertigte Holz- oder Metallobjekte bis zur semi-professionellen Marke „Eigenbau“.
Derartige Subsistenzleistungen bewirken, dass eine Halbierung der Produktion nicht den materiellen Wohlstand halbiert. Die Kombination aus reduziertem Industrieoutput und dessen "Veredelung“ bzw. Ergänzung durch eigenständige Instandhaltung und/oder Gemeinschaftsnutzung mindert die Kapitalintensität der Versorgungsleistungen, folglich den aus Verwertungszwängen resultierenden Wachstumsdruck.
Autonome "Rettungsboote" entwickeln
Zu den politischen Rahmenbedingungen einer Postwachstumsökonomie (die hier nur unvollständig skizziert werden können) zählen Boden-, Geld- und Finanzmarktreformen. Regionalwährungen, die durch einen Negativzins umlaufgesichert sind, könnten de-globalisierte Marktsysteme stabilisieren, die neben einer verkleinerten Industrie und lokaler Subsistenz einen dritten Versorgungssektor bilden. Veränderte Unternehmensformen wie Genossenschaften, Non-Profit-Organisationen oder Konzepte des solidarischen Wirtschaftens könnten Gewinnerwartungen dämpfen. Der Subventionsdschungel müsste durchforstet werden, um ökologische Schäden und die öffentliche Verschuldung zu reduzieren. Neben einer Finanztransaktions- und Vermögensteuer könnten Arbeitszeitverkürzungen erleichtert werden. Dringend nötig wären ein Bodenversiegelungsmoratorium und Rückbauprogramme für Industrieareale, Autobahnen, Parkplätze und Flughäfen, um diese zu entsiegeln und renaturieren. Ansonsten könnten dort Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien errichtet werden, um die katastrophalen Landschaftsverbräuche dieser Technologien zu reduzieren. Weiterhin sind Vorkehrungen gegen geplante Obsoleszenz unabdingbar, um nur einige der Maßnahmen zu benennen.
Es würde die politischen Organe moderner Konsumdemokratien überfordern, dem Großteil der Wähler Reduktionsleistungen zuzumuten. Erste Schritte bestünden eher darin, dezentrale und autonome "Rettungsboote" zu entwickeln. Solche Experimentierfelder könnten den ohnehin durch Krisen (Klimawandel, Peak Everything, Finanzkrisen, Burnout) erzwungenen Übergang durch die Vorwegnahme zukunftsfähiger Daseins- und Versorgungsformen erleichtern. Es geht nicht mehr um die Vermeidung des Kollapses, sondern um seine Gestaltung. Das sind gute Voraussetzungen dafür, die europäische Wachstumsdiktatur zu überwinden und einen selbstbestimmten Neuanfang zu wagen.
linksfraktion.de, 31. Januar 2013
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