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Die Türkei braucht eine glaubhafte linke Alternative

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Sevim Dagdelen im Interview mit dem neuen deutschland über Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen in der Türkei





nd: Sie haben davon gesprochen, dass es bei den Kommunalwahlen in der Türkei am Sonntag Wahlfälschungen gegeben habe, und Sie fordern eine unabhängige Überprüfung der Ergebnisse.

Dagdelen: Ich sprach von möglichen Wahlfälschungen, da über Unregelmäßigkeiten berichtet wurde. Über 1400 Beschwerden wurden bei den Behörden in der Türkei eingereicht.

In mehreren Orten kam es zu seltsamen Stromausfällen, aufgrund deren die Auszählung bei Kerzenschein erfolgen musste. Darüber hinaus sollen in mehreren Orten an Wahllokalen auch Polizisten, teilweise in Zivilkleidung, anzutreffen gewesen sein. Ferner haben einige sehr knappe Ergebnisse in den umstrittenen Hochburgen, besonders in Ankara, einen gewissen Beigeschmack. Und ich denke, eine unabhängige Untersuchung der Stimmen und eine unabhängige Auszählung wären hier angebracht.

Hat das schon jemand in der Türkei verlangt?

Es gibt offizielle Beschwerden der Oppositionsparteien CHP, BDP und der rechten MHP, die bisher eine Nachprüfung in bis zu zehn Fällen fordern.

Es soll auch neun Todesopfer gegeben haben.

Das waren aber rivalisierende Gruppen, Ortsvorsteher.

Unabhängig vom Ausgang möglicher Untersuchungen - denken Sie, dass sie einen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis hätten?

Nein. Die Unregelmäßigkeiten, von denen berichtet wird, reichen als Erklärungsmuster überhaupt nicht für den Erfolg der Regierungspartei. Die AKP hat auch außerhalb der Metropolen, besonders in Mittel- und Ostanatolien, übergroße Mehrheiten erreichen können. Da müssen andere Gründe ausschlaggebend gewesen sein.

Welche sehen Sie?

Beispielsweise die Schwäche der Opposition und die Blockade von sozialen Medien und Netzwerken. Zu wenig in Betracht gezogen wird im Westen auch, dass die AKP nahezu die gesamte Medienlandschaft in der Türkei kontrolliert. Und die einfachen Menschen in der Türkei, vor allem auf dem Land, sind deren ständiger Propaganda und einseitiger Berichterstattung komplett ausgesetzt. Als ich letztes Jahr zwei Mal wegen der Massenproteste in der Türkei war, konnte ich selbst miterleben, dass Leute auf dem Land überhaupt keine Ahnung von den Hunderttausenden Menschen hatten, die auf den Straßen demonstrierten. Auch Monate nach den Protesten wussten es viele nicht, weil sie eben allein staatliche Fernsehsender empfangen.

Angesichts der Mehrheiten, die die AKP bei den Bürgermeisterwahlen in Gebieten wie Bingöl, Elazig oder auch Malatya erringen konnte, denke ich aber auch, dass die Saat der Islamisierung der letzten Jahre leider aufgeht.

Man liest von der Regierungspartei AKP und auch noch von der CHP, der Republikanischen Volkspartei. Gab es denn auch Linke, die kandidiert haben?

In den kurdischen Kerngebieten hat die BDP gute Ergebnisse erzielt. Aber ihre Erwartungen wurden nicht ganz erfüllt. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, ist keine glaubhafte Alternative zur AKP, da sie die soziale Frage nicht stellt und selbst neoliberal ausgerichtet ist. Wenn sich auf Dauer keine Linke in der Türkei etabliert, die die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, befürchte ich, wird das die AKP sogar noch stärken.

neues deutschland, 1. April 2014