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Der Kapitalismus kann sich auch zu Tode siegen

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Interview mit Linksfraktionschef Gregor Gysi: Bürgerversicherung einführen, Lohnnebenkosten abschaffen

Stuttgart - Gregor Gysi ist Fraktionschef der Linkspartei. Der Jurist, einst Wirtschaftssenator im rot-roten Berliner Senat, lockte in Stuttgart 400 Zuschauer ins Gewerkschaftshaus.

Herr Gysi, die PDS versteht sich als soziales Gewissen der Gesellschaft. Machen Ihnen SPD und CDU durch die Wiederentdeckung des Sozialen die Rolle der Partei des kleinen Mannes streitig?

Nun, ich nehme das jetzt mal nicht persönlich, denn ich bin kein kleiner Mann, sondern ein kurzer. Im Ernst: Andere Parteien haben sich als Mitbewerber um die Lösung der sozialen Frage verabschiedet. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit stellen heute alle Parteien.

Macht das die Linkspartei bald obsolet?

Nein, wir haben die Frage aufgeworfen, und die anderen springen jetzt darauf an. Es gibt zunehmenden Reichtum und zunehmende Armut. Während in den USA die Löhne um 25 Prozent stiegen, in England um 20 Prozent und im EU-Durchschnitt um neun Prozent, gibt es in Deutschland 0,9 Prozent weniger Lohn. Deutschland nimmt im Kapitalismus eine andere Entwicklung, durch die sich auch die Mittelschicht gefährdet fühlt. Davon muss nicht zwangsläufig die Linke profitieren - auch die Rechten spekulieren darauf. Die große Koalition muss auf den sozialen Wandel reagieren, will aber ihre neoliberale Politik fortsetzen. So entstehen Würgemerkmale in der Gesellschaft.

Verdeckt das Pflaster Lohnsteigerung solche Würgemerkmale?

Es ist unlogisch, wenn es einerseits Wirtschaftsaufschwung, zusätzliche Steuereinnahmen, verdoppelte Managergehälter - und andererseits schwindende Kaufkraft und Lohnzurückhaltung gibt. Es ist wahrlich an der Zeit, dass auch in Deutschland die Löhne steigen. Die Regierenden hoffen: Die Arbeitnehmer nehmen das Geld, um sich bei der Kranken- und Rentenversicherung stärker privat abzusichern. So bleiben die Lohnnebenkosten konstant - für die Arbeitgeber. Früher waren Kapitalisten, vielmehr die Vertreter der Kapitalverwertungsinteressen, kompromissbereit. Der Erfolg der alten Bundesrepublik lag darin, dass die Arbeitnehmer stets am Aufschwung beteiligt waren. Heute nimmt die Wirtschaft keine Rücksicht auf den Sozialstaatskompromiss - der Kapitalismus kann sich auch zu Tode siegen.

Sollen denn die Arbeitgeber die sozialen Systeme allein reformieren?

Wir brauchen die Bürgerversicherung, in die alle Einkommensgruppen einzahlen. Heute beziehen nur noch 60 Prozent der Arbeitnehmer ihr Einkommen aus abhängiger Beschäftigung. Die Rente mit 67 ist keine Reform. In 30 Jahren werden die Leute noch älter - sollen sie dann bis 77 arbeiten? Also müssen wir, zweitens, die Beitragsbemessungsgrenzen schrittweise aufgeben und die Rentensteigerungen abflachen. So sind alle Renten bezahlbar.

Länger leben mit weniger Rente für alle?

Nein, und Besserverdienende könnten es sich leisten, private Zusatzversicherungen abzuschließen. Das ist das Modell der Schweiz: Der Millionär braucht nicht die gesetzliche Rente; aber die gesetzliche Rente braucht den Millionär. Aber dazu fehlen der Union der Wille und der SPD der Mut.

Sie wollen die Lohnnebenkosten streichen - und wodurch ersetzen?

Durch eine Wertschöpfungsabgabe. Es ist gerechter, wenn die Unternehmen Sozialabgaben nach ihrer Wirtschaftskraft zahlen statt nach der Anzahl ihrer Beschäftigten. Beispiel: Eine Bank fährt Rekordgewinne ein - entlässt aber 8000 Mitarbeiter. Da ihre Wertschöpfung dadurch nicht abnähme, müsste sie über die Wertschöpfungsabgabe nach wie vor Sozialabgaben in gleicher Höhe zahlen. Das nenne ich gerechter.

Warum tun sich WASG und PDS so schwer, sich für diese Ziele zusammenzuschließen?

Die Linke in Deutschland ist so kompliziert wie sie ist. Wir sind die Einzigen, die sich tatsächlich vereinigen - die anderen Ostparteien sind den Westschwestern nur beigetreten. Oskar Lafontaine sagt zu Recht: Entweder schaffen es WASG und PDS zusammen oder gar nicht. Und wir schaffen es.

Fragen von Claudia Lepping

Stuttgarter Nachrichten, 9. Dezember 2006