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»CHILE CREA« 1988

Im Wortlaut von Heike Hänsel,

Konzert auf dem Campus der Universität von Santiago de Chile im Rahmen des Festivals »Chile Crea« im Juli 1988

Bericht von einem Internationalen Kulturtreffen in Chile unter der Diktatur Pinochets

Unter dem Motto »Chile Crea« fand im Juli 1988 in Santiago de Chile auf Einladung zahlreicher chilenischer KünstlerInnen ein internationales Kulturtreffen zur Verteidigung der Demokratie statt. Der Begriff »Chile crea - Chile schafft« war in den 80er Jahren ein Ausdruck des Protests gegen die Diktatur geworden, zuerst verwendet von Kulturinitiativen, die im Untergrund arbeiteten und später dann offen auftraten gegen die Militärdiktatur Augusto Pinochets. Dieses internationale Treffen war ein wichtiges politisches Signal im Vorfeld des wenige Monate später anstehenden Referendums über den Verbleib Pinochets an der Macht.

Auch eine Delegation des Theodorakis-Chores aus Tübingen, an der ich teilnahm, machte sich auf den Weg nach Santiago de Chile. Was würde uns erwarten, nach 15 Jahren Diktatur, massivsten Menschenrechtsverletzungen mit zahllosen Verschwundenen und einem brutalen neoliberalen Regime, das bittere Armut erzeugt hatte? Konnten wir überhaupt in ein Land fahren, dessen Putschisten mit Hilfe der USA den demokratisch gewählten, linken Hoffnungsträger Salvador Allende gestürzt und in den Tod getrieben, zehntausende ChilenInnen im Stadion von Santiago interniert, gefoltert und ermordet hatten, unter ihnen die wichtigste »Stimme des Volkes«, den Sänger Victor Jara? Wir entschieden uns zu fahren, im Gepäck die Noten des »Canto General«, des »Großen Gesangs«. Ein Epos des großen chilenischen Dichters Pablo Neruda, vertont von dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis.

Was wir dann in Chile erlebten, war unglaublich. Aus zwei Wochen wurden mehr als sechs Wochen Aufenthalt. Hunderte von Kulturveranstaltungen, Konzerten und illegalen Demonstrationen wurden zu einer Abrechnung mit der Diktatur, angetrieben von dem ungebrochen starken Willen der ChilenInnen nach Freiheit und Gerechtigkeit. Und das trotz des großen Risikos verhaftet zu werden, denn der Militärapparat überwachte viele Veranstaltungen, aber die Präsenz einiger ausländischer KünstlerInnen und Kulturgruppen gab etwas Schutz. So konnten wir im Beisein von Eduardo Galeano, Daniel Viglietti, Thiago de Mello und zahlreichen US-amerikanischen und europäischen KünstlerInnen, das Haus Pablo Nerudas in Isla Negra wieder eröffnen und auch an seinem Geburtstag, dem 12. Juli, sein Grab in Santiago öffentlich besuchen. Ein Konzert mit Isabel Parra, der Tochter der großen Sängerin Violeta Parra, mit dem Komponisten von »Venceremos«, Sergio Ortega, der Frau Victor Jaras, Joan Jara, und vielen anderen war einer der Höhepunkte des Treffens. Die Bewegung für das neue chilenische Lied, kultureller Wegbereiter für die Unidad Popular von Salvador Allende, war plötzlich wieder da…

Wir selbst probten mit chilenischen Chören aus dem Canto General »America insurrecta« - »Aufständisches Amerika« und wurden spontan zu zahlreichen Aufführungen eingeladen, bei Gewerkschaftstreffen, bei Studentenstreiks an der Universität, und den »poblaciones«, den Armenvierteln Santiagos. Eindrücklich war der »Marcha del Hambre«, ein sogenannter »Hungermarsch« der armen Bevölkerung Santiagos. Dabei konnte jedoch nicht offen demonstriert werden, sondern nur illegal. Auf geheim verabredete Pfeifsignale tauchten im Zentrum Santiagos aus dem Nichts plötzlich hunderte von Menschen auf, die »Mörder Pinochet« riefen und Fotos von Verschwundenen hochhielten und bei Eintreffen von Militär und Geheimpolizei genauso schnell wieder verschwunden waren. Wer nicht schnell genug war, zum Beispiel ich, wurde mit Tränengas und Wasserwerfern (Marke Daimler Benz) traktiert. Die Begegnungen in den Armenvierteln Santiagos waren für mich am prägendsten. Noch nie hatte ich solch eine Armut persönlich gesehen: ganze Stadtviertel aus Bretterverschlägen gebaut, kein Wasser, kein Strom, überall Müll. Das war also das auch in Deutschland vielgepriesene »Wirtschaftswunder« Chiles? Gerade dort konnte man an vielen Wänden lesen: »Unidad Popular«, »Allende presente«. Das Abschlußkonzert vor mehr als 30 000 Zuhörern mit nicht enden wollenden Rufen »el pueblo unido jamas sera vencido« - »ein geeintes Volk kann niemals besiegt werden« - war überwältigend. Welch politische Kraft die Kultur entwickeln konnte!

Das Referendum 1988 verlor Pinochet und durch die darauf folgenden Wahlen 1990 musste er in die zweite Reihe zurücktreten, allerdings genoss er als Senator auf Lebenszeit Immunität gegen Strafverfolgung. Bis heute ist die chilenische Gesellschaft gespalten in Opfer und Profiteure der Diktatur. Es mangelt an Aufarbeitung, die Straflosigkeit verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen stark. Pinochet entging zeitlebens einer Verurteilung. Er starb am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 2006.

Von Heike Hänsel

linksfraktion.de, 31.08.2010