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Blockade muss aufgehoben werden

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Du gehörst zu den PolitikerInnen, die sich besonders für die Aufhebung der Blockade von Gaza einsetzen. Was sind deine Motive?

Sevim Dagdelen: Mein wichtigstes Motiv ist die humanitäre Notlage. Erst am Tag vor dem Angriff des israelischen Militärs auf die Gaza-Flottille haben mehrere UN-Organisationen vor zunehmender Unterernährung und Blutarmut in Gaza gewarnt, der Anteil der Menschen, die sich nicht einmal Grundnahrungsmittel oder Seife beschaffen können, habe sich seit dem Beginn der Blockade verdreifacht und fast alle sind von Hilfslieferungen abhängig, weil Landwirtschaft und Fischerei durch die Blockade nahezu unmöglich sind. Mehr noch als sonstwo handelt es sich um eine menschengemachte humanitäre Katastrophe und verantwortlich für diese ist einer der engsten Verbündeten Deutschlands, die israelische Regierung. Die andere Motivation ist friedenspolitisch: Das Völkerrecht ist ein wichtiger Garant des Friedens, wenn es für alle im selben Maße gilt. Deshalb setze ich mich weltweit gegen doppelte Standards ein, gegen die ständigen Versuche Deutschlands, der NATO und ihrer Verbündeten, das internationale Recht zu unterwandern und aufzuweichen. Israel verletzt täglich das Völkerrecht und missachtet die Rechte der Palästinenser in Israel, der Westbank inklusive Ostjerusalem und ignoriert alle sie betreffenden UNO-Resolutionen und erhält dabei Unterstützung der Bundesregierung. Dieses Abwracken des Völkerrechts ist es auch, was Gaza zu einem der Experimentierfelder einer neuen Kriegsführung macht, die wir weltweit beobachten und kritisieren: Gezielte Tötungen auf Verdacht, militärische Einschüchterung und Rationierung von Nahrungsmitteln, Medikamenten usw. um den Willen der Bevölkerung zu brechen und politische Einstellungen zu verändern. Die internationale Öffentlichkeit darf dem nicht länger zuschauen. Die Blockade muss endlich aufgehoben werden.

Welche realen Chancen gibt es die Blockade zu beenden? Machen sich die Blockadebrecher nicht zu nützlichen Idioten der Hamas und bedienen sie mit ihrem Verhalten nicht den deutschen und europäischen Antisemitismus?

Sevim Dagdelen: Zunächst gibt es ja bereits - wegen des Versuches, die Blockade zu brechen und der Empörung über die israelische Militäraktion - die Zusage, die Blockade zu lockern und zahlreiche Akteure, darunter die EU, haben seither die Forderung nach Aufhebung der Blockade immerhin deutlich formuliert. Im Nahost-Konflikt hat die Politik der westlichen Staaten seit Jahrzehnten versagt, wegen ihrer einseitigen Positionierung auf der Seite der israelischen Rechten. Das hat weltweit die Kritik an Israel befördert. Nun waren es zivilgesellschaftliche, überwiegend friedensbewegte Kräfte, die ein neues Licht auf diesen Konflikt geworfen haben und vielleicht eine Neupositionierung der internationalen Gemeinschaft erzwingen. In Israel gibt es Anzeichen, dass das erstmal zu einer Verhärtung der Fronten geführt hat, weil die Blockade als notwendig für den Fortbestand Israels verkauft wird. Doch international wird langsam anerkannt, dass dieser Zustand untragbar ist und nur den Hardlinern auf beiden Seiten nutzt. Wenn die Blockade aufgehoben wird und sich die Lage für beide Seiten entspannt, werden viele - Israelis und Palästinenser - merken, dass sie verschaukelt wurden.

Auch türkische Rechtsradikale sollen versuchen, sich an die Bewegung gegen die Blockade anzuhängen. Sind das die richtigen Bündnispartner?

Sevim Dagdelen: Faschisten und Rechte sind niemals richtige Bündnispartner für linke Kräfte und im vorliegenden Fall gab es ja auch kein Bündnis zwischen Linken und Rechten gegen die Blockade von Gaza. Es ist immer schwierig, wenn man sich für etwas einsetzt und dies zugleich auch rechte Gruppen tun. Das haben wir bei den Anti-Hartz-IV-Protesten, bei den Demos gegen den Afghanistankrieg und sogar bei den Demos für Datenschutz durch das Bündnis „Freiheit statt Angst“. Weil aber Nazis auch gegen Hartz-IV sind, wäre die Schlussfolgerung falsch, dass man sich jetzt nicht mehr gegen dieses unmenschliche Regime einsetzt. Im Gegenteil: Wenn man mit linker Motivation eine linke Revision der Arbeitsmarktgesetze erzielt, entzieht man den Rechten Mobilisierungspotential.

Besonders zugespitzt im Nahen Osten haben sich die Beziehungen zwischen den Regionalmächten Israel und der Türkei. Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Sevim Dagdelen: Ich glaube, das hat einerseits mit der Ablehnung einer EUMitgliedschaft der Türkei durch die konservativen Kräfte innerhalb der EU zu tun aber auch andererseits einem neuen Macht- und Selbstbewusstsein seit der AKP-Regierung. Die türkische Regierung versucht schon seit längerem als NATO-Mitglied ein Player in der Außenund Sicherheitspolitik zu sein. Das türkische Militär ist zum Beispiel ein großer und wichtiger Dienstleister auf dem Balkan und im Krieg in Afghanistan. Es nutzt die Möglichkeit sich auch in Richtung Süden und Osten zu orientieren, um sich als Regionalmacht zu etablieren und zu beweisen. In diesen arabischen und muslimischen Ländern ist die Ablehnung der israelischen Besatzung sehr groß, weil die Bevölkerungen dort eher die Sprache und die Geschichte der Palästinenser teilen. Die aktuelle türkische Regierung versucht damit auch, türkischen Nationalismus und den Islam wieder stärker in Einklang zu bringen. Ich habe das mehrfach als „neo-osmanische Außenpolitik“ bezeichnet und kritisiert. Aber auch die westliche Staatengemeinschaft hat hier unglücklich agiert, indem sie die Vermittlungsbemühungen der Türkei im Atomstreit mit dem Iran ignoriert hat und auch Israel hat sich gegenüber der Türkei mehrfach herablassend verhalten. Das fördert dann wieder den Nationalismus und eine anti-israelische Haltung in der Bevölkerung.

Der Ton und die Drohgebärden gegenüber dem Iran werden immer schärfer. Welche Möglichkeiten gibt es noch, einen Krieg zu verhindern?

Sevim Dagdelen: Das hat jetzt natürlich erstmal sehr wenig mit dem ursprünglichen Thema Gaza zu tun, ist aber eine sehr wichtige Frage, weil hier wirklich ein sehr verheerender Krieg droht. Es ist sehr wichtig, der Mobilmachung gegen den Iran stichhaltige und differenzierte Informationen entgegenzusetzen. Es ist ja unglaublich, was da behauptet wird: Dass der Iran gedroht habe, Israel von der Landkarte zu streichen, dass er gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen würde oder in wenigen Monaten fähig wäre, Atomwaffen auf Israel oder gar europäische Hauptstädte abzuschießen. Das ist alles Quatsch und das wissen auch diejenigen, die diese Propagandalügen verkünden. Die USA, Israel und viele in der Europäischen Union wollen sich aber die Option eines Militärschlages gegen den Iran offen halten und ihn dauerhaft destabilisieren. Denn der Iran ist wie China, Brasilien, Indien dabei, sich - beschleunigt durch die Finanzkrise - zu einer Macht zu entwickeln, welche die Regeln des Westens nicht bedingungslos akzeptiert. Das soll verhindert werden und deshalb werden auch die Teile der iranischen Oppositionsbewegung unterstützt und idealisiert, welche die neoliberale Weltordnung als Befreiung interpretieren. Dabei kommen leider genau die Teile der Opposition unter die Räder, die für die Linke als Kooperationspartner in Frage kommen. Deshalb sollten wir uns mit dieser Oppositionsbewegung sehr differenziert und intensiv auseinandersetzen. Was leider angesichts der Kriegsdrohungen und der bereits stattfindenden westlichen Interventionen sehr schwierig ist. Und damit haben sie einen Teil ihres Zweckes bereits erfüllt.

Interview: Adi Reiher

Wochenzeitung unsere zeit, 9. Juli 2010