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Beitrittspolitik für das Kapital

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen





Der 5. November 2013 wird wieder einmal ein Beleg dafür, worum es in der EU wirklich geht: um bessere Profite für das Kapital und um sonst nichts. An diesem Tag beginnt die EU-Kommission mit den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und eröffnet ein weiteres Kapitel. Bundesregierung, SPD und Grüne hatten dies bereits im Vorfeld gutgeheißen. Allein DIE LINKE hatte erklärt, dass angesichts der innenpolitischen Situation in der Türkei bei Fortsetzung der Gespräche und Beitrittsverhandlungen gegenwärtig kein weiteres EU-Beitrittskapitel eröffnet werden soll.

Viele rieben sich verwundert die Augen, denn die Kapiteleröffnungen sind an Fortschritte im Bereich der Grund- und Menschenrechte gebunden. Gab es da nicht vor wenigen Monaten die Gezi-Park-Proteste, bei denen Hundertausende gegen die autoritäre Erdogan-Regierung, ihre Islamisierungspolitik und den Angriff auf soziale Rechte protestierten? Gab es nicht eine verheerende Bilanz der politisch verordneten Polizeigewalt: sieben Tote, über 8.000 Verletzte, darunter 1.000 Schwerverletzte und 14 Menschen, die ihr Augenlicht verloren haben? Und gab es nicht eine regelrechte Kultur der Straflosigkeit im Bezug auf die Polizisten, die über 12.000 Menschen verhaftet und teilweise der Strafverfolgung ausgesetzt hatten, allein weil diese von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit oder der Kommunikations- und Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hatten? Ja, das gab es. Aber all das hält den Beitrittszug selbstverständlich nicht auf. Der deutsche Staatsminister Michael Link (FDP) setzte sogar noch einen drauf und verstieg sich zu der Behauptung, die Türkei habe nach Protesten gegen den Polizeieinsatz gut reagiert und in vielen Bereichen nachgebessert. Das muss den tausenden Demonstranten in der Türkei, die seit den Gezi-Protesten in Haft sitzen, wie blanker Hohn in den Ohren klingen. Dagegen jubelte die Regierung Erdogan regelrecht, denn sie verstand die Maßnahme wohl: als Bestätigung ihres Kurses inRichtung eines islamistischen Unterdrückungsstaates mit brutaler Polizeigewalt und groben Menschenrechtsverletzungen. Als Bestätigung ihres Kurses der Unterdrückung von Aleviten, Kurden und anderen Minderheiten. Als Bestätigung ihrer Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und ihrer brutalen Privatisierungs- und Ausverkaufspolitik.

In einer jüngsten Studie des Think Tanks SWP zur strategischen Kooperation der USA mit der Türkei wird richtig darauf verwiesen, dass die USA der Akteur ist, der am meisten auf einen EU-Beitritt der Türkei drängt. Hier heißt es: "Konkret erwarten sich die USA folgende Vorteile: Ihr Zugang zum Nahen Osten und Zentralasien würde erleichtert werden (und gleichzeitig verhindert, dass sich Ankara 'zu stark' an seine nichteuropäischen Nachbarstaaten anlehnt); die Nato-Mitglieder innerhalb der EU bekämen mehr Gewicht (was wiederum die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Washington und Brüssel verbessern würde); schließlich würde die EU generell an außenpolitischer Stärke gewinnen und sich so zu einem verlässlicheren Partner der USA entwickeln – auch über die Region Nahost hinaus." Es geht also allein um ökonomische Vorteile für das Kapital der EU-Mitgliedstaaten verbunden mit der Erfüllung imperialistischer Kontrollabsichten unter der Hegemonie der USA. Der EU-Beitritt der Türkei und das Vorantreiben der Beitrittsverhandlungen koste es was es wolle sind dabei der Schlüssel. Karl Marx zitierte einmal zustimmend den Satz: "Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens." Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei scheinen dieser Maxime zu folgen.

Unsere Zeit, 1. November 2013