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Aufstand gegen Erdogan

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Sevim Dagdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen und Migrations- und Integrationspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Proteste am Gezi-Park in Istanbul und die Reaktion der Erdogan-Regierung



Seit Tagen gehen Zehntausende in der Türkei auf die Straße. Worum geht es bei den Protesten, die rund um den Gezi-Park am Taksim-Platz stattfinden?

Sevim Dagdelen: Es ging den Protestierenden zunächst um den Erhalt des Parks und den Stopp der Bauarbeiten, die auf obskure Weise zustande gekommen waren. Sie wehren sich aber auch gegen Denkmäler, die sich Erdogan in osmanischer Manier schaffen möchte, um seine Macht und den Führungsanspruch in der Türkei zu untermalen. Zentral sind ihre Forderungen nach Freilassung aller bisher Festgenommenen und Verhafteten, die Zusicherung von Strafverfolgungsfreiheit, Rücktritt des Polizeipräsidenten und Gourverneurs von Istanbul, das Verbot von Reizgas und die Aufhebung von Versammlungsverboten auf öffentlichen Plätzen wie dem Taksim-Platz. Nicht zu vergessen ist die Forderung nach Erhalt des Gezi Parks, die ja Ausgangspunkt der Proteste war.

Anfang der Woche waren Sie in der Türkei, um sich einen eigenen Eindruck vor Ort von den Protesten zu machen und mit den Menschen dort zu sprechen. Was ist die treibende Motivation der Menschen?

Anfangs konzentrierten sich die Proteste auf Istanbul und drehten sich im Wesentlichen um den Erhalt des Gezi-Parks und den Stopp der Bauarbeiten. Doch man muss wissen, dass zwar der Fokus der Aufmerksamkeit vorwiegend auf Istanbul richtet, doch inzwischen ist die Motivation der Proteste über den Ursprung hinausgegangen. Er richtet sich gegen das autoritäre AKP-Regime. Neun von zehn Protestierenden gehen nach einer Umfrage aus Verärgerung über die ihrer Meinung nach autoritäre Haltung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Straße. Der autoritäre Neoliberalismus Erdogans und der AKP mit seiner Mischung aus Tugendterror, Privatisierung und Bereicherung für die Reichen, steht nun im Fokus der Kritik. Soziale Forderungen sind eine wesentliche Triebfeder des Protests. Dazu kommt auch, dass die neoosmanische Außenpolitik mit Erdogans Unterstützung von Al-Kaida-Kämpfern in Syrien in der Türkei immer stärker auf Kritik stößt. Und entsprechend hat sich der Protest auch auf das gesamte Land ausgeweitet; auf Ankara und Izmir aber gerade auch auf viele kleineren Städte in Mittel- und Ostanatolien. Es gibt eine so bisher noch nie dagewesene Mobilisierung in der türkischen Gesellschaft.

Wie reagiert denn die AKP-Regierung unter Erdogan auf die Proteste?

Sie reagiert mit polizeilicher Gewalt und furchtbaren Verbrechen der Polizei gegen die Protestierenden. Es hat bereits mehrere Tote gegeben, über 70 lebensgefährlich verletzte Demonstranten liegen in Krankenhäusern. Mit einem ungeheuren Mut fordern die Demonstranten ein Ende dieses Terrorregimes ein.

Als bisher einzige ausländische Beobachterin konnten Sie zu den Protestierenden sprechen. Was haben Sie ihnen gesagt?

Das von mir vorgetragene Grußwort der LINKEN im Plenum der Protestierenden wurde mit großer Freude über so viel Verbundenheit der vielen Menschen aus Deutschland aufgenommen. Ich habe ihnen gesagt, dass sich DIE LINKE mit den Protestierenden in der Türkei solidarisiert. Wir stehen an ihrer Seite. Wir verschaffen ihren Forderungen wie die nach dem Rücktritt der für die exzessive Gewalt Verantwortlichen, dem Istanbuler Gouverneur und des Polizeipräsidenten auch in Deutschland Gehör. Wir unterstützen die Protestierenden bei ihren Forderungen nach Menschenrechten wie Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit sowie die Aufhebung von Demonstrationsverboten auf öffentlichen Plätzen und begrüßen das Engagement beispielsweise des Gewerkschaftsbundes KESK, der seine Mitglieder und darüber hinaus die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes aufrief, in Solidarität die Arbeit niederzulegen und gegen AKP-Regierung zu demonstrieren.

Welche Erkenntnissen nehmen Sie aus der Türkei mit und welche Forderungen richten Sie im Namen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag an die Bundesregierung?

Die Bundesregierung darf nicht weiter wegschauen. Sie muss die gewaltsamen Polizeieinsätze klar und deutlich verurteilen und sich dafür einsetzen, dass der EU-Beitrittsprozess der Türkei bis zum Ende der undemokratischen Maßnahmen und politischen Verfolgungswelle ausgesetzt wird. Die AKP darf für ihren Amoklauf gegen Demokratie und Menschenrechte nicht auch noch von der Bundesregierung mit Beitrittsverhandlungen belohnt werden. Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass von einer Demokratisierung durch die EU-Beitrittsverhandlungen und durch die jüngsten Verfassungsreformen in der Türkei keine Rede sein kann. Die Bundesregierung ist auch gefordert, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen massiven Polizeigewalt gegenüber friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten, die Kumpanei mit dem Erdogan-Regime, insbesondere die polizeiliche, juristische und militärische Zusammenarbeit zu beenden.

Wie setzt sich aus Ihrer Sicht die Protestbewegung zusammen? Spielen linke Kräfte und Parteien eine Rolle?

Aus einer Umfrage der Istanbuler Bilgi-Universität unter den Protestierenden wird klar, dass mehr als die Hälfte der Demonstranten zum ersten Mal in ihrem Leben an politischen Kundgebungen teilnehmen. Nur etwas über 15 Prozent der Demonstranten bezeichneten sich demnach als Anhänger einer politischen Partei. Das war auch mein Eindruck nach all den Gesprächen. Kommunistische, sozialistische beziehungsweise linke Gruppen spielen aber trotzdem mit ihren Strukturen eine wichtige Rolle. Das Gleiche gilt auch für säkulare, sozialdemokratische und alevitische Jugendliche. Sie bringen nicht zuletzt die nötige politische Erfahrung im Umgang mit dem AKP-Repressionsapparat mit.  

In deutschen Medien wird immer wieder auch von einem "Türkischen Frühling“ geschrieben und gesprochen…

Das ist ein hinkender Vergleich, über den sich die Protestierenden sehr aufregen. Das Bündnis distanziert sich von solcherlei Einordnungen. Etwaige Vergleiche sind eher der medialen Vermittlung geschuldet. Denn es gibt keinen türkischen Frühling, bei dem wie in Ägypten oder auch Tunesien Moslembrüder und Islamisten den Ton angaben oder angeben. Es gibt dagegen einen regelrechten Aufstand gegen Erdogans Marsch in einen islamistischen Unterdrückungsstaat. Die gesellschaftliche Repression durch die schleichende Islamisierung ist enorm. Kritiker wurden bisher von der AKP durch eine willige Justiz einfach versucht mundtot zu machen. Ein großer Teil der Gesellschaft ist nicht mehr bereit dies hinzunehmen.

Wie wird es weitergehen mit den Protesten?

Die türkische Regierung wird weiterhin alles tun, um die Protestbewegung zu kriminalisieren und deren Forderungen zu delegitimieren. Die vermeintliche Entschuldigung der Regierung für das unverhältnismäßige Vorgehen gegen Protestierende ist nur für die internationale Öffentlichkeit bestimmt und angesichts der anhaltenden Repressionen in keiner Weise ernst zu nehmen. Die Polizeigewalt geht unvermindert weiter und wird vermutlich auch eher zunehmen. Es wird auch von der internationalen Öffentlichkeit und der Solidarität mit den Protestierenden weltweit abhängen, ob und inwieweit die Forderungen der demonstrierenden und aufbegehrenden Menschen in der Türkei eine Chance auf Umsetzung haben. An dieser Stelle möchte ich alle ermutigen, an den Solidaritätskundgebungen und -demonstrationen teilzunehmen, die in deutschen Städten stattfinden.

linksfraktion.de, 7. Juni 2013