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Heuchelei in der Westsahara-Frage

Rede von Sevim Dagdelen,

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Es ist überraschend mit welchem Gleichklang bei der Bundestagsdebatte am 27. Januar dieses Jahres ein fraktionsübergreifendes Hohelied auf die Menschenrechte angestimmt wurde, mit welchem die Rednerinnen und Redner von CDU/CSU über FDP, SPD und Bündnis90/Die Grünen ihre Besorgnis über die verheerende Lebenssituation der Sahrauis zum Ausdruck bringen wollten.

Dabei wurde deutlich, dass für die Regierungskoalition die "Westsahara-Problematik" nur dann auf die Tagesordnung rückt, wenn die dort verübten Menschenrechtsverletzungen, wie zuletzt bei der brutalen Räumung des "Camps der Würde" im Oktober 2010, ein Ausmaß erreichen, welches nicht mehr todgeschwiegen werden kann, wie all die bisherigen todgeschwiegenen Opfer der marokkanischen Besatzungspolitik. Offenbar spielen Menschenrechte in der Westsahara erst dann eine Rolle, wenn der dortige Generalvertreter europäischer Handels- und Wirtschaftinteressen bei der Plünderung der Region den Umfang seiner Geschäftsführungsbefugnis überschreitet und den Auftraggeber in Misskredit zu bringen scheint. In den Worten des Kollegen Klimke aus der CDU/CSU-Fraktion wird diese Kosten-Nutzen-Kalkulation folgendermaßen beschrieben: "Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht der Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen."

Angesichts der geschilderten Einigkeit in Bezug auf die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte stellt sich dennoch die Frage, warum trotz der übereinstimmenden Situationsbeschreibung der Fraktionen bezüglich der völkerrechtlichen Lage und der Hervorhebung der Notwendigkeit der Umsetzung der Sicherheitsrat-Resolution 690 zur Abhaltung eines den endgültigen Status der Westsahara klärenden Referendums, die Menschen in diesem Land seit mehr als 30 Jahren auf Frieden warten müssen?

Die Antwort liegt nicht in der Theorie der Menschenrechte und ihre Lösung nicht in Lippenbekenntnissen, sondern in der Praxis ungerechter wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Beziehungen Europas und der Bundesregierung.

Es ist dann auch kein Zufall, dass der menschenrechtliche Meineid der Bundesregierung in Bezug auf die Westsahara folgenlos bleiben muss und soll. Denn die Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt nicht dem menschenrechtlichen Fortschritt, sondern den agrar- und energiepolitischen Interessen in der Region.

In diesem Zusammenhang sind die Forderungen des Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen "Menschenrechtslage in Westsahara" zwar richtig und unterstützenswert, auch wenn sie die ökonomischen Hintergründe des deutschen Engagements und die deutschen Interessen in der Westsahara unbeleuchtet lassen. Marokko ist neben anderen nordafrikanischen Mittelmeerländern Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) und Mitgliedsstaat der Union für den
Mittelmeerraum. Es nimmt teil an der NATO-AU-Kooperation und dem NATO-Mittelmeerdialog. Neben der Flüchtlingsabwehr und seiner sicherheitspolitischen Rolle für die NATO ist Marokko jedoch vor allem ein wichtiger Handelspartner der EU, der die Sicherung von Rohstoffen gewährleistet.

In dem Afrika-Konzept der Bundesregierung heißt es dazu knapp: "Die Bundesregierung unterstützt den Aufbau bilateraler Energiepartnerschaften mit Nordafrika. Zunächst vor allem mit Marokko und Tunesien. Durch sie profitieren Nordafrika und langfristig auch Deutschland von der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Die Bundesregierung unterstützt die DESERTEC-Initiative deutscher, europäischer und nordafrikanischer Unternehmen." DESERTEC als Energiegroßprojekt will Sonnen- und Windenergie in der Wüste Nordafrikas für die lokale Stromversorgung nutzen und langfristig Strom auch nach Europa exportieren. Damit soll laut dem Afrika-Konzept der Bundesregierung die Lieferung von Rohstoffen aus afrikanischen Staaten unterstützt und "deutsche Rohstoffinteressen mit langfristigen Lieferverträgen" abgesichert werden. Das Afrika-Konzept erwähnt mit keinem Wort, dass hier selbstverständlich über die Rohstoffe der Sahrauis verfügt wird. Die DESERTEC-Investitionen sollen nämlich auch die völkerrechtswidrig besetzte Westsahara umfassen. Nicht anders verhält sich die EU im Zusammenhang mit dem erst kürzlich verlängerten EU-Fischereiabkommen mit Marokko. Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara mit einschließt, soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vorstufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan des von deutschen Großunternehmen wie z.B. Münchener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank dominierten und von der Bundesregierung unterstützten Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen in Nordafrika zu beziehen. Das hat weder mit Ökologie noch mit der Förderung von Menschenrechten zu tun! Das ist ökologisch total irrsinnig, weil schon wieder den hundert Jahre alten Fehler wiederholen auf Großprojekte zu setzen statt auf kleinteilige, dezentrale Lösungen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wer den Umweltschutz will, wie Sie es hier auch mit dem Projekt DESERTEC vorgeben, muss zuerst die Menschen schützen und kann nicht mit solchen Großprojekten auch noch die Sicherheitslage verschärfen und die Missachtung des Völkerrechts ignorieren. DIE LINKE lehnt DESERTEC ab und fordert die Einhaltung des Völkerrechts und dezentrale, kleinteilige Energieerzeugung nicht auf Kosten der Länder und Menschen des Südens.

Auch die derzeit stattfindenden Gespräche über ein Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko wollen die Rechte der Sahrauris nicht zur Kenntnis nehmen. Dies hat nur ein Ziel: die Plünderung der Rohstoffe der Westsahara. Die Aufrechterhaltung der Marokkanischen Besatzung der Westsahara sichert so den Zugriff auf dieses rohstoffreiche Gebiet für die EU und Bundesrepublik. Und gerade deshalb ist seit mehr als 30 Jahren eine Lösung des Konfliktes nicht möglich. Menschenrechte können hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ihre ritualisierte Anrufung im Bundestag ist allenfalls ein untauglicher Versuch die Kritiker der ungerechten EU-Handelspolitiken zu beschwichtigen, damit keine negative Signalwirkung auf die mit dem hervorgehobenen Status, sprich dem advanced status ausgestatteten Handelspartner ausgeht.

Die Bundesregierung versucht auch deshalb nicht Menschenrechte in der Westsahara durchzusetzen, sondern sieht sich im Gegenteil genötigt, Marokko dafür zu belohnen, dass sie durch die völkerrechtswidrige Besatzung und kontinuierliche Verübung schwerster Menschenrechtsverletzungen ihre Wirtschaftsinteressen sichert. Seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbildungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte, obwohl sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere haben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte. Also genau jene, die auch an der Räumung des "Camps der Würde" und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und sind. DIE LINKE meint dass gerade die Entwicklungen in Nordafrika gezeigt haben, dass diese Militär- und Polizeihilfe für autoritäre Regime wie Marokko skandalös sind und dringend beendet werden müssen.

Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, in dem sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zugunsten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 eingestellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten 100.000 Euro wollte die alte Bundesregierung mehr für die Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe wurde bereits 2007 eingestellt.

Und auch die EU belohnt Marokko mit wohlwollender Zustimmung der Bundesregierung, seit Jahren in der EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen eine Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.

Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Verlängerung des EU-Fischereiabkommens. Und das trotz der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiabkommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in 2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die unveräußerlichen Rechte der "Völker der Gebiete ohne Selbstregierung" auf ihre natürlichen Ressourcen. Das meint auch der Juristische Dienst des Europaparlaments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko, weder in Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der Westsahara stattfindet noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völkerrechtswidrig. DIE LINKE fordert von der Bundesregierung sich auf die Seite des Rechts zu stellen und das Abkommen abzulehnen.

Die Bundesregierung muss die permanenten Rechtsverletzungen der marokkanischen Regierung deutlich öffentlich verurteilen und Konsequenzen ziehen. Die Fraktion DIE LINKE hat die Bundesregierung die möglichen Handlungsoptionen zur Lösung der Probleme in der Westsahara in ihrem Antrag "Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara (BT-Drs. 17/4271) aufgezeigt. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referendum über den Status der Westsahara und damit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das ihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu können.

Deshalb fordert DIE LINKE die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des UN-Sicherheitsrat vom 29. April 1991 umsetzt und das Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert. DIE LINKE fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsame Auflösung des Protestcamps Anfang November 2010 und die Niederschlagung der anschließenden Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale Untersuchung der Vorfälle einzufordern. Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalb der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindest solange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besatzung beendet hat und den Weg für ein Referendum zur endgültigen Klärung der Statusfrage frei macht.
Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiabkommen mit dem Königreich Marokko gekündigt wird und es sich nicht automatisch verlängert werden kann. Eine automatische Verlängerung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko muss solange verhindert werden, wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausgeschlossen ist. DIE LINKE fordert die Bundesregierung auf ihre Unterstützung gegenüber autoritären Regimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orientieren.