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Bürokratieabbau im Interesse der Menschen gestalten

Rede von Michael Schlecht,

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren!

Bürokratie ist bei vielen ein nicht besonders beliebtes Wort. Das ist verständlich; man hat schon manche unangenehme Erfahrung gesammelt. Bürokratieabbau hört sich da schon besser an. Deshalb behandelt anscheinend die Große Koalition dieses Thema auch hier in der Kernzeit im Parlament und beglückt das Parlament mit 96 Minuten Beratungszeit. Offensichtlich fehlen ihr andere wichtige populäre Themen zur Gestaltung unserer Gesellschaft, die sie eigentlich hier einbringen und stattdessen behandeln könnte.

Bemerkenswert an dem ganzen Vorgang ist, dass das wichtigste Vorhaben der Bundesregierung zum Bürokratieabbau gar nicht im Gesetz steht; vielmehr hat das Kabinett es bereits in seine internen Geschäftsordnung, in einer Art von Selbstverpflichtung, aufgenommen. Es geht um die sogenannte „One in, one out“-Regelung, nach der bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung durch ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für Unternehmen vorzusehen ist. Ich werde noch darlegen, wo da die Problematik ist.

Es ist aber, finde ich, sehr befremdlich, dass unter Umgehung des Parlaments eine relativ weitreichende Norm für Gesetzesinitiativen geschaffen wird. Das einzig Positive an dieser sogenannten untergesetzlichen Regelung ist, dass jede andere Regierung diesen Unfug per Kabinettsbeschluss gleich wieder abschaffen könnte. Zumindest das ist positiv daran.

Mit der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht mehr Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von gesetzlichen Regelungen, sondern das Gebot, dass die Kostenbelastung der Unternehmen nicht durch Regelungstatbestände - auch wenn sie sinnvoll sind - erhöht werden darf. Witzig oder bemerkenswert ist auch, dass für die Kontrolle dieser Regel extra Bürokratie geschaffen wird. Ein Staatssekretärsausschuss soll über den Bürokratieabbau wachen. Er soll zukünftig den ressorteigenen Bürokratieauf- und -abbau und den anderer Ressorts - da ist ein relativ kompliziertes Verfahren vorgesehen - kontrollieren. Es ist wirklich schon kabarettreif, dass unter dem Titel „Abbau von Bürokratie“ erst einmal staatliche Bürokratie aufgebaut wird. Das muss man sich schon einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Besonders interessant ist, welche Auswirkungen von dieser sogenannten Bürokratiebremse auf künftige Gesetzgebungsvorhaben nun ausgehen werden. Ist etwa eine Erweiterung der Mitbestimmung für Betriebsräte nicht mehr möglich, weil sie die Kosten für Unternehmen erhöht? Sind weitere Maßnahmen der Teilhabe von Menschen mit Behinderung überhaupt irgendwie auszugleichen? Man merkt, da entwickeln sich schon sehr perfide Fragestellungen, die mit diesem Prinzip verbunden sind.

Man muss davon ausgehen, dass damit etwa die Einführung des Equal-Pay-Grundsatzes für die Leiharbeit, das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstättenverordnung ‑ das sind ja alles Dinge, die nach meinem Kenntnisstand die Große Koalition irgendwie noch auf ihrer Agenda hat ‑ für die restliche Legislaturperiode wohl komplett beerdigt sind. Denn sinnvoll konstruierte derartige Regelungen würden natürlich immer zu ein bisschen mehr Bürokratieaufwand für die Unternehmen führen. Da es aber kaum Möglichkeiten gibt, sie zu kompensieren, also dafür zu sorgen, dass woanders Bürokratie nach der „One in, one out“-Regelung abgebaut wird, muss man davon ausgehen, dass jegliche Reformpolitik in der Arbeitswelt durch die Regierung faktisch aufgekündigt worden ist. Ich finde, es ist schon ein Skandal, dass man mitten in der Legislaturperiode im Grunde das Ende der Regierungstätigkeit erklärt.

Man muss sich schon auf der Zunge zergehen lassen, was man in einem trojanischen Pferd, das hier Bürokratieabbau heißt, so alles verpacken kann. Das muss man erst einmal zustande bringen. Man war sehr kreativ. Zumindest dieses Lob muss ich an dieser Stelle aussprechen.

Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung des Mindestlohns gegeben, wäre sie ‑ das muss man sich ja fragen ‑ vielleicht sogar gescheitert; es wurde nämlich behauptet ‑ ich will das gar nicht bestätigen ‑, dass durch die Einführung des Mindestlohns verursachte Erfüllungsaufwand bei immerhin 9,6 Milliarden Euro liegt. Ich bezweifle, dass das so ist; aber so hat es die Regierung nun einmal verkündet.

Stünden wir heute vor der gleichen Aufgabe, müsste die Bundesregierung nach ihrer eigenen Selbstverpflichtung Bürokratie in dieser Größenordnung abbauen, um den Mindestlohn einführen zu können. Ich behaupte einmal, wir können froh sein, dass der Mindestlohn so, wie er ist ‑ wir hätten uns einiges mehr gewünscht ‑, durchgesetzt worden ist, bevor diese Regelung geschaffen worden ist. Wie gesagt, ich befürchte für die verbleibende Legislaturperiode Schlimmes. Ich finde, es droht unserem Land und auch uns hier eine ziemliche Zumutung. Dem, wie da verfahren wird, kann man in der Tat nicht zustimmen.

Eigentlich ist die Idee, Bürokratie abzubauen, nicht verkehrt; man muss es nur richtig machen. Ich verrate Ihnen, wie Sie millionenfach Jubelstürme auslösen können: Schaffen Sie zum Beispiel das Bürokratiemonster Hartz IV ab. Das wäre eine wirkliche Reform.

Ein Freund von mir, der alleinstehend ist, rutschte vor Jahren in Hartz IV ab. Er hat mir damals seinen Antrag auf Hartz IV gezeigt: Das gesamte Formular hatte 16 Seiten, in denen seine persönlichen Tatbestände akribisch erhoben werden sollten. Wer Kinder hat oder eine besondere Ernährung benötigt oder gar noch mit jemandem zusammenlebt, bekommt gleich noch ein paar Seiten Fragebogen dazu. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa 650 Seiten dick. Was ist das für ein Bürokratieunfug, der dort betrieben wird!

Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, kritisiert das auch. Er geht auf aus seiner Sicht vermutlich sehr lebensnahe Dinge ein. Ich zitiere:

„Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sich mit DIN-Normen von Schuhen und Einlagen zu beschäftigen und darauf zu achten, dass nicht die falschen Schuhe die richtigen Einlagen haben ... „

Das ist anscheinend die bürokratische Wirklichkeit, mit der sich die Arbeitsagentur zum Teil herumschlagen muss, und das müsste endlich beseitigt werden.

Noch schlimmer ist die Situation für Aufstockerinnen und Aufstocker. Wer regelmäßig ein Einkommen hat und aufstocken will, muss in jedem Bewilligungszeitraum einen ganzen Wust an Formularen ausfüllen. Alle sechs Monate sind das neben dem Weiterbildungsantrag auch noch Arbeitgeberbogen, zusätzliches Einkommensformular usw. Ist es eigentlich die Schuld von Aufstockerinnen und Aufstockern, dass die Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter angesichts dieses Bürokratiewustes überlastet sind? Mit Sicherheit nicht. Das müsste abgeschafft werden.

Das hätte vor allen Dingen auch einen ökonomischen Effekt. Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Rede so getan, als nähmen Sie hier eine ganz tolle Entlastung vor. Diese Entlastung beliefe sich nach Ihren Berechnungen gerade einmal auf 700 Millionen Euro. Wenn Sie die Bürokratie bei Hartz IV wirklich beseitigen würden, könnten Sie Bürokratiekosten von effektiv sage und schreibe 5 Milliarden Euro abbauen. Das wäre in der Tat ein Fortschritt. Der eigentliche Bürokratieskandal sind nicht bestimmte Rechnungslegungsfristen oder -vorschriften für einzelne Unternehmer, sondern gerade solcher Unfug wie Hartz IV. Hinzu kommen sämtliche sozialpolitischen Verwerfungen und das, was damit an unsäglicher Bürokratie praktiziert wird.

Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz kleinen und mittleren Unternehmen helfen - es ist immer löblich, wenn man Leuten helfen will, auch kleinen und mittleren Unternehmen -, aber sie kommt über ein paar Verzierungen wirklich nicht hinaus. Ich will das einmal runterbrechen: Hilft man Unternehmen wirklich damit, dass man sie um sage und schreibe 1,3 Stunden pro Monat für eine Meldung über Ausfuhren und Einfuhren entlastet? Hilft man Sparkassen, Volksbanken etc. wirklich damit, dass man sie bei der Kundenbetreuung um eine halbe Minute, also 30 Sekunden, je Kunde entlastet? In solchen Spitzfindigkeiten bewegt sich das Gesetz. Ich finde, das ist wirklich aberwitzig. Hilft man Existenzgründerinnen und ‑gründern, wenn man sie von Pflichten, über Statistik zu berichten, entlastet, die sich, nominal bewertet, auf gerade mal 190 Euro im Jahr belaufen? Es ist alles lächerlich, was dort an Vorschlägen gemacht wird, und es ist, wie gesagt, eigentlich abenteuerlich, dass damit hier in der Kernzeit das Parlament 96 Minuten beschäftigt werden soll.

Die größte Entlastung, nämlich ungefähr 500 Millionen Euro, soll das Gesetz schaffen, indem es die ordentliche Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro und nicht, wie bisher, ab 500 000 Euro vorschreibt. Auch das finde ich ziemlich abstrus. Jeder Unternehmer mit mindestens 500 000 Euro Umsatz macht als ordentlicher Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und Gewinn-und-Verlust-Rechnung, allein schon deshalb, damit er weiß, wo er ökonomisch steht und damit er nicht plötzlich von seinen Zahlen überrascht wird. Wer es nicht freiwillig macht, dem sollte man gesetzlich einen Fingerzeig geben und ihn, zumindest dann, wenn er 500 000 Euro Umsatz hat, dazu anhalten. Das ist schon eine Fürsorgepflicht. Deswegen finde ich es abstrus, diese Grenze zu erhöhen.

Das Hauptproblem der Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen liegt sowieso nicht in der ausufernden Bürokratie. Fragen Sie doch mal einen Handwerker! Ich höre an erster Stelle immer: Heute ist es auch so schwierig geworden, gutbezahlte Aufträge zu bekommen, die dann auch schnell bezahlt werden, vor allem bei der öffentlichen Hand. - Da gibt es manchmal ziemlich lange Fristen, bis bezahlt wird. Sie klagen vor allen Dingen auch, dass sie von der öffentlichen Hand kaum noch Aufträge bekommen. Das ist kein Wunder in Zeiten, in denen in der Kasse vieler Kommunen Ebbe herrscht. In den Schulen lässt man die Toiletten lieber vergammeln, als dass man Geld ausgibt und einen Handwerker, einen Maler, einen Klempner, beauftragt, etwas in Ordnung zu bringen.

Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen keine Aufträge für die mittelständischen Unternehmen. Deswegen: Wenn man für mittelständische und kleine Unternehmen wirklich etwas tun will, dann muss man dafür sorgen - das ist das Entscheidende -, dass sie wieder mehr Aufträge bekommen, und dann muss man die Binnennachfrage stärken. Legen Sie ein großdimensioniertes Zukunftsinvestitionsprogramm auf, und geben Sie nicht nur diese Kleckerbeträge - unter einem gesamtwirtschaftlichen Blickwinkel -, die Sie hier immer stolz vor sich hertragen! Legen Sie ein Zukunftsinvestitionsprogramm von 100 Milliarden Euro auf! Damit kann vieles geregelt werden. Das hätte dann auch den Nebeneffekt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen wieder Aufträge bekommen und vor allen Dingen auch zügig bezahlt werden.

Sorgen Sie endlich dafür, dass die Löhne in Deutschland wieder richtig steigen! Schaffen Sie andere Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln in der Tarifpolitik! Das heißt: Leiharbeit muss weg, Befristungen müssen anders geregelt werden; denn mit Leiharbeitern und befristet Beschäftigten lässt sich nicht besonders gut streiken. So lassen sich auch nicht die notwendigen Lohnerhöhungen durchsetzen. Da besteht mittelbar Handlungsbedarf. Da muss etwas geschehen.

Es gibt gegenüber dem Jahr 2000 in Deutschland eine Lohnlücke von mindestens 14 Prozent. Das entspricht einer Nachfrage von ungefähr 100 Milliarden Euro. Würden wir diese Lücke schließen, würde es in jedem Jahr eine um 100 Milliarden Euro höhere Binnennachfrage geben, und davon - das sage ich Ihnen - würden vor allen Dingen auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren.

Damit könnten wir auch für diesen Personenkreis etwas machen und eine wirklich anständige Wirtschaftsförderung betreiben.

Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der Menschen ist. Aber so, wie Sie das hier betreiben, vor allen Dingen mit Ihrer „One in, one out“-Regel, ist es sehr kontraproduktiv

und, wie gesagt, führt eher zum Ende der Reformpolitik für diese Legislaturperiode.

Ich danke Ihnen.