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Positionspapier zur Flüchtlingsproblematik nach den Aufständen in Nordafrika

Positionspapier,

Mitte Februar 2011 wurden die Nachrichten von den Aufständen in Tunesien, Ägypten, Jemen und Bahrein sowie weiterer Länder in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel plötzlich von den Bildern auf Lampedusa ankommender Flüchtlinge überschattet. Der italienische Innenminister Roberto Maroni von der neofaschistischen Lega Nord warnte ebenso wie sein Kollege Franco Frattini, Außenminister aus der rechtspopulistischen Partei „Volk der Freiheit“, vor einem „Exodus biblischen Ausmaßes“. Die Innen- und Sicherheitspolitiker/innen der EU beriefen eilig Sondergipfel ein, um ihr Vorgehen gegen die „größte Flüchtlingswelle aller Zeiten“, welche nach Ansicht der Bild-Zeitung drohte, abzustimmen.

Beschluss der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag vom 22. März 2011

Zur Lage der Flüchtlinge in Nordafrika

Mitte Februar 2011 wurden die Nachrichten von den Aufständen in Tunesien, Ägypten, Jemen und Bahrein sowie weiterer Länder in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel plötzlich von den Bildern auf Lampedusa ankommender Flüchtlinge überschattet. Der italienische Innenminister Roberto Maroni von der neofaschistischen Lega Nord warnte ebenso wie sein Kollege Franco Frattini, Außenminister aus der rechtspopulistischen Partei „Volk der Freiheit“, vor einem „Exodus biblischen Ausmaßes“. Die Innen- und Sicherheitspolitiker/innen der EU beriefen eilig Sondergipfel ein, um ihr Vorgehen gegen die „größte Flüchtlingswelle aller Zeiten“, welche nach Ansicht der Bild-Zeitung drohte, abzustimmen. Die italienische Regierung brachte die Zahl von bis zu 300.000 Flüchtlingen ins Gespräch, die mittelfristig nach Europa kommen könnten, falls die nordafrikanischen Staaten nach den Aufständen nicht weiterhin bei der Flüchtlingsabwehr mit der EU und ihren südlichen Mitgliedstaaten kooperieren würden. Diese Einschätzung stammt noch aus der Zeit vor der militärischen Eskalation des Aufstands in Libyen, in dessen Zuge mittlerweile (7.3.2011) fast 200.000 Menschen – darunter viele Gastarbeiter – in die Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten flohen und den Luftangriffen einer „Koalition der Willigen“, die weitere Fluchtwellen auslösen werden.

Analyse: bewusst erzeugte Notlage auf Lampedusa, Handlungsbedarf bei Bürgerkriegsflüchtlingen

Bislang sind 2011 etwa 14.000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Europa angekommen, über 6.000 von ihnen innerhalb weniger Tage Mitte Februar auf der italienischen Insel Lampedusa. Damit ist weder die Frequenz, noch der Umfang der Fluchtbewegungen nach Südeuropa nach den Umstürzen in Nordafrika bedeutend höher als in den Spitzenjahren 2006 bis 2008, bevor sich mit Libyen die letzte nordafrikanische Regierung zur Kooperation mit der EU und ihrer Grenzschutzagentur FRONTEX entschloss und die Fluchtroute über Lampedusa nahezu vollständig geschlossen wurde. Zuvor waren jährlich bis zu 35.000 Flüchtlinge auf Lampedusa angekommen, auch damals mehrfach tausende innerhalb von wenigen Tagen.

Die humanitäre Notlage auf Lampedusa wird bewusst von der italienischen Regierung und der Grenzschutzagentur FRONTEX erzeugt, indem größeren und sichereren Schiffen die Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer untersagt und sämtliche aufgegriffenen Flüchtlingsboote trotz der Proteste der dortigen Bevölkerung nach Lampedusa umgeleitet werden. Diese kleine Insel mit knapp 6.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und ihren improvisierten Aufnahmeeinrichtungen ist zweifelsfrei bereits mit wenigen tausend Flüchtlingen völlig überfordert, die hingegen auf Sizilien und erst recht auf dem europäischen Festland kaum ins Gewicht fallen würden. Die italienische Regierung nutzt diesen Notstand für ihre rechtspopulistische Mobilmachung und um von der EU Zugeständnisse zu erpressen. Die EU-Innenpolitiker/innen nehmen ihn hingegen als Vorwand für Forderungen nach einer Verschärfung der Flüchtlingsabwehr und dem weiteren Ausbau der Grenzschutzagentur FRONTEX, welche die nationalen Kontrollsysteme ergänzt und erweitert, die seit Jahrzehnten auf Abschreckung und Kriminalisierung der Migrationsbewegungen zielen. Die Prognosen über angeblich zu befürchtende Fluchtbewegungen entlarven letztlich die Folgen der Europäischen Sicherheits-, Freihandels-, Klima- und Rohstoffpolitik, welche den Menschen in Afrika die Lebensgrundlagen entzieht. Vor diesem Hintergrund ist und war es die Aufgabe der von Deutschland und der EU unterstützten Regierungen in Nordafrika, die eigene Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen und ebenso wie die Transitmigrantinnen und -migranten von der Ausreise Richtung Europa abzuhalten. Hierfür wurden sie von der EU und ihren Mitgliedsstaaten trotz aller Menschenrechtsverletzungen – bzw. gerade wegen dieser Menschenrechtsverletzungen – großzügig mit militärischer und polizeilicher Ausbildungs- und Ausstattungshilfe sowie Rüstungsexporten bedacht. Der militärische Aufmarsch der „Koalition der Willigen“ im Mittelmeer und die von dort gestarteten Luftangriffe, drohen die Flucht über die libyschen Seegrenzen unmöglich, zumindest aber noch gefährlicher zu machen, da es sich faktisch um ein Kriegsgebiet handelt.

Neben der von der italienischen Regierung und Frontex bewusst erzeugten humanitären Notlage auf Lampedusa herrscht in den Grenzregionen zwischen Libyen und Tunesien und Ägypten eine weitere humanitäre Notlage, auf die schnell reagiert werden muss. Hier ist mit weiteren Bürgerkriegsflüchtlingen zu rechnen, solange die Gefechte und Luftangriffe in Libyen anhalten und erst recht, wenn es zum Einsatz ausländischer Bodentruppen kommen sollte. Der ganz überwiegende Teil der Flüchtlinge hier hofft nicht auf eine Weiterreise nach Europa, sondern auf den Transit in ihre Herkunftsländer oder vorübergehenden Schutz bis zu einer Rückkehr nach Libyen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) hat an die Weltgemeinschaft appelliert, hunderte von Flugzeugen zur Verfügung zu stellen, um die Flüchtlinge in ihre Heimatländer zu evakuieren, zahlreiche Staaten sind dem bereits nachgekommen. Die Bundesregierung hingegen nutzte die prekäre humanitäre Lage, um ihre militärische Präsenz im Mittelmeer auszubauen und zu legitimieren, indem sie aus Libyen geflohene Ägypter/innen mit Schiffen der Bundeswehr nach Ägypten zu transportierte. In den Flüchtlingslagern an den libyschen Grenzen besteht dringender Bedarf an humanitärer Soforthilfe, insbesondere an sanitären Anlagen und medizinischer Versorgung. Großer Gefahr sind weiterhin Flüchtlinge u.a. aus Somalia, Eritrea, aber auch aus dem Irak und weiteren Staaten des Nahen und Mittleren Ostens ausgesetzt, welche auf ihrer Flucht nach Europa Libyen passierten und dort durch die libyschen Repressionsorgane in Aufnahmezentren und Abschiebehaftanstalten festgesetzt wurden. Insbesondere den Somalis und Eritreern droht im Zuge des Bürgerkriegs weitere Gewalt, da sie mit Söldnern verwechselt werden und rassistische Vorurteile bereits in der Vergangenheit zu pogromartigen Übergriffen geführt haben. Deutschland und die EU müssen ihre Verantwortung für das Schicksal dieser Menschen anerkennen und gegenüber allen Beteiligten den Schutz dieser Personen sowie deren sicheren Transit in einen der Nachbarstaaten oder die EU einfordern.

Wir fordern von der Bundesregierung:
  • unverzüglich zivile Transportkapazitäten zur Verfügung zu stellen, um die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ägypten und Tunesien – so sie dies wollen – in ihre Herkunftsländer zu evakuieren sowie den Regierungen Tunesiens und Ägyptens finanzielle und zivile logistische Unterstützung für die Nahrungsmittelversorgung zuzusagen;
  • unverzüglich humanitäre Soforthilfe zur Verfügung zu stellen, um Tunesien und Ägypten bei der Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge zu unterstützen;
  • innerhalb der NATO, der EU und gegenüber ihren europäischen Partnern ihre Ablehnung gegen jedes militärische Eingreifen zum Ausdruck zu bringen und entsprechend ihr Veto in den genannten Organisationen einzulegen;
  • ihre Rüstungsexporte, die Ausbildungs- und Ausstattungshilfe sowie sämtliche Maßnahmen im Rahmen ihrer „Vorverlagerungsstrategie“ bei der Flüchtlingsabwehr umgehend einzustellen;
  • sich jedem Versuch entgegenzustellen, die bewusst erzeugte humanitäre Notlage auf Lampedusa für Forderungen nach einem weiteren Ausbau der Grenzschutzagentur FRONTEX auszunutzen;
  • sich für eine Änderung des Dublin-II-Abkommens einzusetzen, so dass Flüchtlinge ihr Zufluchtsland weitestgehend selbst bestimmen können und ein EU-Ausgleichsmechanismus sich an der Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten orientiert;
  • auf die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonventionen, die Auflösung von FRONTEX und den Stopp der Bekämpfung von Flüchtlingen und Migranten an und vor den EU-Außengrenzen hinzuwirken;
  • ihre Bereitschaft zu erklären, sich an der Aufnahme der vom UNHCR in Libyen registrierten Flüchtlinge in Deutschland zu beteiligen, hierfür mit Organisationen wie der Save-me-Kampagne gegenüber der deutschen Bevölkerung zu werben und gegenüber ihren Partnern in der EU ebenfalls für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Libyen einzutreten;
  • unter humanitären Gesichtspunkten gegenüber der italienischen Regierung eine dezentrale Erstaufnahme der Flüchtlinge einzufordern;
  • im Falle der Flucht einer hohen Zahl von libyschen Staatsangehörigen, die die afrikanischen Nachbarstaaten überfordert, selbst Kapazitäten für die Aufnahme dieser Flüchtlinge bereit zu stellen. Die Bundesregierung soll sich dabei um eine Beteiligung möglichst vieler weiterer EU-Staaten bemühen.