Zum Hauptinhalt springen

Bundesregierung trickst bei der Ermittlung des Hartz IV Regelsatzes

Positionspapier von Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping,

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 9. Februar die Hartz IV Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde der Auftrag erteilt bis zum 31. Dezember 2010 mit einem Gesetz das menschenwürdige Existenzminimum neu zu ermitteln. Die Bundesregierung hat – nach wochenlangen Ablenkungsmanövern mit Diskussionen über eine „Bildungschipkarte“ – ihre Vorschläge vorgelegt. Die Bundesregierung macht mit der Entscheidung deutlich, dass sie die Lebenswirklichkeit von vielen Millionen Menschen nicht kennt und letztlich deren Würde nicht zu schützen gewillt ist.

Arbeitskreis IV
Arbeit und soziale Sicherung
verantwortlich: Diana Golze, MdB, Leiterin des Arbeitskreises

1) Das Urteil
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 9. Februar die Hartz IV Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde der Auftrag erteilt bis zum 31. Dezember 2010 mit einem Gesetz das menschenwürdige Existenzminimum neu zu ermitteln. Das Verfassungsgericht hat dabei gefordert, dass die Regelleistungen für Erwachsene und Kindern transparent und sachgerecht ermittelt werden, die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen eigenständig ermittelt werden und die jährliche Anpassung der Leistungen eine dauerhafte Deckung des Existenzminimums gewährleistet. Unabweisbare, laufende besondere Bedarfe müssten gedeckt werden.   

2) Was sich konkret verändert
Die Bundesregierung hat – nach wochenlangen Ablenkungsmanövern mit Diskussionen über eine „Bildungschipkarte“ – ihre Vorschläge vorgelegt. Danach soll die Regelleistung für Erwachsene lediglich um fünf Euro und für Kinder und Jugendliche überhaupt nicht steigen. Ergänzend wird ein „Bildungs- und Teilhabepaket“ für Kinder großspurig als großer Wurf verkauft. Dieses Paket beinhaltet die Anerkennung von Schulausflügen und mehrtägigen Klassenfahrten, 100 Euro im Jahr für Schulbedarfe, die Finanzierung von „angemessener Lernförderung“, einen Zuschuss zur gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung sowie 10 Euro pro Monat für die „Teilhabe“.

3) Politische Bewertung
Die Bundesregierung macht mit der Entscheidung deutlich, dass sie die Lebenswirklichkeit von vielen Millionen Menschen nicht kennt und letztlich deren Würde nicht zu schützen gewillt ist. Denn: Hartz IV reicht vorne und hinten nicht aus. 128 Euro im Monat für Ernährung sind eine staatlich verordnete Fastenkur, die lediglich eine gesundheitsgefährdende Mangelernährung erlaubt. Die jetzt geplante Erhöhung von Hartz IV um magere 5 Euro für Erwachsene gleicht nicht einmal den Kaufkraftverlust seit 2003 aus.  Dieser betrug zwischen 2003 und 2008 etwa 20 Euro. Das „Angebot“ der Bundesregierung ist daher faktisch eine Absenkung des Standards.
Dies gilt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, deren Leistungen unverändert bleiben. Die vermeintliche Großtat des „Bildungs- und Teilhabepakets“ – 600 Mio. Euro, von denen etwa 480 Mio. Euro zusätzlich sein sollen - finanzieren die Familien mit Kleinkindern im Hartz IV Bezug. Die Kürzung des Elterngeldanspruchs für Hartz IV Leistungsberechtigte finanzieren so das Bildungspaket. Dafür steht das Geld den betroffenen Familien nicht mehr frei zu Verfügung, sondern es wird lediglich im behördlich zu genehmigenden Bedarfsfall ein Gutschein ausgehändigt. Welch ein Fortschritt!    

Der wahre Charakter der Bundesregierung zeigt sich bei einem kurzen Blick auf die Haushaltsplanungen, die das sog. „Sparpaket“ umsetzen: Kürzungen um 3 Mrd. Euro für 2011 beim Arbeitslosengeld II (gegenüber 2010) und 1,3 Mrd. Euro weniger für die Maßnahmen zur Förderung der Leistungsberechtigten. Die Reichen und Wohlhabenden werden dagegen hofiert und von Belastungen verschont.

4) Regelsatzberechnung mit Tricks
Mit Tricks und Manipulationen hat die Bundesregierung gearbeitet, um ein politisch gewünschtes Ergebnis zu erhalten. Das Ziel von 364 Euro Regelleistungen wurde bereits zwei Jahre vor der jetzigen Regelsatzberechnung im Siebenten Existenzminimumbericht vom Finanzministerium, damals geführt von Peer Steinbrück (SPD), vorgegeben. Zentrales Ziel der Bundesregierung ist die Einhaltung der Haushaltsvorgaben mit Leistungskürzungen für Hartz IV Leistungsberechtigte. Frühzeitig hat der Vizekanzler Westerwelle deutlich gemacht, dass mit dieser Regierungskoalition keine spürbaren Leistungserhöhungen zu machen sind. Wie hat die Bundesregierung nun die Vorgabe praktisch umgesetzt?

  1. Sie hat schlicht bei der Auswertung der zugrundeliegenden Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe verschiedene Alternativen durchrechnen lassen – und dann die genehme Variante genommen. Gegenüber der bisherigen Praxis wurde bei den Single-Haushalten nicht die Gruppe der untersten 20% der Haushalte genommen, sondern die untersten 15%. Dadurch wird das Einkommen der sog. Referenzgruppe gemindert, das gleichzeitig Ausgangspunkt der Berechnung des Regelsatzes ist.
  2. Gleichzeitig hat das Ministerium es unterlassen, eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Das Gericht hatte gefordert, diejenigen Haushalte aus der Betrachtung rauszunehmen, deren Standards unterhalb des Hartz IV Niveaus liegen. Diese sogenannten „verdeckt Armen“ sind daher weiterhin Bestandteil der Referenzgruppe. Menschen die auf Hartz IV Niveau leben sind Ausgangspunkt für die Berechnung des Hartz IV Leistungsniveaus – ein lupenreiner und verfassungswidriger Zirkelschluss. Das Einkommensniveau für die Regelsatzberechnung wird dadurch nochmals abgesenkt.
  3. Schließlich stuft die Bundesregierung einzelne Ausgabeposten als nicht „regelsatzrelevant“ ein, mit der Begründung, diese Ausgaben würden für die Existenzsicherung nicht benötigt. Bereits 2003 wurden lediglich drei Viertel der Ausgaben der Referenzgruppe „anerkannt“. In besonders perfider Weise streicht die Regierung die Ausgaben für Alkohol und Tabak, um die Leistung um über 16 Euro zu senken. Die Ausgaben für Mobilität werden ebenfalls massiv kleingerechnet. Der tatsächliche Mobilitätsbedarf liegt fast 19 Euro höher als der von der Regierung anerkannte Bedarf. Allein durch eine Korrektur dieser beiden Punkte müsste der ermittelte Regelbedarf bei Erwachsenen um etwa 35 Euro höher liegen!  

Zu den Manipulationen passt, dass die Bundesregierung auf die Herstellung von Transparenz durchgängig verzichtet hat. Experten haben dem Bundesministerium schon früh „Geheimniskrämerei“ vorgeworfen. Auch nach der Veröffentlichung der Referentenentwürfe stehen die Rohdaten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nicht für eine regierungsunabhängige Kontrolle zur Verfügung.

Die Bundesregierung verweist regelmäßig auf die „einfachen Leute“. Diese Beschäftigten hätten lediglich ein geringes Einkommen. Sie müssten aber zur Bewahrung des Lohnabstandsgebots mehr Geld zur Verfügung haben als Erwerbslose. Diese Argumentation ist heuchlerisch: Erstens ist das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unabhängig von irgendeinem Lohnabstand. Zweitens ist es heuchlerisch, weil dieselbe Regierung sich weigert, gegen prekäre Arbeit wie Leiharbeit rechtlich vorzugehen und einen Existenz sichernden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Mit diesem Argument wird der soziale Frieden gefährdet. Erwerbstätige Arme werden gegen erwerbslose Arme ausgespielt und aufgehetzt. Die Politik der sozialen Spaltung wird verschleiert und vernebelt.