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Zwei große Mythen

Im Wortlaut von Jan Korte,

Aufarbeitung der Vergangenheit muss in Deutschland jeden Tag neu erkämpft werden – auch gegen die Union

 

Von Jan Korte, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Ein besonders dreister, aber zählebiger Mythos der Bundesrepublik ist jener, dass Staat und Gesellschaft die NS-Vergangenheit hervorragend und umfassend aufgearbeitet hätten. Deutschland hält sich für einen Erinnerungsweltmeister, die Aufarbeitung der eigenen Geschichte gehöre zu den Selbstverständlichkeiten der Bundesrepublik.

Der zweite, viel jüngere Mythos, der weit weniger schlimm ist, betrifft die Union. Rauf und runter wird behauptet, die CDU habe sich unter Angela Merkel vollständig modernisiert, sei weltoffen und eine quasi sozialdemokratische Partei geworden (was beim Zustand der SPD auch nicht besonders schwierig wäre).

Am Beispiel der Geschichtspolitik können beide Aussagen widerlegt werden.

Die Erinnerung an den deutschen Faschismus und sein singuläres Menschheitsverbrechen, den Holocaust, musste in der Bundesrepublik bitter, Meter für Meter, erkämpft werden. Diesem steinigen Weg, der von außen aufgezwungen war (Entnazifizierung, Nürnberger Prozesse) oder aber von minoritären Einzelpersonen (Fritz Bauer, Martin Niemöller) vorangebracht wurde, stellten sich nicht nur die Täter, sondern auch relevante Teile von Politik und die Mehrheit des Wahlvolkes entgegen. Weite Teile der Gesellschaft übernahmen die Ausreden und Lügen der Angeklagten im Hauptkriegsverbrecherprozess von Nürnberg: Demgemäß waren auf personeller Ebene eigentlich nur Hitler, Himmler und Goebbels schuldig, auf organisatorischer Ebene die SS und der SD. Keinesfalls schuldig waren aber die Wehrmacht, die Bürokratie, das Auswärtige Amt, die Reichsbahn, die Wirtschaft, die Luftwaffe, die Marine, die Justiz, der gesamte Verwaltungsapparat des Dritten Reiches, Staatsrechtler, Diplomaten, die einfachen und hochrangigen NSDAP-Mitglieder, kurz: fast alle. Eigentlich sei man sogar das eigentliche Opfer: Opfer von Hitler, Opfer des Krieges, Opfer der Entnazifizierung.

Noch in den 1950er und 1960er Jahren galt Graf Stauffenberg als Landes- und Hochverräter, der zu Recht liquidiert worden sei. Erst im sogenannten Remer-Prozess führte Fritz Bauer den Nachweis, ein durch und durch verbrecherisches Regime wie der Nationalsozialismus könne gar nicht hochverratsfähig sein. (»Unrecht kennt keinen Verrat!«)

Ebenfalls von Fritz Bauer und seinem Team initiiert, kam der Auschwitzprozess zustande, der erstmals versuchte, durch die deutsche Justiz einen Gesamtblick auf die arbeitsteilig und industriell durchgeführte Vernichtung von Millionen Menschen zu lenken und individuell Schuldige zu belangen. Noch heute graust es einen, wenn man die Empathielosigkeit der Massenmörder im Gerichtssaal sieht. Das Besondere am Auschwitzprozess erkennt man erst daran, dass ansonsten de facto kaum eine Strafverfolgung von NS-Tätern stattfand. Vielmehr waren die meisten NS-Richter wieder in Amt und Würden, bezogen üppige Pensionen oder wurden Ministerpräsident (Filbinger). Dabei waren die personellen Kontinuitäten schon skandalös genug - eine unerträgliche Zumutung für die Opfer. Aber diese Täter bestimmten eben auch maßgeblich die Rechtsprechung in diesem Bereich: Wenn überhaupt NS-Täter verurteilt wurden, dann nicht als überzeugte, nationalsozialistische Mörder, sondern lediglich als Gehilfen, frei von eigener Überzeugung. Das gilt selbst für Massenmörder, die eigenhändig selektiert oder das Gas eingeworfen hatten. Man übernahm einfach das gesellschaftliche Entschuldungsmuster: die Reduzierung der Täterschaft auf Hitler und Himmler.

Bei all diesen Rückschlägen einer fortschrittlichen Geschichtspolitik gab es aber immer auch Erfolge: Das öffentliche Interesse am Auschwitzprozess war enorm; der Blick richtete sich nunmehr auch auf die Täter; Menschen wie Bauer, Niemöller, Heinemann oder der Kommunist und Auschwitzüberlebende Hermann Langbein waren Impulsgeber für die Achtundsechziger und einen neuen politischen Aufbruch, symbolisiert vom Kniefall des Nazigegners Willy Brandt.

Aber: Jeder Fortschritt, jede Entschädigung, jedes Verfolgen der Täter, jeder Gedenkstein und vor allem jede öffentliche Aufarbeitung der Geschichte von Institutionen mussten und müssen weiter erkämpft werden. Vor 20 Jahren sorgte die erste Wehrmachtsausstellung für enorme gesellschaftliche Debatten, obgleich der verbrecherische Charakter der Wehrmachtskriegführung in Osteuropa nichts Neues war. Aber die Legende von der sauberen Wehrmacht hielt sich hartnäckig. Daher wurden die von den Wehrmachtsgerichten tausendfach dahingemordeten Deserteure und Kriegsverräter auch erst im Jahre 2002 bzw. 2009 rehabilitiert. Die in erster Linie auf das Konto der Wehrmacht gehenden ermordeten und verhungerten sowjetischen Kriegsgefangenen bekommen sogar erst mit Bundestagsbeschluss von 2015 eine symbolische finanzielle Entschädigung. Gegen enorme Widerstände vor allem in den Reihen der CDU/CSU wurden diese Beschlüsse durchgesetzt.

Bei aller Kritik: Die Studie über den verbrecherischen Charakter des Auswärtigen Amtes ist ein hart erkämpfter Meilenstein in der offiziellen Auseinandersetzung der Institutionen des Bundes mit der NS-Zeit. Auch die Studien zur Geschichte des BKA oder des BND sind in weiten Teilen kritisch, aufklärerisch und vor allem überfällig. Entscheidend ist, dass sie von der offiziellen Politik in Auftrag gegeben wurden: Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe von Linken, kritischer Wissenschaft und aufklärerischem Journalismus. Und, ja, natürlich erscheinen diese Studien in einer Zeit, in der die Täter tot sind. Trotzdem haben sich diese geschichtspolitischen Kämpfe gelohnt.

Oder auch nicht: Aktuell diskutiert der Bundestag einen Antrag, der die Einsetzung einer Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Kanzleramtes fordert. Nach den oben benannten Studien ist es zentral, die exekutive Schaltzentrale der damaligen Bundesrepublik in den Blick zu nehmen. Hier agierte nicht nur jahrelang der Nazi Hans Globke, sondern es wurden auch die politisch-strukturellen Entscheidungen getroffen, die die Entnazifizierung beendeten und die alten Eliten rehabilitierten - politisch flankiert und ideologisch über den Antikommunismus begründet. Deswegen ist diese Aufarbeitung zwingend erforderlich. Soweit man denn ein Interesse an solch einer Aufarbeitung, die besonders für die Union unangenehm werden dürfte, hätte. Genau das hat eben diese aber nicht. Daher lohnt es sich, das Protokoll der ersten Lesung des erwähnten Antrages im Bundestag genau anzusehen:

Der Redner der CDU/CSU-Fraktion Philipp Lengsfeld hält den von der LINKEN gestellten Antrag grundsätzlich für einen »Teil einer größeren PR-Kampagne«. Wie bei Konservativen seit Jahrzehnten üblich, soll die Verdrängung der Aufarbeitung mit totalitarismustheoretischen Versatzstücken erreicht werden. Lengsfeld muss den Antrag ablehnen, weil er von der falschen Partei gestellt wurde. Als sei man auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, ist das Problem nicht die ausgebliebene Aufarbeitung der Geschichte des Kanzleramtes oder gar die Benennung und Verfolgung der Täter, sondern die SED.

»Wenn wir über die Nachkriegszeit in Westdeutschland nachdenken - gerade im Hinblick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit -, dann müssen wir auch über die Rolle der SED und der DDR-Staatsmacht reden.« Es ist ein bekanntes Muster, bei Erwähnung des NS-Faschismus umgehend auf die DDR zu sprechen zu kommen. Das Gerede von zwei deutschen Diktaturen oder zwei totalitären Systemen kann nur eine Folge haben: die Relativierung des Nationalsozialismus und damit des Holocaust. Zudem stellt sich die Frage, was die DDR in dieser Debatte, in der es dezidiert um die Geschichte des westdeutschen Kanzleramtes geht, zu suchen hat. Es ist unbenommen, auch eine Unabhängige Historiker-Kommission zur Erforschung der NS-Vergangenheit des Politbüros einzusetzen. Die wird aber weitaus weniger zu tun haben als das Pendant zum Kanzleramt, aber das nur am Rande.

Lengsfeld beklagt die damaligen Kampagnen der SED gegen die Bundesrepublik - die es in der Tat reichlich gab. »Es wurde suggeriert, dass in Westdeutschland die NS-Vergangenheit nicht nur nicht aufgearbeitet wurde, sondern dass es eine personelle, geistige und strukturelle Kontinuität gab.« In der Tat wurde dies behauptet. Und in der Regel war es stets eines: zutreffend. Aber davon abgesehen: Ist dies ein Grund, gegen den Antrag zu stimmen? Schließlich endet Lengsfeld in rauschhaftem Antikommunismus, der wie eine Möchtegern-Drohung daherkommt: »Diesen Antrag in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt (einen Tag vor dem 8. Mai 2015, sic!) einzubringen, war kein ernst gemeintes Gesprächsangebot, sondern ein rein taktisches Manöver der Scharfmacher in Ihren Reihen, und genauso werden wir Ihren Antrag auch behandeln.« Wow.

In unübertroffener Weise führen sich so die eingangs skizzierten Mythen von der gelungenen Aufarbeitung der Geschichte und der Liberalisierung der CDU ad absurdum. Man muss ihnen nur die eigene Melodie vorspielen.

Unentschieden und ohne einen klaren Standpunkt argumentiert - wie gewohnt - der Vertreter der SPD. Der Abgeordnete Martin Döhrmann erkennt zwar die Notwendigkeit an, personelle Kontinuitäten umfassend aufzuarbeiten, kommt dann aber wie sein Kollege Lengsfeld auf die NS-Aufarbeitung der DDR zu sprechen. Offenbar ist dies mittlerweile zwanghaft. Und wie so oft bei diesen Themen lässt sich die SPD vom Koalitionspartner unter Druck setzen. Es waren im Übrigen auch Sozialdemokraten, die unter dem vom Kanzleramt orchestrierten Antikommunismus gelitten haben. Willy Brandt wurde aus dieser Institution heraus beschimpft und denunziert. Die Geschichtslosigkeit vieler heutiger Sozialdemokraten ist erschreckend.

Wenn es aber noch eines Beweises bedurfte, dass der Geist Alfred Dreggers noch maßgeblich in der Union haust, dann sollte man sich die Rede der CDU-Abgeordneten Astrid Freudenstein anhören. Gleich am Anfang wird die große Lüge der Bundesrepublik serviert: »Vermutlich hat kein Land der Welt seine Geschichte und die seiner Institutionen so intensiv wissenschaftlich aufarbeiten lassen wie wir Deutsche.« Die CDU-Politikerin bemerkt überhaupt nicht, dass es auch kein Land auf dem Erdball gegeben hat, das solch unvorstellbare Verbrechen begangen hat. Und sie widerlegt ihre Aussage dadurch, dass sie gegen die Historikerkommission fürs Kanzleramt stimmt und gleichzeitig behauptet, dass die Aufarbeitung Weltmeisterniveau habe.

Freudenstein macht klar, dass Linke per se kein wirkliches, ehrliches Anliegen haben können: »Es geht Ihnen vermutlich nicht wirklich um die Aufarbeitung selbst, sondern es geht Ihnen vermutlich darum, sich selbst als etwas darzustellen, nämlich als Speerspitze der historischen Aufklärung.« Dieser Satz, der selbst in geschichtspolitischen Debatten für CDU/CSU-Verhältnisse außergewöhnlich blöde ist, lässt das autoritär-elitäre Weltbild in diesen Kreisen erkennbar werden. Neu ist nur, dass das Niveau deutlich gesenkt wurde.

Wie bei den Rednern zuvor wird natürlich die DDR ins Feld geführt, falsche Positionen der Historischen Kommission der Linkspartei werden angeprangert. Hierbei fragt man sich übrigens, ob die Union selber auch eine Historikerkommission hat und es dort jemals Debatten über die Rolle der Partei in den 1950er und 1960er Jahren gab.

Freudenstein endet damit, dass sie nicht verstehen kann und trotzdem kritisiert, wie man mit Geschichte Politik machen kann: »Sie fassen Geschichtsschreibung als Instrument des Politischen auf, und das gehört eigentlich ins 19. Jahrhundert.«

Eine Rednerin, die dezidiert Geschichtspolitik macht, wirft anderen vor, Geschichtspolitik zu machen. Es ist wirklich bizarr. Das Grundproblem in diesem Denken ist aber, dass die Vertreter der Union meinen, dass ihre Geschichtsschreibung die einzig wahre sei - was sonst eigentlich autoritären Linken vorbehalten war. Im Umgang mit Geschichte geht es immer um Deutungen und Interpretationen. Daher ist die Behauptung, Deutschland habe seine Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet, in erster Linie eines: Geschichtspolitik. Und diese Geschichtspolitik wurde in den letzten 60 Jahren eben maßgeblich von konservativer und reaktionärer Seite dominiert. Aber gleichwohl wurden in der Geschichtspolitik auch Fortschritte erzielt. Es ist und bleibt ein umkämpftes Feld, dem sich eine geschichtsbewusste Linke selbstkritisch stellen muss.

Die Debatte um die Aufarbeitung der Geschichte des Kanzleramtes räumt aber mit den eingangs dargelegten Mythen auf: Die Aufarbeitung ist eben nicht selbstverständlich und vorbildlich - sie muss jeden Tag erkämpft werden. Und zum zweiten: Die CDU/CSU ist nicht liberalisiert, ist nicht geschichtsbewusst und hat dennoch den Gestus des geschichtlichen Alleinvertretungsanspruches.

Gegen beides müssen wir uns wenden.

neues deutschland, 24. August 2015