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Zivile Helfer werden nicht vom Acker geschossen

Interview der Woche von Christine Buchholz, Jan van Aken,

Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE Jan van Aken und Christine Buchholz waren Ende Januar für fünf Tage in Afghanistan unterwegs. Der Fraktionsvize und die friedenspolitische Sprecherin trafen Opfer des Bundeswehr-Bombardements in Kunduz, Entwicklungshelfer und führende afghanische Politiker. Im Interview sprechen sie über die Bombennacht, den zivilen Aufbau des Landes und darüber, warum es für Afghanistan immer noch Hoffnung gibt.

Welche neuen Informationen haben Sie aus den Gesprächen mit Opfern und Angehörigen des Kunduz-Bombardements gewonnen?

Jan van Aken: Bisher unbekannt war mir vor allem die große Zahl der getöteten Kinder unter den wahrscheinlich mehr als hundert Zivilisten, die zu Tode gekommen sind.

Christine Buchholz: Es sollen allein 26 Schüler unter den Toten sein.

Um Opferzahlen und darüber, ob es Zivilisten oder Taliban waren, gibt es heftige Diskussion. Wie wurden diese Zahlen ermittelt?

Buchholz: Bei diesen Zahlen handelt es sich um Daten, die von zwei Vertreterinnen des Provinzrates von Kunduz ermittelt wurden. Sie sind nach dem Bombardement in den Dörfern von Haus zu Haus gegangen und fragten nach, wer Angehörige verloren hat. Sie haben nicht nur Opferzahlen aufgenommen, sondern auch recherchiert, ob das potentielle Taliban sind oder nicht. Wir haben diese Personen getroffen und mit Dokumenten wie Wahlausweisen und Schulzeugnissen haben sie uns glaubhaft versichert, dass diese Personen keine Taliban sind.

van Aken: Die Gespräche mit Verletzten und Angehörigen von Todes-Opfern haben aber auch eine andere wichtige Erkenntnis gebracht. Bislang fragte man sich ja immer: „Was machen denn nachts um zwei Uhr überhaupt so viele Menschen da auf der Sandbank? Das können ja nur Taliban sein.“ Aus den Gesprächen vor Ort wissen wir jetzt, dass die Tanklaster ein großes Ereignis im Dorf darstellten…

... das sich niemand entgehen lassen wollte?

van Aken: Genau. Deswegen liefen alle dahin, selbst kleine Kinder. Eine Großmutter erzählte uns, sie habe ihre Enkel zuerst ins Bett geschickt, aber irgendwann gegen Mitternacht seien die Kleinen nicht mehr zu halten gewesen. Sie seien losgerannt. Nur um zu gucken, was da los ist.
Das alles wirft aber auch die Frage auf: Warum wusste die Bundeswehr das vor dem Bombenabwurf nicht, denn Kinder unterscheiden sich ganz eindeutig von Taliban? Wie konnte dieser Einsatzbefehl gegeben werden? Das alles muss im Untersuchungsausschuss geklärt werden.

Medienberichten zufolge soll ja ein Informant vor Ort gewesen sein, der die Bundeswehr informierte.

van Aken: Genau, und da muss jetzt die Frage gestellt werden: Wer war der Informant vor Ort? Aus welchen Gründen hat er diese Information mit den Kindern verschwiegen? Welche anderen Interessen schwingen da mit? All das müssen wir noch genau untersuchen und aufklären.

In Kabul habe Sie Organisationen getroffen, die zivilen Wiederaufbau betreiben. Wie schätzen Sie die Arbeit dieser Organisationen ein?

van Aken: Spannend ist, dass diese Entwicklungshelfer ohne militärische Begleitung in Gebiete fahren können, die eigentlich als „No-go-Area“ gelten. Sie erzählten uns von einem landwirtschaftlichen Projekt in der Provinz Uruzgan und den Sicherheitsbedenken, als sie dieses Projekt initiierten. Man sagte ihnen, dort würden sie sofort vom Acker geschossen. Wurden sie aber nicht.

Warum nicht?

van Aken: Bevor sie das Projekt starteten, haben sie zusammen mit Afghanen erst einmal analysiert, wie die Provinz eigentlich funktioniert. Wer dort das Sagen hat, wer die käm¬pfen¬den Fraktionen sind. Dann haben sie das Projekt gemeinsam mit den wichtigen Leuten langfristig geplant. Sie haben nicht einfach nur einen Brunnen gebohrt, sondern ganz konkret die Möglichkeiten der Landwirtschaft, der Verwertung und des Verkauf der Produkte besprochen.

Selbst in umkämpften Provinzen ist es also möglich, langfristig Entwicklungsarbeit zu leisten?

van Aken: Wenn man die Menschen vor Ort konkret in den Aufbau einbezieht, dann wird auch nichts zerstört, wenn das Militär wieder weg ist.

Buchholz: Es gibt zahlreiche positive Beispiele des zivilen Aufbaus, wenn man so vorgeht, wie eben beschrieben. Was aber nicht funktioniert, dass ist die so genannte zivilmilitärische Kooperation der Bundeswehr.

Warum?

Buchholz: Bei unserem Besuch in dem Bundeswehr-Lager in Kunduz haben wir eine solche Einheit im Einsatz gesehen. Mit Zivilem hat das nichts zu tun. Stattdessen handelt es sich dabei um große gepanzerte Fahrzeuge mit bis an die Zähne bewaffneten Leuten. Das ist ein Ansatz der absolut nicht funktioniert.

van Aken: Allein schon das Lager, wo dieses Team der Bundeswehr stationiert ist, sieht aus wie eine Festung. Das macht nicht den Eindruck eines Aufbauteams, sondern den absoluten Eindruck von: „Hier ist Krieg.“ Da muss sich das Militär wirklich auf eine kleine super geschützte Insel zurückziehen. Kontakt zur Bevölkerung ist da kaum möglich ...

Buchholz: ... und ohne den Kontakt zu den Menschen, kann sich diese Aufbauarbeit auch nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Wir haben mit einem Abschnittsmanager aus Chahar Dara gesprochen, eine jener heftig umkämpften Regionen. Er sagte uns, man sollte diese „zivilmilitärischen“ Lager der Bundeswehr lieber abbauen und für das Geld Schulen errichten. Damit wäre der Region sehr viel mehr geholfen als mit dieser Art der Zusammenarbeit, die natürlich auch immer wieder zu Gefechten führt.

Welche Themen bewegen die Menschen noch im Land?

van Aken: Ein wichtiges Thema für viele Afghanen sind die Kriegsverbrecher und Banditen, die Teil des Parlamentes und sogar der Regierung in Kabul sind. So lange das so ist, so ihre Einschätzung, wird es kein Frieden geben. Es ist problematisch, dass der Westen ausgerechnet Karzai unterstützt, der Kriegsverbrecher ins Kabinett geholt hat.

Das Parlament hat kürzlich bereits zum zweiten Mal die von Präsident Karzai vorgeschlagenen Minister abgelehnt. Oft hat man den Eindruck, dass zwischen Parlament und Präsident doch ein ziemlicher Interessens- und Meinungsunterschied besteht?

van Aken: Die zentrale Aussage aller Parlamentarier, die wir trafen, war folgende: Der Präsident versucht das Parlament zu umgehen, wo es nur geht. Selbst vor der so wichtigen Afghanistan-Konferenz in London hat er das Parlament nicht einbezogen, nicht einmal danach.

Das hat mit unserer Idealvorstellung von Demokratie wenig zu tun.

van Aken: Ich selbst konnte Karzai kürzlich in Berlin hören, wo er sich offen darüber beschwert hat, was das für eine blöde Demokratie sei in seinem Land, wo er alle seine Minister vom Parlament bestätigen lassen müsse. Solche Entscheidungen ohne Parlament zu treffen, wäre ihm viel lieber - obwohl das gegen die Verfassung verstößt.

Auf der Afghanistan-Konferenz in London wurde nicht nur eine Truppenaufstockung um bis zu 39 000 Soldaten beschlossen, sondern auch ein millionenschweres Aussteigerprogramm für Taliban. Deutschland beteiligt sich mit 50 Millionen Euro. Kann das funktionieren?

Buchholz: Also so, wie es jetzt geplant ist, wird es nach Aussage der meisten Leute in Afghanistan nicht funktionieren. Viele sagen: „Was soll das, warum gibt man jetzt den Taliban Geld? Wir brauchen auch Jobs und Geld.“

van Aken: Viele Leute vor Ort haben ein enormes Problem damit, denn so werden die belohnt, die vorher gemordet haben und die, die vorher friedlich geblieben sind, kommen nicht in den Genuss der Gelder.

Ein weiteres Ergebnis der Konferenz in London ist die Intensivierung der Polizeiausbildung im Land. Für wie sinnvoll halten Sie das?

Buchholz: Ich habe größte Zweifel daran, denn es gibt ein ganz großes Problem mit der Polizei und der Polizeiausbildung. Zum einen ist es so, dass die afghanische Polizei de facto militärisch agiert. Es sind nicht einfach Schutzpolizisten, wie wir sie hier in Deutschland kennen, sondern sie sind Teil der Aufstandsbekämpfung. Zudem ist es kaum möglich, in den nur wenige Wochen dauernden Kursen eine Grundlage für eine polizeiliche Arbeit im zivilen Sinne zu schaffen.

van Aken: Ich gebe zu, vor meiner Reise nach Afghanistan hielt ich die Idee des Polizeiaufbaus für sinnvoll. Vor Ort aber sieht das plötzlich ganz anders aus. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Die Polizisten, die wir gesehen haben, unterscheiden sich vom Militär eigentlich nur dadurch, dass auf ihren Fahrzeugen „Police“ steht, ansonsten sind es Pickups, auf denen Maschinengewehre montiert sind. Sie fahren in Konvois herum. Sie sehen aus wie Militär, sie handeln wie Militär und führen auch Militäraufgaben durch. Und nachher werden sie eigentlich nur militärisch eingesetzt. Deswegen ist unter Polizisten auch die Todesrate so groß, denn sie sind nicht militärisch ausgebildet, müssen aber wie Soldaten kämpfen. Insofern geht diese Idee der Polizeiausbildung an der Realität völlig vorbei.

Sie haben auch den Vizepräsidenten des afghanischen Parlaments, Amanullah Paiman, gesprochen. Wie schätzt er die Lage ein?

van Aken: Er sagte uns: „Mehr Soldaten, mehr Probleme.“ Ihm ist es gar nicht recht, dass jetzt noch mehr Soldaten kommen. Er sieht die Lösung im zivilen Aufbau.

Sie zeichnen ein sehr beunruhigendes Bild der Lage, das wenig Grund zur Hoffnung auf eine positive Entwicklung macht. Haben Sie während Ihrer Reise auch Perspektiven gesehen, die vielleicht optimistisch stimmen?

Buchholz: Die gibt es. Ramazan Bashardost, einer der unabhängigen Kandidaten der letzten Präsidentschaftswahlen in Afghanistan, hat uns in einem Gespräch erzählt, dass seine Hoffnungen auf der jungen Generation ruhen. Mehr als 50 Prozent der Afghanen sind unter 15 Jahre alt. Das heißt, es sind Kinder, die zwar im Krieg aufgewachsen sind, aber keine handelnden Akteure der vergangenen Kriege waren. Darin sieht er die große Chance. Denn letztendlich wird man von außen dieses Land nicht verändern und zum Frieden bringen können. Das muss aus diesem Land selbst heraus erwachsen. Solche eine Entwicklung kann man unterstützen, aber nicht mit Waffen.

Interview: Steffen Twardowski

linksfraktion.de, 10. Februar 2010