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»Wir werden die Fehlentwicklungen in Deutschland korrigieren«

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Gespräch mit Eric Gujer und Jürg Dedial von der NZZ.

Herr Lafontaine, Sie stehen wieder im Rampenlicht, in ihrer dritten politischen Karriere. Die beiden ersten Karrieren endeten 1990 respektive 1999
nicht sehr erfolgreich. Wie wird - oder soll - die neueste enden?

Ich habe mich entschlossen, wieder politisch tätig zu werden, um die Fehlentscheidungen der deutschen Politik zu korrigieren. Das sind vor allem der Sozialabbau, der seit mehreren Jahren anhält, und die Beteiligung an völkerrechtlichen Kriegen. Wenn das gelingt, dann war die dritte Karriere, wie Sie es nennen, erfolgreich.

Über den Politiker Lafontaine kann man bestimmt nicht reden, ohne die Ereignisse des März 1999 zu erwähnen: Ihren abrupten Rücktritt als SPD-Chef und Minister unter Gerhard Schröder, und vor allem die Art und Weise des Abgangs. Das hat doch sehr viele Leute ratlos gemacht. Stellt das für Sie heute ein Glaubwürdigkeitsproblem dar?

Am selben Tag hatte Bundeskanzler Schröder mit Rücktritt gedroht, weil er meine Politik nicht mehr mittragen wollte. In dieser Situation war es für mich nur konsequent, aus dem Bundeskabinett auszuscheiden, da der Kanzler die Richtlinien der Politik bestimmt. Die Agenda 2010 und Hartz IV hätte ich nie akzeptiert.

Sie hätten doch einfach als Finanzminister gehen, hingegen Parteichef bleiben können.

Der Kanzler hat die Macht und damit die Mehrheit in der Partei. Daher habe ich auch das Amt des Parteichefs aufgegeben.

Die Annahme ist freilich kaum vermessen, dass Sie, wenn Sie Ihren Abgang damals anders gestaltet hätten, heute mit weniger Abneigung zu rechnen hätten, vor allem in jener Partei, mit der Sie eigentlich zusammenspannen möchten, der SPD.

Die Abneigung der SPD ist auf unseren Erfolg zurückzuführen. DIE LINKE erinnert die SPD immer daran, dass sie ihre Wahlniederlagen selbst zu verantworten hat. Die große Mehrheit der SPD-Mitglieder unterstützt die Politik, die DIE LINKE im Deutschen Bundestag macht.

Viele in der SPD nehmen Ihren Namen nicht mehr in den Mund. Müssten Sie nicht ihren Platz in der Linkspartei räumen, falls diese eine Koalition mit der SPD eingehen möchte, wenn es denn einmal so weit sein sollte?

DIE LINKE giert nicht nach Ämtern und Regierungsbeteiligungen. Zuerst müssen wir die Politik verändern. Es gilt, die Fehlentwicklungen der letzten Jahre in Deutschland zu korrigieren. Da ist zunächst die Rutschbahn der Löhne nach unten, die aus der Verweigerung eines Mindestlohnes besteht oder die Pflicht für Arbeitslose, jede Arbeit anzunehmen. Auch die verbreitete Leiharbeit und die vielfache Scheinselbstständigkeit gehören dazu. Die zerstörte Rentenformel muss wieder hergestellt werden. Laut der OECD liegt die Rentenerwartung für Leute, die niedrige Löhne erhalten, bei 39 Prozent des Bruttolohns. Dieser Skandal kann nicht bleiben. Darüber hinaus darf sich Deutschland nicht an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligen. An meiner Person scheitert eine durchgreifende Veränderung der deutschen Politik nicht.

In der Politik müssen sich aber die Kleinen verändern, und in einer Koalition wären Sie der Kleine.

In Deutschland werden die Großen immer kleiner. Das gilt für CDU/CSU und SPD. Diese Parteien müssen sich verändern, wenn sie ihre Wählerverluste stoppen wollen. Wir sind nicht grundsätzlich darauf aus, uns an der Regierung zu beteiligen. Wir wollen die Politik verändern.

Wie würden Sie es also fertigbringen, die SPD zu verändern?

Wir können das nicht allein. Das können nur die Wählerinnen und Wähler. Diese sind ja bereits dabei, das zu tun. Es ist uns gelungen, das Thema »Soziale Gerechtigkeit« wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

Streik als politische Waffe Interessant ist freilich, dass laut Umfragen die Werte für Linkspartei und SPD zusammen immer mehr oder weniger gleich bleiben. gewinnt die SPD hinzu, verliert die Linke, und umgekehrt. Ein Zuwachs für das linke Spektrum ist nicht zu beobachten.

Die Wahlforschung sagt etwas anderes. Wir haben Zulauf auch von CDU/CSU und Grünen. Das hat beispielsweise die Wahl in Bremen gezeigt.

Wir dürfen die Frage ein wenig präzisieren: Sie müssten Stimmen in der Mitte holen, sonst gibts keine Macht.

Die Frage ist, wo die Mitte liegt. Wenn die ganze Gesellschaft nach rechts gerückt ist, was ist dann die Mitte? Es gibt ein gemeinsames Anliegen der LINKEN, mit dem Ordoliberalismus - früher hieß dieser Neoliberalismus. Walter Eucken sagte: »Ich will nicht die Kontrolle wirtschaftlicher Macht, sondern die Verhinderung wirtschaftlicher Macht«. Hier setzen wir an. Wir suchen einen neuen politischen Ansatz und sind nicht ohne weiteres in eine Schublade zu stecken. Wir sind eine neue politische Kraft. Wir wollen auch das Instrument des politischen Streiks in Deutschland einsetzen, mit dem die Arbeitnehmerschaft ihre Rechte durchsetzen kann, wie in vielen anderen europäischen Ländern.

Heißt das, dass Sie auch den Generalstreik befürworten?

Ja, den politischen Streik.

Also nicht den Generalstreik?

Das ist dasselbe. In Frankreich beispielsweise wird der politische Streik sehr erfolgreich eingesetzt, um Sozialabbau zu verhindern. Gerade in der Schweiz wird man Verständnis dafür haben, denn der politische Streik ist ein Element der direkten Demokratie.

Nun sehen das die grossen Gewerkschaften in Deutschland natürlich nicht so. Sie erwärmen sich nicht für den Generalstreik.

Die Funktionäre tun sich schwer, aber die Millionen Mitglieder der Gewerkschaften wollen den politischen Streik. Sie sehen wie erfolgreich er in Europa durchgeführt wird, um Arbeitnehmerrechte zu verteidigen. Wir haben eine große Zustimmung bei den Gewerkschaftsmitgliedern.

Im gegenwärtigen Bahnstreik zeigt sich allerdings, dass die großen Gewerkschaften und alle andern Parteien gegen die Forderungen der kleinen Lokomotivführer-Gewerkschaft sind, mit der Sie sich verbündet haben. Da tut sich zum ersten Mal ein richtiger Riss zwischen Ihnen und den Gewerkschaften auf.

Wir unterstützen die Lokführer bei ihren Gehaltsforderungen. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie weniger verdienen als ihre Kollegen in Europa. Wir sind aber wie der DGB der Meinung, dass die Gewerkschaftsbewegung nicht gewinnt, wenn sie sich in viele kleine Gewerkschaften aufspaltet.

Herr Lafontaine, wie werden Sie dem breiten Publikum erklären, dass Sie diverse Maßnahmen im Arbeitsmarktbereich rückgängig machen wollen, die doch erfolgreich gewesen sind? Sie beklagen zum Beispiel die vielen Teilzeitstellen. Aber das sind immerhin Stellen, und die Arbeitslosigkeit hat generell stark abgenommen.

Ja, aber die Qualität der Arbeit ist schlechter geworden. Wir wollen nicht eine ständige Verschlechterung der Arbeitsbedingungen! Wir sind mittlerweile so weit, dass die vielen ungesicherten Jobs das Familienleben zerstören. Wer nicht weiß, ob er am Monatsende noch Geld auf dem Konto hat, kann keine Verantwortung für Kinder übernehmen. Dies zu ändern, ist eine der großen Aufgaben unserer Gesellschaft.

Wie wollen Sie es fertigbringen, wieder »bessere« Arbeit bereitzustellen? Wer soll das tun? Der Staat?

Wir tun dies, indem wir die Regeln für den Arbeitsmarkt so gestalten, wie sie in Deutschland Jahrzehnte gegolten haben und wie sie auch in andern Ländern funktionieren. Wenn ein Unternehmer nicht mehr die Möglichkeit hat, in großem Umfang Leiharbeit zu nutzen, dann stellt er sich die Frage, ob es für ihn nicht interessant wäre, gute Beschäftigung anzubieten. Wenn sich das lohnt, wird er es tun. So einfach ist das.

Aber er muss es auch erst können!

Ja, aber er kann es. Die Gewinnspannen sind in den letzten Jahren so groß geworden wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Wollen Sie die Unternehmer dazu zwingen?

Die muss man nicht zwingen. Wenn Gewinne erwirtschaftet werden können, stellen sie Leute ein.

Spielt denn die Globalisierung für Sie gar keine Rolle? Sie denken, dass Sie in Deutschland neu-alte Methoden zur Schaffung von Arbeitsplätzen einfach so durchsetzen können? Da gehen Ihnen doch die Unternehmer weg!

Die Globalisierung ist ein Totschlag-Argument, um Sozialabbau zu rechtfertigen. Viele Unternehmer, die auf ihre eigene Propaganda hereingefallen sind, kehren nach Deutschland zurück. Sie haben in Osteuropa gelernt, dass man nicht nur niedrige Löhne braucht, sondern auch kauffreudige Kunden und eine gut funktionierende Verwaltung und Infrastruktur.

Und wer soll Ihre Vorschläge bezahlen? Wollen Sie Steuererhöhungen? Sie plädieren für einen starken Staat, Sie streben öffentlich einen »demokratischen Sozialismus« an. Das haben die »Volksdemokratien« auch getan, allerdings nicht sehr eindrücklich. Wollen Sie das wirklich?

Der starke Staat ist eine Forderung des Ordoliberalismus, die Formel von Walter Eucken und Wilhelm Röpke. Die wussten, man braucht einen starken Staat, damit die
Marktwirtschaft ihre Aufgaben überhaupt erfüllen kann. Wo der Staat nicht für einen fairen Wettbewerb sorgt, gibt es Monopolpreise und Hungerlöhne. Das kann man jetzt bei uns in Deutschland beobachten.

Deutschland ist stolz darauf, »Exportweltmeister« zu sein, das heißt, dank hoher Produktivität ist es so wettbewerbsfähig. Und das hat auch mit günstigen Löhnen zu tun.

Entscheidend sind die Lohnstückkosten. Wenn die Produktivität hoch ist, kann man auch hohe Löhne zahlen. Deutschland verliert auf Dauer, weil wir der einzige größere Industriestaat sind, in dem die Reallöhne seit über zehn Jahren stagnieren.

In Ihren Kreisen ist immer von den Konzernen die Rede. In Deutschland werden aber 60 Prozent der Arbeitsplätze von kleinen und mittleren Betrieben, oft Familienunternehmen, generiert. Die leben knapp, da muss man mit Lohnerhöhungen vorsichtig sein.

DIE LINKE unterstützt die kleinen und mittleren Betriebe. Wir wollen die degressive Abschreibung wieder einführen. Wir haben im Bundestag vorgeschlagen, kleine und mittlere Betriebe steuerlich zu entlasten. Wenn wir die öffentliche Investitionsquote deutlich anheben, profitieren die Handwerksbetriebe. Und immer mehr Unternehmer übernehmen unsere Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, weil sie erkennen, dass sie sich mit Hungerlöhnen ins eigene Fleisch schneiden.

Da könnte man Sie als Sozialisten und Ordoliberalen in einer Person bezeichnen.

Das können Sie. Auch die CDU hat sich nach dem Kriege zum Sozialismus bekannt. Der christliche Sozialismus hat in Deutschland Tradition. Eine Marktwirtschaft kann ohne ein ethisches Fundament nicht funktionieren.

In Berlin regiert die Linkspartei (PDS) seit einigen Jahren. Gerade Berlin hat aber in letzter Zeit ein rigoroses Sparprogramm mit einem markanten »Sozialabbau« erlebt. Wir können nicht erkennen, dass die Linkspartei in der Praxis eine andere Politik macht als die etablierten Parteien.

In Berlin wurden Fehler gemacht. Darüber wurde in unserer Partei heftig diskutiert. Jetzt hat DIE LINKE die Berliner Politik verändert. Die Sparkasse wurde nicht privatisiert. Es gibt ein Sozialticket und ein Kulturticket. Öffentliche Aufträge erhalten nur noch Unternehmen, die einen Mindestlohn von 7,50 € zahlen.

Sind Sie der Meinung, dass man lieber niemanden beschäftigen soll als jemanden unter dem geforderten Mindestlohn?

Ja. Das ist nicht neu. Schon Roosevelt sagte, es gebe ein Lohnniveau, unter welchem in Amerika keine Arbeitsplätze angeboten werden sollten. Das ist eine Frage der Menschenwürde. Hungerlöhne untergraben eine demokratische Gesellschaft.

Sie hätten, um auf die Außenpolitik zu kommen, als SPD-Chef 1998 eine Beteiligung Deutschlands am Kosovokrieg verhindern können. Sie haben das
im entscheidenden Moment nicht getan.

Ich habe das versucht, aber Schröder und Fischer haben hinter meinem Rücken Clinton zugesagt, sich auch dann am Krieg zu beteiligen, wenn es keinen UNO-Beschluss gibt. Sie haben damit schon nach wenigen Wochen die Vereinbarung gebrochen, die wir im Koalitionsvertrag schriftlich niedergelegt haben. Das konnte ich nicht mitmachen.

War den Kosovokrieg also kein gerechter Krieg?

Wir müssen das Völkerrecht beachten. Wenn wir das nicht tun, ist der Frieden nicht zu gewährleisten.

Sie hätten damit das Milosevic-Regime unterstützt, und dieses hätte in Kosovo ein gewaltiges Massaker angerichtet.

Das sehen nicht nur wir anders. Auch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in Deutschland ein hohes Ansehen genießt, hat sich immer wieder gegen den Jugoslawienkrieg gewandt.

Die Linkspartei ist gegen jegliches Engagement der deutschen Bundeswehr im Ausland.

Nein. Unsere Position ist klar: Wir sind für Blauhelmeinsätze, aber gegen Kampfeinsätze. Irak und Afghanistan zeigen: Terror kann man nicht mit Terror bekämpfen. Mit Bomben schafft man keinen Frieden. Willy Brand sagte in seiner berühmten Nobelpreisrede: »Krieg ist nicht mehr die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irrratio. Auch wenn das allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.«

NZZ, 19. November 2007