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Amira Mohamed Ali © dpa/Carsten KoallFoto: dpa/Carsten Koall

»Wir sind bereit zu regieren«

Im Wortlaut von Amira Mohamed Ali, Frankfurter Allgemeine Woche,

Die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Amira Mohamed Ali, hat in ihrer Partei schnell Karriere gemacht. Ein Gespräch über Streit in den eigenen Reihen, die nächste Bundestagswahl und Dinge, die man auch nicht im Scherz sagen darf.

 

FAZ: Frau Mohamed Ali, als Sie mit 18 Jahren das erste Mal wählen durften, haben Sie für die SPD gestimmt. Das war 1998. Was hat Sie seither von den Sozialdemokraten entfernt?

Amira Mohamed Ali: Die SPD hat durch die Hartz-Gesetze den größten Sozialabbau der Nachkriegsgeschichte zu verantworten. Das ist bis heute spürbar. Es hat zwar in der Zwischenzeit die ein oder andere leichte Korrektur gegeben, aber der Kurs hat sich nicht verändert. Die SPD ist eine neoliberale Partei geworden.

Als Rot-Grün 2005 abgewählt wurde, zählte Deutschland fünf Millionen Arbeitslose. Bis vor kurzem waren die Arbeitslosenzahlen kräftig gesunken. Ist das denn kein Erfolg der Agendapolitik?

Es reicht nicht aus, nur auf die Arbeitslosenstatistik zu schauen, denn dort tauchen Menschen, die in Maßnahmen gesteckt werden, zum Beispiel gar nicht auf. Und dann sind da jene, die zwar arbeiten, aber so wenig verdienen, dass sie aufstocken müssen. Es sind vor allem schlecht bezahlte und unsichere Jobs entstanden; ein Ergebnis des Lohndrucks, der durch Hartz IV entstanden ist. Und die Lohnsteigerungen, die es gab, werden oft durch steigende Miet- und Energiekosten aufgefressen. Im Ergebnis haben viele weniger Geld in der Tasche.

Sie haben sich einmal als "Antikapitalistin" bezeichnet. Sind Sie also auch gegen die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in Deutschland kennen?

Die Entwicklung läuft seit mehr als 20 Jahren in eine falsche Richtung. Der Sozialstaat wurde immer mehr ausgehöhlt. Jetzt in der Krise erkennen wir, wie wichtig ein soziales Netz ist und wie dringend wir eine echte soziale Wende brauchen. Wenn ich sage, ich sei eine Antikapitalistin, meine ich damit, dass ich diesen ungezügelten Kapitalismus, wie wir ihn leider immer mehr in Deutschland erleben, ablehne. Das wird oft missverstanden. Ich bin nicht wirtschaftsfeindlich, ich habe ja zehn Jahre lang in Wirtschaftsunternehmen gearbeitet.

Sie sind erst spät zur Linkspartei gestoßen. 2015 sind Sie ihr beigetreten. 2017 wurden Sie in den Bundestag gewählt, seit November sind Sie Fraktionsvorsitzende. Reiben Sie sich manchmal die Augen, weil Sie nicht glauben können, wie schnell das ging?

Ich weiß, das ist schon ungewöhnlich. Manchmal ist es im Leben so. Dann muss man eine Gelegenheit wahrnehmen und sich trauen. Das war schon damals so, als ich für die Liste für den Bundes- tag kandidiert habe. Ich habe überlegt und es dann gemacht. Es hat geklappt. Dann kündigte Sahra Wagenknecht an, nicht wieder für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren.

Eines der bekanntesten Gesichter der Partei.

Hätte sie sich anders entschieden, hätte ich sie darin unterstützt, denn sie hat das gut gemacht. Da sie nicht mehr kandidiert hat, war es dann aber Zeit für etwas Neues.

Die Fraktion gilt als zerstritten. Nach Ihrer Wahl zur Fraktionsvorsitzenden im November sagten Sie: "Es stört mich, wie sehr wir hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben."

Wir haben in der Fraktion Lager und Strömungen, genauso wie in der Partei. Das ist bei allen Parteien so. Ich finde es auch völlig in Ordnung, dass kontrovers diskutiert wird. Wir sind eine pluralistische Partei. Es fängt aber dann an, ein Problem zu werden, wenn wir intern die verschiedenen Facetten, die wir abbilden, nicht als Teil eines Ganzen, sondern als ein Gegeneinander begreifen. Wenn wir versuchen, intern auf Biegen und Brechen Argumente durchzusetzen, und anfangen, Argumente des Gegenübers aus Prinzip nicht mehr anhören zu wollen, weil die Person aus dem falschen Lager kommt, wird es problematisch. Das lähmt uns. Das brauchen wir nicht. Die Vielfalt könnte uns doch stark machen. Das geht aber nur, wenn wir bereit sind, auch Kompromisse einzugehen. Ich führe seit meiner Wahl viele Gespräche, um zu einem besseren Verständnis untereinander zu kommen. Das braucht aber natürlich seine Zeit.

Die Linkspartei musste zuletzt viele schmerzhafte Niederlagen einstecken. Denken wir an die Europawahl sowie die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. Wie schaffen Sie die Wende?

Vergessen Sie nicht Thüringen, wo wir einen großen Erfolg erzielt haben. Wir müssen als Linke unseren Wesenskern wieder mehr betonen: das konsequente Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Frieden. In den vergangenen Wahlkämpfen haben wir viele wichtige Einzel- punkte angesprochen. Nur: Was in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler vielleicht nicht genug rüberkommt, ist die Überschrift dazu.

Die da wäre?

Wir stellen die Machtstrukturen in Frage. Wir möchten eine größere Umverteilung des Wohlstands. Eine Politik, die sich konsequent am Gemein- wohl orientiert.

Aber das ist doch nichts Neues, wenn man sich allein anschaut, was seit Jahren auf den Plakaten Ihrer Partei steht. Also: Umverteilung. Reiche besteuern.

Unsere Forderungen werden von vielen Menschen geteilt, und wir haben den- noch nicht den Zuspruch, den wir eigentlich haben müssten. Wir haben uns teilweise auch von Debatten entfernt, die in der Gesellschaft geführt werden. Das liegt manchmal an einer zu verkopften Sprache, die wir sprechen. Wenn nennenswerte Teile der Arbeiterinnen und Arbeiter, die früher zu unserer Stammwählerschaft zählten, uns nicht mehr wählen, muss man sich schon fragen: Was machen wir in der Kommunikation falsch? Denn unsere Programmatik hat sich ja nicht verändert. Was wir wollen, ist nach wie vor gut für den Großteil der Bevölkerung. Darüber müssen wir in der Partei reden.

Sie profitieren auch nicht von der Corona-Krise. Die Linkspartei stagniert bei sieben, acht Prozent in den Umfragen.

In anderen stehen wir auch bei neun Prozent, aber Umfragen sind immer nur Momentaufnahmen.

In jedem Fall tut sich Ihre Partei schwer. Dabei müssten es eigentlich goldene Zeiten für die Linke sein. In den Umfragen hat aber die Union einen Satz nach oben gemacht.

Natürlich wollen wir weiter zulegen. Aber in einer solchen Situation stabil dazustehen ist keine Selbstverständlichkeit. In Zeiten der großen Unsicherheit profitiert meist die Regierung, da sie Maßnahmen ergreifen und Geld verteilen kann. Deshalb steht Bundeskanzlerin Merkel in den Umfragen nun wieder besser da.

Das klingt sehr defensiv.

Das finde ich nicht. Ich wurde auch schon häufig gefragt: Wie können wir als Linke von dieser Krise profitieren? Natürlich ist es mir wichtig, dass die Linke an Rückhalt gewinnt. Aber zurzeit steht im Vordergrund, dass wir Parlamentarier ein Stück weit zusammenstehen und versuchen, die Situation zu meistern und konstruktiv miteinander umzugehen.

Das hört sich ja sehr staatstragend an, fast so wie ein Slogan der Union: Erst das Land, dann die Partei.

(lacht) Es bleibt natürlich unsere Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, gerade in Zeiten der Krise, damit Freiheitsrechte nicht mehr eingeschränkt werden als unbedingt notwendig und die ergriffenen Maßnahmen diejenigen erreichen, die besonders betroffen sind. Das sind vor allem diejenigen, die schon vor der Krise kaum über die Runden gekommen sind. Wir müssen später aus der Krise lernen.

Kürzlich schrieben Sie auf Twitter: "Der freie Markt in der #Coronakrise: Preise von #Atemschutzmasken um bis zu 3000% gestiegen. Unmöglich!" Es gibt doch auch positive Beispiele, Unternehmen, die ihre Produktion in der Krise umstellen. Der Autohersteller Seat stellt nun Beatmungsgeräte, Siemens Atemschutzmasken her.

Ja, diese positiven Beispiele gibt es. Das sind sehr gute Ansätze. Aber es stellt sich schon die Frage, weshalb nicht seitens der Bundesregierung rechtzeitig Maßnahmen ergriffen wurden, damit wir erst gar nicht in diese Notlage geraten. Es kann ja nicht den Unternehmen überlassen werden, ob es ausreichend lebens- notwendige Güter gibt.

Sehen wir da nicht, wie flexibel so ein freier Markt sein kann? Dass er auf akute Bedürfnisse schnell reagieren kann, nützlich ist?

Ich sehe auch, dass viele Unternehmen nun flexibel sind. Da spielen natürlich auch wirtschaftliche Gedanken eine Rolle. Ich nehme an, Siemens macht das nicht nur aus Freundlichkeit. Das ist aber auch in Ordnung. Wichtig ist, was am Ende herauskommt. Der Ausdruck "freier Markt" ist aber irreführend. Das Credo von Union und FDP ist: Der freie Markt regelt die Dinge. Falsch! Der freie Markt regelt das nicht. Der freie Markt sorgt insbesondere nicht dafür, dassß es genügend Schutzkleidung und Stellen im Gesundheitswesen gibt, denn es geht ihm nur um Profit um jeden Preis. Des- halb ist es Aufgabe der Regierung, sich darum zu kümmern. Aber statt dies zu tun, wurde immer mehr liberalisiert und privatisiert und selbst grundlegende Aufgaben wie das Gesundheitswesen dem Profitstreben untergeordnet. Das muss jetzt rückgängig gemacht werden.

Tatsächlich gab es Hersteller von Hygieneprodukten, die das Gesundheitsministerium aufgefordert haben, vorzusorgen. Da wurde also nicht auf den Markt gehört.

Es war unverantwortlich, dass die Bundesregierung nicht einmal dann, als sich in China die Krise bereits abzeichnete, für eine ausreichende Bevorratung und für den Ausbau der heimischen Produktion gesorgt hat. Sogar in Arztpraxen und Krankenhäusern gibt es nicht mehr genügend Atemschutzmasken und weitere Schutzausrüstung. Es geht mir darum: Der Staat muss Regeln setzen und seine Verantwortung wahrnehmen, er kann dies nicht auf die Unternehmen abwälzen. Sonst werden diejenigen, die skrupellos sind, immer über diejenigen obsiegen, die es nicht sind.

Sprechen wir über die strategische Ausrichtung Ihrer Partei. In ostdeutschen Bundesländern, also ehemaligen Bastionen der Linken, sterben Ihnen viele Wähler weg. Zwei Bundessprecherinnen der Linksjugend sagten uns vor kurzem: Die Partei muss sich bewegen.

Es stimmt, dass wir teilweise ernsthafte Strukturprobleme haben. Gerade in Ostdeutschland. Daran arbeiten wir. Wir sehen in Thüringen, was die Linke erreichen kann, wenn sie geschlossen auftritt. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wenn man öffentlich viel streitet, ist das nicht besonders attraktiv. Wenn man erst mal sämtliche linke Literatur durchgelesen haben muss, um in Debatten mithalten zu können . . .

Dann wird es schwierig.

Richtig. Wir wollen Menschen für uns gewinnen. Das gelingt am besten mit einer freundlichen Ansprache.

Das ist Ihnen ja nach den Ereignissen in Thüringen gelungen. Da gab es einen großen Aufwind. Bis hinein ins bürgerliche Lager. Dann kam die Strategiekonferenz in Kassel. Eine Frau sprach von Reichen, die erschoßen werden - und niemand widersprach. Und Ihr Parteivorsitzender Bernd Riexinger machte einen Scherz, Reiche würde man in Arbeit stecken. Hat sich Ihre Partei da ihren eigenen Erfolg kaputtgemacht?

Ich kann es nicht anders sagen: Was da auf der Strategiekonferenz geschehen ist, hat uns massiv geschadet und viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Und ich finde: zu Recht. Solche Dinge sagt man nicht, auch nicht im Scherz. Das darf sich nicht wiederholen.

Auf der Strategiekonferenz wurde auch darüber gesprochen, ob Ihre Partei im Bund mitregieren will. Die Thüringer Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow sagte dort: "Wir müssen Verantwortung übernehmen." Die Partei müsse neu denken. Die Menschen wählten nicht über Jahrzehnte nur Opposition. Das Publikum war davon nicht begeistert. Warum tut diese Debatte den meisten in Ihrer Partei so weh?

Entscheidend ist, was man in einer Regierung macht. Es braucht einen echten Richtungswechsel. Ja, es gibt diese skeptischen Stimmen in unserer Partei. Teilweise verstehe ich sie auch. Die Befürchtung ist: Wenn wir in eine Bundesregierung gehen, könnten wir zu viele Inhalte aufgeben, uns überflüssig machen und unsere Identität verlieren. Das dürfen wir niemals tun. Aber das bedeutet nicht, von vornherein eine Regierungsbeteiligung auszuschließen. Es ist wichtig, den Wählerinnen und Wählern eine Alternative anzubieten. Und die Alternative kann nicht nur darin bestehen, eine starke Opposition zu sein. Das heißt: Ja, wir sind bereit zu regieren. Wir sind bereit, Verantwortung zu über- nehmen.

Aber?

Nicht um jeden Preis. Es muss mit einem Politikwechsel und einer sozialen Wende verbunden sein.

Wie soll das funktionieren? Sie fordern einen Ausstieg aus der Nato. Das ist mit SPD und Grünen nicht zu machen.

Es geht nicht um einen Ausstieg aus der Nato, sondern darum, die Nato aufzulösen und in ein kollektives Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands zu überführen, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat. Ein echtes Friedensbündnis. Dies ist eine vernünftige Forderung, schauen Sie sich alleine die Aufrüstungsverpflichtung der Nato an: Selbst in Zeiten von Corona soll immer mehr für Rüstung ausgegeben werden.

Ein Bündnis wird am ehesten an der Außenpolitik scheitern. Auf einem Parteitag vor einem Jahr stürmten Bundestagsabgeordnete die Bühne, um Solidarität mit Venezuela zu fordern, vor deßssen Regime Millionen Bürger geflohen sind. Unter ihnen war Heike Hänsel, eine Ihrer Stellvertreterinnen. Andrej Hunko, ebenfalls Ihr Stellvertreter, ist zu Machthaber Nicolás Maduro gefahren.

Andrej Hunko hat bei seiner Reise nach Venezuela mit vielen unterschiedlichen Akteuren gesprochen, auch mit Vertretern der Opposition. Ich finde es schwierig, dass solche Gespräche unter Kritik stehen, ich würde mir wünschen, dass es mehr diplomatische Bemühungen gibt, denn Diplomatie zu führen ist immer richtig. Statt Gespräche zu kritisieren, sollte eher Kritik daran geübt werden, dass selbst in Zeiten von Corona an den Sanktionen festgehalten wird, die die Bevölkerung hart treffen.

Es ist doch ein Unterschied, ob man in der Regierung ist und, ob man will oder nicht, mit anderen Staaten reden muss. Oder ob man aus einer kleinen deutschen Oppositionsfraktion heraus ohne Not eine solche Reise macht.

Warum?

Diplomatie gilt für alle.

Das Gespräch führte Tim Niendorf.

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