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»Wir leben in parallelen Welten«

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Streitgespräch mit Gysi und Westerwelle

Sie gelten als die besten Redner im Parlament - aber damit hören die politischen Gemeinsamkeiten schon auf. FDP-Chef Guido Westerwelle und Linkspartei-Fraktionschef Gregor Gysi streiten über Gerechtigkeit und Opposition.

WirtschaftsWoche: Herr Gysi, Herr Westerwelle, eigentlich könnten Sie sich sehr ähnlich sein. Sie stammen beide aus bürgerlichen Verhältnissen, sind promovierte Juristen, haben als Anwälte gearbeitet und sitzen heute im Bundestag. Wie kommt es, dass der eine links und der andere liberal geworden ist?

Gysi: Oh, wie wird man liberal? Schwierige Frage. Ich versuche mal, das Herrn Westerwelle zu erklären. Aber dann muss er auch erklären, wie man links wird.

Westerwelle: Einverstanden.

Gysi: Also, es gibt zwei Seiten des Liberalismus. Ich bin ein libertärer Sozialist. Der ganze Staatssozialismus in der früheren DDR war so illiberal und in seiner Besserwisserei anmaßend, dass ich ein Verfechter des politischen Liberalismus bin. Deshalb ist auch eine Partei wie die FDP wichtig. Nur ein Beispiel: Die Liberalen haben sich schon um gleichgeschlechtlich Liebende gekümmert, als sich das keine andere Partei getraut hat.

WirtschaftsWoche: Damit erklären Sie aber nicht die politische Sozialisation von Herrn Westerwelle.

Gysi: Wenn man wie Herr Westerwelle aus Bonn kommt, in einer Anwaltsfamilie groß wird und mit Brüdern aufwächst, die sich gern keilen, dann erkennt man in jeder Hinsicht die Notwendigkeit von Toleranz und Liberalismus. Was ich bei Herrn Westerwelle allerdings überhaupt nicht verstehen kann, das ist sein Eintreten für den wirtschaftlichen Liberalismus, den ich immer bekämpfen werde.

WirtschaftsWoche: Herr Westerwelle, nun müssen Sie erklären, wie man links wird.

Westerwelle: Es ist schade, dass man keinen zweiten Werdegang von Gregor Gysi ohne deutsche Teilung simulieren kann.

Gysi: Das wäre tatsächlich ein spannendes Experiment.

Westerwelle: Herr Gysi ist sehr gebildet, hat schöngeistige Interessen, ist respektvoll im Umgang und hat gelegentlich sogar bürgerliche Umgangsformen...

Gysi: ... jetzt müssen Sie aber mal was Kritisches einfügen, sonst bekomme ich in meiner Partei Schwierigkeiten.

Westerwelle: Wenn Sie also vielleicht in Schwaben geboren wären ...

Gysi: ... auch noch geizig soll ich sein ...

Westerwelle: ... oder im Rheinland, mit Ihrem familiären Hintergrund: Wer weiß, wo Sie gelandet wären?

WirtschaftsWoche: Wären Sie umgekehrt vielleicht heute in der Linkspartei, wenn Sie in der DDR aufgewachsen wären, Herr Westerwelle?

Westerwelle: Soll doch keiner sagen, dass ein Leben in einem Unrechtsstaat spurlos an einem Menschen vorbeigeht. Wir sind alle Ergebnis unserer persönlichen Geschichte. Das bringt mich auf Hans Dietrich Genscher, der in Halle aufgewachsen war, bevor er in die Bundesrepublik flüchtete. Er hat immer für die deutsche Einheit gekämpft, als viele andere im Westen schon lange nicht mehr daran glaubten.

Gysi: Das war auch eine Generationenfrage. Helmut Kohl wollte, dass die Westdeutschen jeden Tag eine halbe Stunde an ihre Brüder und Schwestern in Ostdeutschland denken. Aber der Generation von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine war Frankreich und Italien näher als die komische DDR. Und in Bayern galten wir eher als ausländische Partei.

WirtschaftsWoche: Wenn Sie nach vorne blicken: Welches Thema wird uns 2008 am meisten bewegen?

Gysi: Wir können heute noch nicht wissen, was in der Welt passieren wird. Stellen Sie sich vor, die USA beginnen einen Krieg gegen den Iran, wovor ich große Sorge habe. Dann wäre dies die wichtigste politische Frage des Jahres.

Westerwelle: Die wichtigste internationale Frage des kommenden Jahres wird die Friedensfrage sein. Wir stehen am Scheideweg, ob sich die Welt in Richtung Auf- oder Abrüstung bewegen wird. Es herrscht Misstrauen auf allen Seiten - angetrieben von den amerikanischen Plänen zur Raketenstationierung, von russischen Fehlentwicklungen, vom China-Taiwan-Konflikt und von religiösen Fundamentalisten. Wenn wir nicht aufpassen, stehen wir vor einem Jahrzehnt der Aufrüstung.

Gysi: Ich habe die Sorge, dass wieder Kriege um Ressourcen wie Erdöl geführt werden. Das würde unsere zivilisierte Welt um Jahrzehnte zurückwerfen. Innenpolitisch wird 2008 die soziale Frage im Mittelpunkt stehen. Die Masse der Bevölkerung fühlt sich von der Koalition nicht mehr vertreten und könnte sich von der Politik generell abwenden. Das wäre gefährlich für unsere Demokratie.

WirtschaftsWoche: Hält die große Koalition bis 2009?

Gysi: Davon bin ich überzeugt. Frau Merkel fühlt sich wohl in der Koalition. Die SPD wiederum leidet gern, und das tut sie in der großen Koalition zur Genüge.

Westerwelle: Da ist was dran. Allerdings leidet derzeit mancher in der Union noch mehr, weil er von der SPD nach links getrieben wird - siehe Mindestlöhne. Wenn Herr Gysi sagt, innenpolitisch werde 2008 die soziale Frage im Zentrum stehen, würde ich das gern anders übersetzen: Die Netto-Frage ist heute die eigentliche soziale Frage. Es geht darum, was die Bürger netto in der Tasche haben, ob sie also eine Aufschwung-Dividende bekommen. Sonst könnte der Aufschwung vorbei sein, bevor er bei den Bürgern ankommt.

WirtschaftsWoche: Franz Müntefering hat einmal gesagt, dass Opposition „Mist“ sei. Ist es für kleine Parteien doppelter „Mist“, in der Opposition zu sein, wenn eine große Koalition regiert?

Westerwelle: Dieser Satz ist vordemokratisch. In jeder Demokratie muss es eine regierende Mehrheit und eine opponierende Minderheit geben. Seit es diese sogenannte große Koalition gibt, reagiere ich auf alle Angriffe auf den Parlamentarismus allergisch. Den zitierten „Mist“ erkenne ich vor allem darin, dass Schwarz-Rot die Opposition gering schätzt.

Gysi: Ich habe ja schon ein Regime erlebt, das jede Opposition verboten hatte. Das war eine Katastrophe! Erst eine Opposition sichert den Wettstreit um politische Ideen, der zu einer lebendigen Demokratie führt. Regierung und Opposition sind zwei unterschiedliche Formen von Verantwortung, und wer bei einer Wahl antritt, muss im Kern zu beidem bereit sein. Derzeit jedoch erleben wir eine beispiellose Arroganz der großen Koalition.

WirtschaftsWoche: Wie hat sich Oppositionsarbeit verändert, seit CDU und SPD gemeinsam regieren?

Gysi: Ich nenne nur ein Beispiel dafür, wie die große Koalition mit Menschen umgeht: Union und SPD haben lange über das Arbeitslosengeld I gestritten und beschlossen, es für Ältere zu verlängern. Das soll aber erst im Februar vom Parlament beschlossen werden und rückwirkend vom 1. Januar an gelten. Man zwingt also die Betroffenen, mit allen Demütigungen Arbeitslosengeld II zu beantragen, und wenig später sagt die Regierung: Macht alles rückgängig, ihr bekommt wieder ALG I. Das ist bürokratischer Wahnsinn.

Westerwelle: Inhaltlich bin ich gegen die Rückabwicklung der Agenda 2010 - da unterscheiden wir uns, Herr Gysi. Leistungsgerechtigkeit ist die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Seit Monaten streiten sich die Regierungsparteien und versöhnen sich, um sich am nächsten Tag wieder an die Gurgel zu gehen. Es kann nicht sein, dass das die Bürger ausbaden müssen.

WirtschaftsWoche: Wäre es besser gewesen, die Regierung hätte ein Schnellverfahren durchgesetzt?

Westerwelle: Mir wäre lieber gewesen, die Regierungsparteien hätten sich überhaupt nicht erst in die Situation gebracht, dass sie sich monatelang lähmen und erst kurz vor dem Jahreswechsel entscheiden. Und am liebsten wäre mir gewesen, es wäre die richtige Entscheidung herausgekommen, nämlich die kleinen Erfolge der Reformen nicht zu gefährden - statt die Spendierhosen wieder anzuziehen, kaum geht es wirtschaftlich etwas besser.

Gysi: Nehmen Sie den Gesetzentwurf zur Diätenerhöhung für Abgeordnete. Den haben Union und SPD allein ausgetüftelt, ohne die anderen Fraktionen einzuladen. Das gab es zuvor noch nie, sondern immer den Versuch eines Konsenses unter den Parteien. Die große Koalition scheint zu glauben, dass sie FDP, Grüne und uns nicht mehr nötig hat. Das ist arrogant. Irgendwann wird sie dafür zahlen müssen: Es gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die wir als Politiker nicht erreichen.

Westerwelle: Zumindest können wir im Augenblick erkennen, dass diese Regierungskoalition nicht gut für die Demokratie ist. Ich habe Sorge vor einer Radikalisierung in Teilen der Bevölkerung. Aber ich hoffe gleichzeitig, dass Schwarz-Rot die Wähler mobilisieren wird. Die nächste Bundestagswahl muss so oder so klare Mehrheiten bringen.
Guido Westerwelle, 46, ist seit Mai 2006 Chef der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Seit Mai 2001 amtiert er als Bundesvorsitzender der Liberalen, zuvor war er Generalsekretär der Partei. Der promovierte Jurist ist in Bonn als Rechtsanwalt zugelassen. Im Bundestag sitzt er seit Februar 1996, Foto: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Nehmen Ihnen die Regierungsparteien durch ihren Dauerstreit die Oppositionsrolle weg?

Gysi: Nein, das versuchen nur Medien so verzerrt darzustellen.

WirtschaftsWoche: Immerhin hat SPD-Chef Kurt Beck auf einen Wechsel nach Berlin verzichtet, um aus Mainz besser gegen die Regierungspolitik opponieren zu können.

Gysi: Beck ist jemand, der im Chaos wirkt. Vor einem Jahr hat er gesagt, es sei eine Katastrophe, das ALG I zu verlängern. Jetzt sagt er das Gegenteil. Kurt Beck agiert taktisch, das ist zu berechenbar. In Wahrheit werden sich Union und SPD irgendwann immer einig und liefern sich vorher eher Show-Kämpfe.

WirtschaftsWoche: Derzeit diskutieren Union und SPD über Regeln für Managergehälter. Halten Sie das demnach für eine Scheindebatte?

Gysi: Angela Merkel hat auf dem CDU-Parteitag im November Abfindungen von Managern kritisiert. Der Saal tobte. Dabei ist so ein CDU-Saal nicht leicht zum Kochen zu bringen. So kam Beck auf die Idee, auf diesen Zug aufzuspringen. Als die Linkspartei keine drei Wochen zuvor einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Abstimmung stellte, haben ihn die anderen Fraktionen abgelehnt.

Westerwelle: Zu Recht. Die politische und gesellschaftliche Kultur wird sich durch die Debatte um Managergehälter zum Nachteil Deutschlands verändern. Wir wandeln uns immer mehr zur Neidgesellschaft. Eine Kultur der Anerkennung von Leistung wird es künftig noch schwerer haben.

Gysi: Was heißt hier Neid? Ich bin von Natur aus überhaupt nicht neidisch. Es ist mir wurscht, was andere mehr verdienen. Das Problem ist, dass ein Gehalt in einer Gesellschaft eine Bezugsgröße haben muss. Viele Managergehälter sind maßlos geworden. Dabei sind die staatlichen Unternehmen in der Steigerung wohl am schlimmsten. Wenn der Post-Vorstand 1995 noch das Elffache eines Angestellten verdiente und sein Gehalt binnen elf Jahren auf das 87-Fache gestiegen ist, sind die Beschäftigten zu Recht verstört. Hier müssen wir über neue Regelungen nachdenken und zum Beispiel hohe Gehälter ab einer bestimmten Summe mit einem deutlich höheren Satz besteuern.

Westerwelle: Ich werde immer dafür kämpfen, dass Lohnobergrenzen weder von Frau Merkel noch von Ihnen festgesetzt werden können! Es ist die Aufgabe der Eigentümer zu entscheiden, welche Managerbezüge gezahlt werden. Wir können gern darüber reden, über Hauptversammlungen den Einfluss der Aktionäre zu stärken. Doch politisch motivierte Lohnobergrenzen halte ich für abwegig. Im Showgeschäft oder im Sport entscheidet auch der Markt, was ein Fußballer, ein Formel-1-Fahrer oder ein Sänger verdient. Moralisch ist da jede Diskussion legitim, aber dirigistische Grenzen wären absurd. Staatliche Lohnfestsetzung, demnächst womöglich Einheitslöhne oder die Festsetzung von Brotpreisen - das wäre Planwirtschaft pur, das wäre DDR ohne Mauer.

WirtschaftsWoche: Fühlen Sie sich angesprochen, Herr Gysi? Hadern Sie mit der Marktwirtschaft?

Gysi: Um das mal klarzustellen: Die Planwirtschaft der DDR war eine ineffiziente Mangelwirtschaft. Dagegen funktioniert die Marktwirtschaft unter bestimmten Rahmenbedingungen in vielen Branchen deutlich besser. Sie sorgt für höhere Qualität und niedrigere Kosten. Wenn sich allerdings ein Monopol bildet oder bei der öffentlichen Daseinsvorsorge sind mir staatliche Eigentümer lieber als private.

Westerwelle: Falsch: Der bessere Weg wäre doch, durch Wettbewerb Monopole zu zerschlagen. Wettbewerb ist der beste Verbraucherschutz.

Gysi: Dann nehmen Sie doch mal die Energiepreise. Wenn wir den Leuten sagen: Egal, ob ihr den Gysi oder den Westerwelle wählt, bei den Energiepreisen haben beide nichts zu melden, sinkt die Bedeutung der Demokratie.

Westerwelle: Der Staat ist doch schon jetzt für zwei Drittel der Energiepreise verantwortlich.

WirtschaftsWoche: Gibt es in Deutschland einen Linksruck?

Westerwelle: Sicher! Und damit haben Sie, Herr Gysi, mit Ihrer Partei Erfolg gehabt. Sie haben nicht nur SPD und Grüne nach links gezogen. Inzwischen läuft auch die Union der SPD nach links hinterher. Wenn Gerhard Schröder damals so über Managergehälter oder staatliche Post-Löhne gesprochen hätte, wie Angela Merkel das heute tut, hätte die Union die rote Gefahr an die Wand gemalt. Heute befeuert die Kanzlerin die Neiddebatte selbst. Und in dieser Wendung erkenne ich einen Linksruck.

Gysi: Den großen Linksruck kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Mehr als ein Rückchen ist das nicht.

Westerwelle: Für diese Analyse müssen Sie selbst schon sehr weit links stehen. Wir sitzen zwar im selben Raum, leben aber offensichtlich in parallelen Welten.

Gysi: Ich stelle allerdings fest, dass soziale Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Debatte wieder eine Rolle spielt. Heute ist es tatsächlich so, dass wir als Linkspartei eine Debatte beginnen - um Managergehälter oder Mindestlöhne - und damit gesellschaftliche Themen mit schaffen.

WirtschaftsWoche: Dann erklären Sie mal: Wie gerecht geht es derzeit in Deutschland zu?

Gysi: Es gibt in Deutschland Armut - 5,5 Millionen Menschen haben ein Einkommen von weniger als 7,50 Euro brutto in der Stunde. Aber ich weise auch darauf hin, dass die Regierung die Mitte der Gesellschaft zerstört. Durchschnittsverdiener und kleine Unternehmer leiden unter der höchsten Belastung mit Steuern und Abgaben. An die wirklich Gutverdienenden traut sich die Koalition nicht ran, bei den Armen ist kaum noch etwas zu holen, daher zahlt die Mitte drauf.

Westerwelle: Ich teile Ihre Analyse, dass es eine Gerechtigkeitslücke gibt. Daran hat die Bundesregierung entscheidenden Anteil. Der Aufschwung kommt bei der vergessenen Mitte nicht an. Kein Wunder, denn die Regierung selbst hat mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Versicherungsteuer und der Abgaben, den Kürzungen bei Pendlerpauschale, Sparerfreibetrag und Eigenheimzulage dafür gesorgt, dass sich die verfügbaren Einkommen erheblich verringert haben. 2007 hatte eine durchschnittliche vierköpfige Familie 1600 Euro weniger im Portemonnaie als 2006. Und jetzt will dieselbe Koalition eine Gerechtigkeitslücke, die sie selbst geschaffen hat, mit staatlich festgelegten Mindestlöhnen schließen. Dagegen sagen wir: Mehr Netto vom Brutto durch eine Steuerstrukturreform.

WirtschaftsWoche: Wie schädlich sind denn Mindestlöhne?

Gysi: Der Mindestlohn ist durch das Sozialstaatsprinzip schon vom Grundgesetz her geboten. Es ist falsch, wenn Frau Merkel den Unternehmen sagt: Zahlt so wenig Löhne wie ihr wollt, dann packen wir den Rest von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern obendrauf, damit die Menschen überleben können. Es gibt 20 EU-Länder mit gesetzlichem Mindestlohn. Und wir brauchen ihn auch.

Westerwelle: Das ist mit Deutschland nicht zu vergleichen, wenn man allein an unser bürokratisches Arbeitsrecht denkt. Was nutzt ein höherer Brutto-Mindestlohn auf dem Papier, wenn die Regierung durch Steuer- und Abgabenerhöhungen dafür sorgt, dass vom Lohn nicht genug übrig bleibt? Nochmals: Die eigentliche soziale Frage ist die Netto-Frage: Wie viel bleibt von meiner Arbeit übrig? Die Regierung redet über Mindestlöhne und Managergehälter, über Heuschrecken und Prekariat. Wir arbeiten dafür, dass jetzt jene mit einer Entlastung dran sind, die den Karren ziehen, die morgens aufstehen, ihre Kinder versorgen und zur Arbeit gehen. Der Staat erinnert an einen Leviathan, der den Bürgern die Luft abschnürt. Deshalb ist Deutschland in den vergangenen 20 Jahren in Europa beim Pro-Kopf-Einkommen vom dritten auf den 18. Platz zurückgefallen. Meine Sorge ist: Geht das noch mal eine Generation lang so weiter, riskieren wir unseren Wohlstand.

Gysi: Das gefällt mir auch nicht. In Spanien, den USA, Frankreich oder Schweden sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren gestiegen, bei uns aber um sechs Prozent gesunken. Die Durchschnittsverdiener trifft das am meisten. Die OECD sagt, dass die höheren Einkommen zu wenig, die unteren und mittleren Einkommen im internationalen Vergleich aber überdurchschnittlich belastet sind.

Westerwelle: In dieser Analyse sind wir uns vielleicht einiger, als Sie glauben. Ich möchte aber, anders als Sie, keine einzelne Bevölkerungsgruppe belasten, sondern alle mit einem stufenweise ansteigenden Einkommensteuertarif entlasten. Fuchsig macht mich das Argument, die untersten Einkommensgruppen würden keine Steuern zahlen. Am Ende zahlen sie doch ...

Gysi: ... genau, weil die unteren Einkommensgruppen über die höhere Mehrwertsteuer und über die Energiesteuer besonders geschröpft werden.

WirtschaftsWoche: Entschuldigung, moderieren wir hier gerade Koalitionsverhandlungen zwischen Linkspartei und Liberalen?

Gysi: Wir sind unverdächtig, jemals in diese Verlegenheit zu kommen. Weil das so ist, können wir entspannt miteinander umgehen. Das ist das Schöne an uns beiden.

Westerwelle: Persönlich gehen wir respektvoll miteinander um. Das hängt damit zusammen, dass wir beide lebensbejahende Menschen sind und juristisch manches gemeinsam durchdringen. Bei uns weiß jeder: Die beiden sind politisch wie Feuer und Wasser. Deswegen können wir sehr gelassen Unterschiede herausarbeiten.

Gysi: Was würden die Journalisten denken und schreiben, wenn ich irgendwo mit Kurt Beck zu Mittag essen würde?

WirtschaftsWoche: Wir würden uns womöglich fragen, ob Sie gerade eine Koalition sondieren.

Gysi: Sehen Sie. Und das ist das Schöne an Guido Westerwelle. Mit dem kann ich überall sitzen und essen, und niemand kommt auf die Idee, es ginge um politische Absprachen. Da denkt jeder nur: Die beiden sitzen da und essen. Wie nett.

Wirtschaftswoche, Heft 1|2/2008