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»Wir brauchen unbedingt eine Wende in der Rentenpolitik«

Im Wortlaut von Matthias W. Birkwald,



Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Interview über das Rentenfiasko der Großen Koalition, das für Millionen Menschen Alterarmut bringt, und über den Antrag der Fraktion für eine den Lebensstandard sichernde Rente

Die Bundesregierung hat vergangenes Jahr mit der sogenannten "Mütterrente", der "Rente ab 63" und den Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente die ersten Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung in den vergangenen Jahrzehnten umgesetzt. Das müsste doch eigentlich auch auf Zustimmung bei der LINKEN treffen, oder?

Matthias W. Birkwald: Die Leistungsverbesserungen waren kleine Schritte in die richtige Richtung. An der grundsätzlichen Ausrichtung ihrer Rentenpolitik ändert die Bundesregierung leider gar nichts.

Wie das?

Trotz der Leistungsverbesserungen in Milliardenhöhe wird das Rentenniveau weiter sinken und das dramatisch, nämlich von 53 Prozent im Jahr 2000 auf bis zu 43 Prozent im Jahre 2030. Das hat mit dem vor 15 Jahren unter der rot-grünen Bundesregierung eingeleiteten Paradigmenwechsel zu tun. Dieser besagt vereinfacht, dass sich die Rentenleistungen an einer bestimmten Beitragssatzhöhe orientieren sollen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat man mittels Kürzungsfaktoren die Rentenanpassungsformel manipuliert. Die Rente folgt dadurch nur noch eingeschränkt den Löhnen. Wer seinen oder ihren Lebensstandard auch in Zukunft sichern will, kann sich nicht mehr allein auf die gesetzliche Rente verlassen, sondern muss zusätzlich privat vorsorgen. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, sollte neben der Riester-Rente noch eine zusätzliche Vorsorgeform, etwa eine Betriebsrente, abgeschlossen werden. Sie nennt das das "Drei-Säulen-Modell".

Die neuen Leistungsverbesserungen liegen dann aber doch quer zum eigentlichen Ziel der Bundesregierung, die Ausgaben der Rentenversicherung zu begrenzen?

Das ist richtig. So paradox das klingen mag. Weil das Rentenpaket, wie etwa die sogenannte "Mütterrente", ganz überwiegend aus Beiträgen und nicht aus Steuermitteln finanziert wird, steigen die Beitragssätze bis zum Jahr 2030 deutlich stärker an als bisher vorgesehen. Steigende Beitragssätze mindern über die Rentenanpassungsformel die jährlichen Rentenerhöhungen. Etwa ein Drittel der Kosten des Rentenpakets bezahlen alle Rentnerinnen und Rentner dadurch selbst.

Die Renten steigen zukünftig also deutlich langsamer und entfernen sich somit immer weiter von der Entwicklung der Löhne. Richtig?

Ganz genau. So lange hier nichts geändert wird, drohen weitere Leistungskürzungen und ein weiterer Wertverlust der gesetzlichen Rente. Schon jetzt müssen immer mehr Rentnerinnen und Rentner trotz jahrzehntelanger Beitragszahlung zukünftig mit einer Rente rechnen, die nicht einmal mehr den Grundsicherungsbedarf, das sind derzeit durchschnittlich 782 Euro, erreichen wird. Steigende Beitragssätze bei gleichzeitig sinkenden Leistungen zerstören das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung. Die schwache Lohnentwicklung der vergangenen Jahre hat neben der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse zudem die Ausbreitung von niedrigen Renten beschleunigt.

Aber die "Riester-Rente" soll doch genau die Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung kompensieren. Immerhin subventioniert der Staat die private Vorsorge Jahr für Jahr mit Milliardenbeträgen. Reicht das nicht?

Als im Jahr 2002 die sogenannte Riester-Rentenreform verabschiedet wurde, hatte der damalige Namensgeber der Reform, der SPD-Arbeits- und Sozialminister Walter Riester, großspurig im Bundestag angekündigt, dass mit der staatlich subventionierten privaten Vorsorge sogar ein höheres Rentenniveau erreicht werden könne als ohne Reform. Das war nicht nur leichtsinnig und überheblich, sondern vor allem grottenfalsch. Die jährlichen Rentenversicherungsberichte der Bundesregierung belegen das auch: Gesetzliche Rente und Riester-Rente erreichen gemeinsam nicht das Sicherungsniveau vor den Reformen zur Jahrtausendwende. Das ist auch kein Wunder. So geht die Bundesregierung von einer jährlichen Verzinsung der Altersvorsorgeprodukte von vier Prozent aus. Das ist ein utopischer Wert. Dass seit der Finanzmarktkrise die Zinsen Jahr für Jahr fallen, scheint die Bundesregierung aber nicht zu jucken.

Bleibt noch die betriebliche Altersversorgung. Immerhin hat sich die Große Koalition und Bundesarbeitsministerin Nahles eine Stärkung der Betriebsrenten auf die Fahnen geschrieben.

Wie die Riester-Rente hat auch die betriebliche Altersversorgung als sogenannte zweite Säule unseres Alterssicherungssystems erhebliche Schwierigkeiten, die notwendigen Renditen auf den Kapitalmärkten zu erzielen. Bestes Beispiel: Die Regierung kippte jüngst auf Zuruf der Firma Bosch die Anlageverordnung für Pensionsfonds. Die Robert Bosch GmbH beklagte sich, dass sie aufgrund der Niedrigzinsphase ihren Beschäftigten bis zu 17 Prozent weniger Betriebsrenten ab dem nächsten Jahr zahlen müsse, wenn der Gesetzgeber nicht handle. Die Große Koalition ließ sich auf das Spiel ein. Zwar dürfen Pensionsfonds auf den Kapitalmärkten jetzt höhere Risiken eingehen. Mit dieser Zockerei steigt aber zugleich das Risiko, Verluste zu machen. Das kann sich die große Mehrheit der Beschäftigten nicht leisten. Wenn das der Beitrag der Bundesregierung zur Stärkung der Betriebsrenten sein soll, na dann gute Nacht! Wir LINKEN haben nichts gegen Betriebsrenten, wenn die vollständig, überwiegend oder wenigstens zu einem nennenswerten Teil von den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen finanziert werden. Betriebsrenten eignen sich aber nicht, die politisch willkürlich in die gesetzliche Rente gerissene Lücke zu stopfen, sie sollten zu-sätzlich zu einer wieder lebensstandardsichernden Rente gezahlt werden, denn ihr ursprüng-licher Sinn war, die Lücke zum Nettoeinkommen des Berufslebens zu schließen. Da müssen wir wieder hin.

Wenn also das Rentenniveau kontinuierlich sinkt, die Riester-Rente die Vorsorgelücke nicht schließen kann und die Betriebsrente zunehmend in Schieflage gerät, was wäre dann aus Sicht der Linken zu tun, um diese Fehlentwicklung zu korrigieren?

Fakt ist: Das sogenannte "Drei-Säulen-Modell" der Alterssicherung ist gescheitert. Ich kritisiere vor allem, dass der Bundesregierung weder den Mut noch den Willen hat, sich dieser Einschätzung, die ja nicht nur von der LINKEN vertreten wird, zu stellen. Stattdessen dreht sie an allen möglichen Stellschrauben, die die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Dabei haben wir jetzt schon das Problem, dass die drei Säulen nicht aufeinander abgestimmt sind. Wir fordern deshalb, das Alterssicherungssystem endlich wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Das Leistungsniveau muss im Mittelpunkt der Rentenpolitik stehen und die gesetzliche Rente muss künftig auch vor Altersarmut schützen.

Und was setzt DIE LINKE für Alternativen gegen die Politik der Bundesregierung?

Wir wollen, dass das Rentenniveau als Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung wieder deutlich angehoben wird und zwar von aktuell 47,5 Prozent auf das Niveau vor den Reformen. Damals lag das "Sicherungsniveau vor Steuern“, so der offizielle Name des Rentenniveaus, bei 53 Prozent. Dazu müssen die Kürzungsfaktoren gestrichen werden. Wenn wir nichts tun, wird das Niveau nach 2030 unter 43 Prozent sinken. Was heißt das? Bei einer Person, die 45 Jahre lang zum Durchschnittslohn gearbeitet hat, macht das rund 340 Euro weniger aus! 340 Euro im Monat! Deswegen wollen wir mit einer neuen Rentenanpassungsformel dafür sorgen, dass die Rente wieder 1:1 den Löhnen folgt. Die Rentenanpassungsformel ist in den vergangenen Jahren zu einem Monster aus mathematischen Gleichungen verkommen. Und alles nur, damit die Rentnerinnen und Rentner nicht mehr angemessen am steigenden Wohlstand beteiligt werden. Das muss aufhören. Dringend!

Wird das für die Versicherten dann nicht unglaublich teuer?

Im Gegenteil: Nach dem "Drei-Säulen-Modell" sollen die Beschäftigten von ihrem Lohn vier Prozent "riestern" und weitere zwei Prozent zusätzlich vorsorgen, etwa mit einer Betriebsrente. Das sind also zusätzlich rund sechs Prozent zusätzlich zu den Rentenversicherungsbeiträgen. Die Beschäftigten müssen also bereits jetzt deutlich mehr für ihre Altersvorsorge zur Seite legen, als vor den Reformen. Für die Unternehmen ändert sich dagegen nichts. Sie haben sich faktisch aus der paritätischen Finanzierung der Rentenversicherung verabschiedet. Mit unseren Vorschlägen wird es sogar billiger für die Beschäftigten, denn sie würden eine den Lebensstandard sichernde Rente allein aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten und müssten dafür weder riestern noch Prämien für eine Betriebs-rente zahlen. Gleichzeitig müssen die Unternehmen wieder in die Pflicht genommen werden. Außerdem ist das Preis-Leistungs-Verhältnis bei der gesetzlichen Rente schlicht und einfach besser, da auch die Erwerbsminderungsschutz und die Absicherung von Hinterbliebenen gewährleistet ist.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir haben uns in den vergangenen Monaten die Meinungen von zahlreichen Experten und Expertinnen, aus Gewerkschaften und Sozialverbänden angehört. Alle waren sich einig: Das "Drei-Säulen-Modell" ist gescheitert. Die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder in den Mittelpunkt einer zukunftsfähigen Rentenpolitik gestellt werden. Wir haben deshalb einen Antrag mit der oben skizzierten neuen Rentenanpassungsformel vorgelegt, der jetzt in die Beratung des Bundestages geht. Ich bin mir sicher, dass unser Antrag bei den Gewerkschaften und Sozialverbänden auf breite Unterstützung stoßen wird. Wir brauchen unbedingt eine Wende in der Rentenpolitik. Dafür kämpfe ich. Unsere beiden wichtigsten rentenpolitischen Ziele lauten: Die gesetzliche Rente muss wieder den Lebensstandard sichern und niemand soll im Alter von weniger als 1050 Euro leben müssen. Darum werden wir auch im kommenden Jahr unseren Vorschlag für eine Solidarische Mindestrente neu in die Debatte und den Bundestag einbringen.

linksfraktion.de, 17. Dezember 2015