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Sahra Wagenknecht © Benjamin ZibnerFoto: Benjamin Zibner

Wie die Mittelschicht durch die Corona-Geldflut still enteignet wird

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht, Focus,

Scheinbar kann die Coronakrise den Finanzmärkten nichts anhaben. Die Börsen brummen. Doch ist dies vor allem ein Ergebnis der Geldflut der Zentralbanken, die eine große Gefahr birgt. Spätestens, wenn die akute Wirtschaftskrise vorbei ist, müssen Politik und Zentralbank einen anderen Weg einschlagen. Gastkolumne von Sahra Wagenknecht im FOCUS

 

Während die Medien und auch die meisten Bürger wie gebannt auf die Infektionszahlen starren, ist eine andere Problemzone weithin aus den Schlagzeilen verschwunden: die Banken des Euroraums und die Finanzmärkte. Auf den ersten Blick scheint in diesem Bereich alles rund zu laufen. Die Börsen sind zwar etwas launiger als in normalen Jahren, aber insgesamt bewegen sich die Kurse auf einem Niveau, als gäbe es kein Corona, keine Lockdowns und keine tiefe Wirtschaftskrise. An der Wallstreet kletterte der Dow Jones im Dezember sogar auf ein Allzeithoch von mehr als 30.000 Punkten, sieben Prozent mehr als im Dezember 2019. Auch den Banken scheint es gut zu gehen, viele haben dank brummender Geschäfte im Investmentbanking dieses Jahr sogar höhere Gewinne ausgewiesen als in den Jahren zuvor.

Nun mag man froh darüber sein, dass wir uns zusätzlich zu allen derzeitigen Problemen nicht auch noch mit taumelnden Banken, eingefrorenen Kreditmärkten und dramatischen Finanzcrashs herumschlagen müssen. Das Problem ist nur: Die Euphorie auf den Finanzmärkten hat nichts mit der realen Wirtschaftslage und kaum etwas mit realistischen Zukunftserwartungen zu tun. Zumindest bei einigen Aktien haben sich die Kurse von den realwirtschaftlichen Daten mittlerweile so weit entfernt, dass Erinnerungen an die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende aufkommen. Die gute Stimmung auf dem Börsenparkett hat einen einzigen Grund, und das ist in Europa die EZB.

Erlaubt ist alles, was auch nur vage Rendite abwirft

Schon seit vielen Jahren stützt die Europäische Zentralbank die Wirtschaft nicht nur mit Nullzinsen, sondern flutet die Finanzmärkte im Rahmen ihrer Anleihekaufprogramme auch mit Unmengen an Geld. Waren es zunächst 20 Milliarden Euro im Monat, die die EZB auf den Markt warf, indem sie Staats- und Unternehmensanleihen kaufte und dadurch deren Zinsen niedrig hielt, sind es über die verschiedenen Kaufprogramme mittlerweile mehr als 20 Milliarden pro Woche geworden, die von der Zentralbank in Umlauf gebracht werden. Am letzten Donnerstag haben die Währungshüter entschieden, das in der Corona-Krise aufgelegte Notprogramm, das bereits ein Volumen von gigantischen 1350 Mrd. Euro hatte, noch einmal um 500 Mrd. aufzustocken und seine Laufzeit zu verlängern.

Die anderen Zentralbanken, insbesondere die amerikanische Federal Reserve und die Bank von Japan, tun das gleiche wie die EZB, und so erleben wir das in den Volkswirtschaftslehrbüchern eigentlich nicht vorgesehene Phänomen eines explosionsartigen Schuldenwachstums bei gleichzeitig negativen Realzinsen. Wer gegenwärtig sein Geld halbwegs sicher anlegen möchte, verliert, und entsprechend gefragt ist alles, was auch nur vage Hoffnungen auf Rendite macht, seien es nun Aktien, riskante Anleihen oder spekulative Finanzprodukte.

Der nächste harte Crash ist programmiert

Aus der Geschichte ist allerdings bekannt, dass solche Höhenflüge selten gut enden: Wenn die Börsen und die Finanzmärkte sich zu sehr von ihrer realwirtschaftlichen Basis entfernen, in der die Renditen ja erwirtschaftet werden müssen, mit denen sie so fröhlich handeln, ist der nächste harte Crash programmiert.

Zumal sich schon einiges zusammenbraut. Einer Umfrage des Ifo-Instituts zufolge sehen 15 Prozent der Unternehmen hierzulande ihre Existenz durch die Corona-Krise bedroht, darunter 76 Prozent der Hotels und 62 Prozent der Gaststätten. Schätzungen gehen in Deutschland von einem 20- bis 30-prozentigen Anstieg der Unternehmenspleiten im nächsten Jahr aus, zumal zum 1. Januar die modifizierten Insolvenzregeln auslaufen, die überschuldeten Unternehmen 2020 den Gang zum Konkursrichter großenteils erspart haben. In anderen europäischen Ländern ist der Wirtschaftseinbruch tiefer und die Lage vieler Unternehmen noch verzweifelter.

Aktuell haben die europäischen Banken rund 500 Milliarden Euro an faulen Krediten in ihren Büchern. In ihrem düstersten Szenario, das durch die vielen harten Maßnahmen im letzten Quartal 2020 wahrscheinlicher geworden ist, rechnet die EZB mit einem Anstieg der Kreditausfälle auf 1,4 Billionen Euro. Selbst wenn es am Ende nicht ganz so schlimm kommt, dürfte die Pleitewelle im nächsten Jahr Banken mit dünnem Eigenkapitalpolster – also viele – an ihre Grenzen bringen. Und dann dürfte es auch mit der Bombenstimmung auf dem Börsenparkett vorbei sein.

EZB hat keine Spielräume und treibt Schuldentsunami an

Das Problem der EZB besteht aktuell darin, dass sie fast keine Spielräume hat. Weitet sie ihre Kaufprogramme immer weiter aus, wie sie es gegenwärtig tut, vergrößert sie mit ihrer Geldflut die Blase und treibt zugleich den Schuldentsunami an. Strafft sie die Zügel oder verzichtet auch nur auf weitere Lockerungen, würden schlechtere Finanzierungsbedingungen ausgerechnet in dieser ohnehin schwierigen Situation die Pleitewelle anheizen und die Wirtschaftskrise verschärfen. Außerdem könnte der Wechselkurs des Euro weiter steigen, der schon jetzt die Exportwirtschaft belastet.

Denn die wachsende Verschuldung hat derzeit nachvollziehbare Gründe. Viele Unternehmen sind aktuell auf einen höheren Kreditrahmen angewiesen, weil ihnen Teile des Umsatzes weggebrochen sind und die Kosten trotzdem weiterlaufen. Ähnlich geht es vielen Familien, die plötzlich weniger Einkommen haben und trotzdem ihre Miete bezahlen müssen. Die Staaten wiederum verschulden sich mit Rekordsummen, um sich dem wirtschaftlichen Niedergang entgegenzustemmen. Bei den Staaten kann man die teilweise unsinnige Verwendung der Gelder kritisieren, aber dass die Staaten Hilfspakete auflegen, um wertvolle volkswirtschaftliche Substanz über die Krise zu retten, ist ganz sicher nicht falsch.

Würden in dieser Situation die Zinsen anziehen, hieße das: Unternehmen, die vor der Krise eigentlich gesund waren, aber durch die Maßnahmen hart getroffen wurden, stünden durch verteuerte Kredite noch schneller vor dem Aus. Die Staaten, vor allem hoch verschuldete Staaten wie Italien, könnten ihre Rettungsprogramme nicht mehr finanzieren, die Wirtschaft müsste daher mit noch weniger Hilfe auskommen. Beides hätte zur Folge, dass mehr Unternehmen diese Zeit nicht überleben würden und die Arbeitslosigkeit nach oben schnellt. Dann würden übrigens im Nachhinein ebenfalls die Staatsschulden steigen, nämlich wegen geringerer Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben. Es wäre also auch mit Blick auf den Schuldenberg nichts gewonnen.

Nach der Coronakrise muss der Entzug kommen

Wer die EZB einfach für ihre Geldflut schilt, macht es sich daher zu leicht. Denn es stimmt schon: das extreme Schuldenwachstum in diesem Jahr, das durch die EZB ermöglicht wurde, hat den wirtschaftlichen Einbruch in Grenzen gehalten. Ohne die komfortablen Finanzierungsbedingungen für Banken, Staaten und Unternehmen stünde die deutsche wie die europäische Wirtschaft schlechter da.

Als Anti-Krisen-Maßnahme in einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation ist die aktuelle Politik sowohl der Staaten als auch der EZB also durchaus gerechtfertigt. Das Problem ist, dass wir uns spätestens seit der letzten großen Finanzkrise 2009 praktisch ununterbrochen im Krisenmodus befinden, und die jetzigen EZB-Maßnahmen eben keine Ausnahme, sondern nur eine Fortführung und Erweiterung dessen sind, was die Frankfurter Währungshüter seit Jahren tun. Auch hat die Corona-Krise nur eine Fehlentwicklung fortgesetzt und verschärft, die uns schon lange begleitet und die man in den vielen Vor-Corona-Jahren hätte anders lösen können und müssen. Diese Fehlentwicklung besteht darin, dass Schulden und Vermögen ungleich schneller wachsen als die reale Wirtschaft. Statt diesen fatalen Trend zu stoppen, hat man ihn politisch ausgesessen und der EZB die Aufgabe übertragen, die aus ihm erwachsenden Probleme mit immer mehr Geld zuzuschütten.

Auf Dauer aber funktioniert das nicht. Denn das Zentralbankgeld wirkt wie eine harte Droge, von der man nicht nur süchtig wird, sondern auch eine immer höhere Dosis braucht, um den gleichen Effekt zu erreichen. Die aktuellen Dosen sind schon beängstigend hoch. Und die Reaktion der Finanzmärkte auf die jüngste Injektion – der Dax ist leicht gesunken, der Euro hat aufgewertet – hat gezeigt, dass selbst die erneute Zugabe von einer halben Billion Euro schon nicht mehr ausreichend war. Sobald die Wirtschaft die schlimmste Krise überstanden hat, ist daher dringend Entzug angesagt. Den allerdings kann die Zentralbank allein nicht bewältigen, wenn der Süchtige nicht kollabieren soll. Dafür braucht es einen Rahmen, den nur die Politik schaffen kann.

Ungleichgewicht zwischen Schulden und Realwirtschaft ist das eigentliche Problem

Denn der Grund, weshalb die EZB die Realzinsen, also die Zinsen abzüglich der Inflation, jetzt schon seit Jahren in den Negativbereich drückt, liegt eben in dem Ungleichgewicht zwischen Schulden und Realwirtschaft. Allein die extrem niedrigen Zinsen verhindern den Zusammenbruch der Kreditpyramiden. Den Mechanismus kann man leicht verstehen: Wenn Sie 30 000 Euro netto pro Jahr verdienen und 300 000 Euro Schulden haben, können sie bei einem Zinssatz von Null ohne Probleme damit leben und die Schulden allmählich sogar durch Tilgung verringern. Bei einem Zinssatz von 1 Prozent sind zumindest die Zinsen noch zahlbar, die Tilgung wird schon anstrengend. Bei einem Zinssatz von 5 Prozent verschlingen allein die Zinsen ihr halbes Einkommen. Und spätestens bei Zinsen von 10 Prozent begrüßt sie der Insolvenzrichter, bei dem Sie ihre Privatinsolvenz anmelden.

Es gibt bis heute im Euroraum viele hochverschuldete Unternehmen, die nur überleben, weil sie nahezu keine Zinsen zahlen müssen. Das betrifft vor allem Länder, für die der Euro ein Fluch ist, der seit vielen Jahren jegliches Wirtschaftswachstum verhindert. 2019 lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Italien auf dem Niveau, das das Land vor Einführung der Gemeinschaftswährung erreicht hatte. Hinzu kommen die hohen Schulden vieler Staaten des Euroraums, die bei höheren Zinsen an den Rand der Zahlungsfähigkeit kämen. Ähnliche Probleme gibt es auch außerhalb Europas. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat kürzlich ausgerechnet, dass die westlichen Staaten im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung so hoch verschuldet sind wie zuletzt am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Eine gewisse Zeit kann man diese Entwicklung noch mit der Geldflut der Zentralbanken überdecken und so die Zahlungsunfähigkeit sowohl der Staaten als auch vieler Unternehmen und letztlich auch der Banken verhindern. Langfristig sollte man so auf keinen Fall weiter machen. Denn die Nebenwirkungen dieser Strategie sind gravierend.

Inflation auf Finanzmärkten mit schweren Nebenwirkungen

Meist wird angenommen, dass die wichtigste Nebenwirkung einer solchen Politik in einer eskalierenden Inflation besteht. Kommt viel Geld in Umlauf, steigen die Preise. Das ist auch richtig, aber die Preise steigen nur da, wo diejenigen, die das Geld bekommen, auf Shoppingtour gehen. Würde die EZB ihre Euros als Helikoptergeld verteilen, also jedem Bürger der Eurozone beispielsweise 5000 Euro auf seinem Konto gutschreiben, würden die Verbraucherpreise zweifellos steigen. Aber der Normalbürger hat aktuell wenig Chancen, das Geld der EZB zu erhalten. Empfänger sind vielmehr die Banken und andere Finanzmarktplayer, die die von der EZB aufgekauften Unternehmens- und Staatsanleihen vorher besessen haben. Und die kaufen mit dem Geld keine Brötchen oder Flachbildschirme, sondern wieder Anlageprodukte: Aktien, Anleihen, Immobilien. In diesem Bereich haben wir tatsächlich eine hohe Inflation: also steigende Preise.

Soweit Finanzprodukte auf dem Sekundärmarkt gekauft werden, also von anderen Finanzinvestoren, zirkuliert die riesige Liquidität allein auf den Finanzmärkten. Nur, wo eine Ausweitung der Neuverschuldung von Unternehmen und Staaten finanziert wird, kommt es am Ende auch bei realen Produzenten und Konsumenten an. Aber dort landet nur ein Bruchteil des Geldes, und das ist aktuell viel zu wenig, um Inflation auszulösen. Das kann sich natürlich ändern. Aber dafür müssten die Einkommen normaler Menschen massiv steigen und/oder das Güterangebot sich wegen brechender Lieferketten oder anderen Problemen dramatisch verknappen.

Aber die Inflation auf den Finanzmärkten und die negativen Realzinsen sind auch dann nicht harmlos, wenn sie nicht von einer Verbraucherpreisinflation begleitet werden. Sie haben schwerwiegende Nebenwirkungen. Erstens verändern sich dadurch die Wettbewerbsbedingungen innerhalb des Unternehmenssektors, und zwar zugunsten der Großen und zulasten der Kleinen. Konzerne, deren Papiere Teil des Kaufprogramms der EZB und anderer Zentralbanken sind, verfügen heute über idyllische Finanzierungsbedingungen, die sich von denen kleiner und mittlerer Firmen, die unverändert auf den Kredit der Hausbank angewiesen sind, gravierend unterscheiden. Einen gewissen Unterschied gab es hier zwar immer, aber nie eine derart große Kluft. Immerhin stehen kostenlosen Finanzierungen auf der einen Seite Überziehungszinsen von teilweise mehr als 10 Prozent gegenüber. Wer eine solche Differenz über eine längere Zeit toleriert, muss sich über die zunehmende Marktmacht weniger Großanbieter und massive Schäden für Wettbewerb und Kunden nicht wundern.

Inflation mit Folgen für die Vermögensverteilung

Zweitens betreffen die steigenden Preise zumindest einen realen Sektor: die Immobilien. Und mit den Immobilienpreisen steigen die Mieten, wie wir jetzt schon seit Jahren erleben. Da die Menschen, die Mieteinkünfte haben, aber im Schnitt deutlich wohlhabender sind als die Menschen, die Mieten zahlen, bedeuten steigende Mieten eine Vergrößerung der Einkommensungleichheit, und außerdem für viele Familien weniger Wohlstand und sinkende Lebensqualität, weil man entweder immer größere Teile des Einkommens für Mieten ausgeben oder in die Randbezirke ziehen und längere Arbeitswege in Kauf nehmen muss.

Drittens hat die Inflation auf den Kapitalmärkten Folgen für die Vermögensverteilung. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kapitalmarktprodukte sich in erster Linie im Portfolio sehr reicher Personen befinden, während die Mittelschicht eher auf sichere Anlagen und damit auf Sparkonten und Anleihen setzt. Das hat auch seine Logik: Die Kurse von Aktien schwanken stark. Wer nicht so viel Geld hat, dass er irgendwann von der Rendite auf sein Vermögen leben kann, sondern im Alter tatsächlich verbrauchen muss, was er vorher angelegt hat, ist mit Investments auf dem Aktienmarkt nicht unbedingt gut beraten. Wenn er Pech hat, sind von mühsam angesparten 40 000 Euro dann nämlich nur noch 10 000 Euro übrig.

In Deutschland liegen rund 70 Prozent aller privatgehaltenen Aktien in den Depots von genau 1 Prozent der Haushalte. Wenn die Finanzmärkte boomen, werden damit vor allem die Reichen reicher und die Ungleichheit steigt. Das lässt sich an den Statistiken ablesen. Das addierte Vermögen aller Milliardäre weltweit lag laut Berechnungen der Großbank UBS in den Jahren 1998 bis 2002 nahe einer Billion Dollar. Seither steigt es, mit einer Unterbrechung zwischen 2009 und 2011, steil an, 2017 waren es schon neun Billionen. Ausgerechnet im Corona-Jahr 2020 wuchs das Vermögen der Milliardäre nochmals um 1000 Milliarden Dollar, immerhin im Schnitt 500 Millionen zusätzlich für jeden Milliardär, und das im Jahr der bislang schwersten Wirtschaftskrise, in der Millionen Arbeitnehmer und kleine Gewerbetreibende um ihre soziale Existenz zittern.

Sparer verlieren seit Jahren ihr Vermögen

Der Sparer dagegen, also die Mittelschicht, verliert seit vielen Jahren Vermögen. Negative Realzinsen bedeuten eben, dass Ersparnisse wegschmelzen, je länger sie liegen. Wer heute auf 100 Euro Kaufkraft verzichtet, bekommt dafür morgen nur noch 80 Euro zurück. Und das in einer Zeit, in der die Politik die gesetzlichen Rentenansprüche so stark gekürzt hat, dass davon im Alter viele nicht mehr leben können. Inzwischen drohen dem Sparer auf immer mehr Konten sogar negative Nominalzinsen, teilweise schon ab Anlagesummen von 10 000 Euro.

Tatsächlich läuft der Versuch, das Ungleichgewicht zwischen Schulden/Vermögen und Realwirtschaft durch Negativzinsen zu verringern, auf eine kalte Enteignung der Mittelschicht hinaus. Soweit die Schulden nach der letzten großen Finanzkrise verringert wurden, wurde das von den Vermögen der normalen Sparer bezahlt. Dagegen, diesen Weg nach der Corona-Krise weiter zu gehen, spricht zweierlei: Er ist erstens in höchstem Grade ungerecht. Aber, zweitens, funktioniert er auch nicht, weil er bei der aktuellen Höhe der Negativzinsen viel zu lange dauern würde. Und solange es Bargeld gibt, wird sich kein Sparer gefallen lassen, dass sein angelegtes Geld sich womöglich um 5 oder 10 Prozent im Jahr verringert, weil es dann im Tresor einfach besser aufgehoben wäre.

Wie sieht ein realistischer Ausweg aus dem Desaster aus, der spätestens nach dem Abklingen der Corona-Krise beschritten werden sollte?

Restrukturierung der Schulden einziger echter Ausweg

Eine Variante ist die, auf die Ökonomen und Politik schon lange ihre Hoffnung setzen: Die Wirtschaft und die Staaten wachsen aus ihren Schulden heraus. Erfolgreich praktiziert haben das die USA und Großbritannien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals gelang es, mit einer Mischung aus Wirtschaftswachstum und leichter Inflation die Verbindlichkeiten allmählich abzutragen. Allerdings: möglich war das nur, weil das Wachstum damals extrem hoch war. Auch wenn es mit einer guten Industriepolitik und einer sinnvolleren Ausgestaltung der europäischen Währungsbeziehungen sicher machbar wäre, die mageren Wachstumsraten, die viele europäische Länder in den zurückliegenden Jahren hatten, zu verbessern: dass das wirtschaftliche Wachstum noch einmal ausreicht, um den extremen Schuldenüberhang in überschaubarer Zeit abzubauen, ist unwahrscheinlich.

Bleibt als einziger Weg die geordnete Restrukturierung der Schulden. Genau das hätte eigentlich schon nach der letzten großen Finanzkrise geschehen müssen. Dabei sollte man sich dessen bewusst sein: Wer Schulden reduzieren will, muss letztlich auch Vermögen reduzieren. Es sollten nur endlich einmal nicht die Vermögen der Mittelschicht sein, sondern die Vermögen der extrem Reichen und der Finanzmarktspieler, die zum Abtragen der Schulden herangezogen werden. Das beginnt bei den Banken, die nach Corona noch mehr faule Kredite in ihren Büchern haben werden. Wo das Eigenkapital überfordert ist, müssen Aktionäre und Gläubiger haften und zwar in voller Höhe der Schulden. Anders als die EU-Regeln es vorsehen, sollte allerdings eine Gläubigergruppe, die das ja eher unfreiwillig ist, komplett von der Haftung freigestellt werden: die Inhaber der Konten. Dann gibt es auch keine Gefahr von Bank-Runs.

Auch die Staatsschulden müssen restrukturiert werden, wenn es einen Neuanfang geben soll. Das wird dadurch erleichtert, dass ein beachtlicher Teil der Staatsschulden inzwischen bei der EZB liegt. Auch wenn es unserem intuitiven Verständnis widerspricht: In einem Geldsystem, das keine Golddeckung hat, gibt es das berühmte free lunch. Die EZB hat mittlerweile Anleihen in Höhe von rund 3 Billionen Euro in ihren Büchern, ein beachtlicher Teil davon sind Staatsanleihen. Die Zentralbank ist die einzige Bank, die Vermögenspositionen in ihrer Bilanz einfach abschreiben kann, ohne ihr Eigenkapital aufzubrauchen. Die Annullierung der Anleihen kostet auch kein Steuergeld, weil die EZB ihre Anleihekäufe nicht mit Steuergeld, sondern mit aus dem Nichts geschöpften Euros finanziert hat.

Staatsfinanzierung durch die Notenbank – letztlich macht die EZB derzeit genau das – ist seit der Hyperinflation der Weimarer Republik in Deutschland geächtet, aber tatsächlich führt sie nur dann zur Inflation, wenn eine bestimmte Grenze überschritten wird. Die Streichung der gekauften Anleihen hat definitiv keine Auswirkungen auf die Verbraucherpreise.

EU-Länder sollten durch einmalige Steuer für Vermögen über 100 Millionen Euro Inflation entgegenwirken

Alle Euro-Länder sollten anschließend mit einer einmaligen Vermögensabgabe zulasten von Vermögen über 100 Millionen Euro Liquidität aus dem Markt nehmen und so der Inflation auf den Vermögensmärkten entgegenwirken. Die genaue Höhe dieser Abgabe sollte sich national an der Höhe der nach dem EZB-Schuldenschnitt verbliebenen Staatsverschuldung orientieren. Wenn alle ihre Schuldenquoten auf höchstens 60 Prozent der Wirtschaftsleistung reduziert haben, ist ein Neustart mit normalisierten Zinsen möglich.

Mit einer sinnvollen Industriepolitik zugunsten nachhaltiger Technologien und einer Re-Organisation der Währungsbeziehungen im Euroraum, die Abwertungen wieder ermöglicht, sollte zudem das Wirtschaftswachstum unterstützt werden. Als weitere Maßnahmen unerlässlich wären eine harte Regulierung und De-Globalisierung der Finanzmärkte und möglichst eine Rücknahme der Hyperglobalisierung der realen Wirtschaft. Das ergäbe dann eine politische Agenda, zu der Finanzmarktstabilität und solide verzinste Anlagen für sicherheitsbewusste Sparer ebenso gehören würden wie ein vorteilhafter Rahmen für mittlere und kleinere Unternehmen und eine gestärkte Mittelschicht.

Focus,