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Widersprüche und Wut in Mexiko

Im Wortlaut von Heike Hänsel,

Heike Hänsel war vom 14.-17. November in Mexiko. Das Permanente Tribunal der Völker, das über die Folgen von 20 Jahren Freihandelspolitik in Mexiko beriet, hatte sie als internationale Beobachterin eingeladen.

Heike Hänsel (3.v.l.)

Von Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

In Mexiko war ich zum Tribunal der Völker als internationale Beobachterin eingeladen. Dabei ging es um die Folgen von 20 Jahren Freihandel. Wegen der aktuellen Ereignisse im Süden des Landes bin ich auch in den angrenzenden Bundesstaat Guerrero gefahren. Dort waren Ende September 43 Studenten von der Polizei verschleppt und dann an kriminelle Banden übergeben worden. An der Universität von Ayotzinapa konnte ich mich mit Kommilitonen und Angehörigen der 43 Studenten treffen. Da für ganz Guerrero eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes vorlag und wir eigentlich gebeten wurden, nicht dorthin zu fahren, war der Aufenthalt auf ein paar Stunden begrenzt.

"Donde están?" – "Wo sind sie?", fragten die Eltern immer wieder, im festen Glauben die Studenten seien noch am Leben. Es war schockierend, die Verzweiflung der Angehörigen zu erleben, die jegliches Vertrauen in die staatlichen Institutionen verloren haben. Sie hoffen bei der Aufklärung des Falls und der Suche nach ihren verschwundenen Söhne nur noch auf internationale Hilfe. Von den staatlichen Behörden fordern sie, dass weiter in Zusammenarbeit mit dem Interamerikanischen Gerichtshof, dem sie mehr Vertrauen schenken, nach ihren Söhnen gesucht wird.

Zahlreiche Ermittlungen nicht eingeleitet

Nach wie vor gibt es zahlreiche Widersprüche – sowohl in den Zeugenaussagen, bei den forensischen Ermittlungen als auch beim Verhalten der Generalstaatsanwaltschaft. So wurde zum Beispiel die Rolle des Militärs nicht untersucht, obwohl in der Nacht vom 26. auf den 27. September laut zahlreicher Zeugenaussagen Soldaten in das Krankenhaus von Iguala gekommen sind. Dort hätten sie die durch die Polizei verletzten Studenten bedroht.

Dennoch gibt es, trotz der Vorwürfe, keine Untersuchung gegen das Militär. Zahlreiche mögliche Ermittlungen wurden bisher nicht eingeleitet, so zum Beispiel die Handy-Ortung der Studenten, die Anforderung von Satellitenbildern und Kommunikationsverbindungen von Gouverneur, Bürgermeister und Polizeichef.

Bei meinem Gespräch mit der Vize-Generalstaatsanwältin, die auch für den Fall der 43 Studenten zuständig ist, wurden die Widersprüche immer größer. So gab es bisher keine Untersuchung zur Rolle des Militärs. Einerseits sagte sie, es gebe keine Beweise, dass die Studenten verbrannt wurden. Andererseits präsentierte sie die gegenteiligen Aussagen von drei verhafteten mutmaßlichen Mitgliedern der Bande "Guerreros Unidos" zum Tathergang.

Aufklärung erheblich behindert

In einem Gespräch mit Vertretern des argentinischen Forensikerteams erhoben diese Experten mir gegenüber auch Vorwürfe wegen des chaotischen Umgangs mit den menschlichen Überresten aus den anderen Massengräbern. Dadurch sei die Aufklärungsarbeit erheblich behindert worden, hieß es von dieser Seite. Die Untersuchungen konnten durch die Missstände erst eine Woche verzögert beginnen.

Die Studenten, Mütter und Väter von Ayotzinapa haben sich entschlossen, mit einem landesweiten Protestzug durch Mexiko auf ihr Schicksal und die Verwicklung der staatlichen Institutionen aufmerksam zu machen.

Soviel kann ich jetzt schon sagen: Das Verbrechen von Ayotzinapa ist möglich geworden, weil es bereits zahlreiche andere Morde und das "Verschwindenlassen" von Menschen ohne jegliche Konsequenz in Guerrero und anderen Bundesstaaten gegeben hat. So wurden bereits vor einem Jahr zwei Studenten der Uni von Ayotzinapa ermordet, übrigens mit G36-Gewehren von Heckler&Koch, den Ordonnanzwaffen der Bundeswehr. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die 100-prozentige Straflosigkeit benötigen konsequenten Druck von außen. Gefordert ist auch, die vielfach bedrohten MenschenrechtsverteidigerInnen zu unterstützen.

LINKE lehnt deutsches Kooperationsabkommen mit mexikanischer Polizei ab

In diesem Zusammenhang ist es nicht nachzuvollziehen, dass die Bundesregierung ein geplantes Kooperationsabkommen mit der mexikanischen Polizei vorantreibt und nun bald abschließen will, dies wäre keine Unterstützung, sondern Beihilfe zu brutalen Menschenrechtsverletzungen! Deshalb haben wir einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der den Stopp der Verhandlungen über das Sicherheitsabkommen fordert.

Das Permanente Tribunal der Völker sprach unterdessen in der Universität in Mexiko-Stadt ein verheerendes Urteil über 20 Jahre NAFTA, das Mexiko zu einer verlängerten Werkbank der internationalen Konzerne gemacht hat, mit steigender Armutsquote von 45 auf über 50 Prozent, trotz Zunahme des Handels und des Exports. Souveräne Rechte der Bevölkerung auf Ernährung, Land, Wasser, Mobilität, Gesundheit, Bildung und indigenes Leben wurden verhökert für die Profite einer kleinen Elite von 2-3 Prozent und den großen Konzernen. Es stellte auch den Zusammenhang zwischen Freihandel, prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, Arbeitsmigration, Unsicherheit und Gewalt dar sowie die Kooperation mit und Infiltration des Staates durch die Organisierte Kriminalität. Damit einher ginge eine zum Himmel schreiende Straflosigkeit. “Wir haben hier Folter ohne Folterer und extralegale Hinrichtungen ohne Henker”, so ein Richter im Abschlussbericht. Der Präsident des Tribunals, Philippe Texier, rief zum Schluss dazu auf, das Urteil des Tribunals sei Verpflichtung für ein neues Mexiko zu kämpfen, das heute beginne.

Die Organisationen des Tribunals haben Interesse an einer Vernetzung mit Gegnern des Freihandels in Europa, zum Beispiel im Rahmen der Aktionen gegen TTIP, TISA und TPP, das auch Mexiko betreffen wird. Noch während das Tribunal tagte, wurde ein Teil des Uni-Campus von der Polizei gestürmt, es kam zu Schießereien, bei denen ein Student verletzt wurde. Nach Demonstrationen gegen den Universitätspräsidenten, der dies zugelassen hatte, wurde das Uni-Gelände am Tag darauf weiträumig abgesperrt. Ich fuhr mit sehr gemischten Gefühlen zurück nach Deutschland.

linksfraktion.de, 19. November 2014