Zum Hauptinhalt springen

Wenn Würde nichts mehr wert ist

Kolumne von Klaus Ernst,

 

 

Von Klaus Ernst, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Gründungsmitglied der WASG

 

Die Agenda 2010 war in der Geschichte der Bundesrepublik nicht der erste Versuch, Sozialleistungen abzubauen. Bereits unter Bundeskanzler Kohl wurden massive Angriffe auf den Sozialstaat gefahren. Der Kündigungsschutz wurde gelockert. Lohnfortzahlungen bei Krankheit sollten eingeschränkt und die Rente gekürzt werden. Bereits damals haben wir in der Verwaltungsstelle Schweinfurt als IG Metaller und andere protestiert. Mit der Abwahl von Kohl 1998 und der rot-grünen Regierung dachten viele, dass jetzt die Voraussetzungen zum Erhalt des Sozialstaates gegeben seien. Doch spätestens seit dem Rücktritt von Oskar Lafontaine zeigte sich der wahre Charakter dieser Regierung.

Anleitung zum Schleifen des Sozialstaats

Die ganze Agenda 2010 und mit ihr die Hartz-IV-Gesetze folgten einem Masterplan: dem Schröder-Blair-Papier, das Gerhard Schröder und Tony Blair am 8. Juni 1999, wenige Tage vor der damaligen Europawahl, gemeinsam veröffentlichten. Das Papier trägt den euphemistischen Namen „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ und war nichts weniger als eine Anleitung zum Schleifen des Sozialstaats. Die Sozialdemokraten setzten den Sozialabbau brutaler fort als es Kohl je gewagt hätte: Die Rente wurde mit der Riester-Rente teilprivatisiert. Praxisgebühren für Arztbesuche wurden eingeführt. Für Kapitalgesellschaften wurde die Körperschaftssteuer gesenkt, Veräußerungsgewinne für Unternehmen steuerfrei gestellt. Der Spitzensteuersatz wurde von 52 Prozent auf 43 Prozent gesenkt, was für eine Person mit einem Einkommen von 1 Million Euro ein Steuergeschenk von etwa 100.000 Euro bedeutet.

Gewerkschaften zwischen Schockstarre und Aufbegehren

Wir Gewerkschafter der IG Metall in Schweinfurt haben wie schon zu Kohls Regierungszeit versucht, massiv Widerstand zu leisten – bis hin zu Arbeitsniederlegungen gegen die Riesterrente. Doch viele in den großen Gewerkschaften waren paralysiert, betrachteten sie doch die Regierung Schröder als die ihre, welche sie selbst im Wahlkampf unterstützt hatten.

Unerträgliche Entwertung der Arbeit

Als Schröder 2003 seine Agenda verkündete und den Arbeitsmarkt weitgehend deregulierte durch Entgrenzung von Leiharbeit und befristeter Beschäftigung, war Hartz IV ein weiterer Schritt zu dem Ziel, das eigentlich im Zentrum stand: einem drastischen Absenken der Löhne. Mit der Einführung von Hartz-IV ging es nun darum, die Versorgung von Menschen ohne Arbeit, die nicht mehr im AGL I Bezug waren, auf das absolute Minimum zu drücken. Sie sollten gezwungen sein, Arbeit aller Art anzunehmen, egal bei welcher Qualifikation und welcher Bezahlung. Die Einführung der Ein-Euro-Jobs bedeutete eine unerträgliche Entwertung der Arbeit. Die Regelung der Bedarfsgemeinschaft bedeutete, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, ohne jegliche Unterstützung blieben, wenn ein Familienmitglied noch über eine bestimmte Einkommensgrenze verdiente. Die Angst, arbeitslos zu werden und in dieses System zu fallen, war selbst bei in Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so groß, dass viele bereit waren, unterhalb der tariflichen Bestimmungen zu arbeiten.

Größter Niedriglohnsektor Europas

Zehn Jahre nach der Einführung von Hartz IV ist Deutschland ein Billiglohnland mit einem der größten Niedriglohnsektoren Europas. Die Löhne in Deutschland stagnierten seit dem Jahr 2000  inflationsbereinigt nicht nur, sondern sie sanken. Jede fünfte Arbeitsstelle ist heute prekär. Rentnerinnen und Rentner haben in den letzten zwölf Jahren rund ein Drittel ihre Kaufkraft verloren. Nur bei den Unternehmern und Kapitaleignern knallen die Champagnerkorken: Trotz der Finanzkrise sind die Gewinn- und Unternehmenseinkommen seit 2000 real um 24 Prozent gestiegen.

Widerstand leisten

Warum musste das so kommen? Hätte diese Entwicklung nicht verhindert werden können? Mehrere Initiativen mit dem Versuch, die SPD zu einem Umdenken zu bewegen, scheiterten. Nach dem Ausschluss vieler Mitstreiter und mir aus der SPD und angesichts der zögerlichen Haltung der Gewerkschaften war bald klar, dass letztendlich nur der Schritt blieb, eine neue Partei zu gründen. Nur eine Partei, die auch im Westen und in der organisierten Arbeitnehmerschaft verankert ist, würde in der Lage sein, gegen die Agenda-Reformen Widerstand zu leisten. Es war die Geburtsstunde der WASG, die ihr Hauptanliegen im Namen trug: Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Der Zusammenschluss mit der Linkspartei.PDS stellte den Widerstand auf eine gesamtdeutsche Basis.

Demokratisches und soziales Korrektiv in Deutschland

Und dieser Widerstand bleibt weiter nötig, unsere Kritik an der Agenda-Politik von Schröder nach wie vor richtig. Es ist unglaublich, das sich Sozialdemokraten und Grüne bis heute für die Agenda 2010, die selbst vom Verfassungsgericht korrigiert werden musste, noch immer auf die Schulter klopfen. Die Gewerkschaften wurden massiv geschwächt und damit, von Deutschland ausgehend, ein europaweites Lohndumping eingeleitet. Hartz IV hat die SPD zu einer neoliberalen Partei gemacht, in der Folge hat sie ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Die LINKE ist heute das demokratische und soziale Korrektiv in Deutschland. Auch wenn das Hartz-IV-System nach wie vor besteht: Ohne den Kampf der LINKEN und der Gewerkschaften gäbe es nicht mal den – wenn auch deutlich zu niedrigen – Mindestlohn von 8,50 Euro, der die Rutschbahn der Löhne zumindest ein wenig stoppt. Doch es bleibt noch viel, für das wir streiten müssen. Der Preis der Arbeit ist das eine. Der Wert der Würde das andere. Deshalb bleibt es dabei: Hartz IV muss weg! Wir brauchen eine bedarfsdeckende sanktionsfreie Mindestsicherung.

linksfraktion.de, 17. Dezember 2014