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Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch © dpaFoto: dpa

»Weiter-so-Politik beenden«

Interview der Woche von Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch,

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales prognostiziert in seinen Sozialbericht, dass die Sozialleistungen im Jahr 2021 bei über einer Billion Euro liegen werden. Dietmar Bartsch sieht im sozialen Netz die Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Sahra Wagenknecht kritisiert, "dass in Deutschland, einem der reichsten Länder mit kontinuierlich wachsender Wirtschaftsleistung, der Sozialstaat zunehmend unter die Räder kommt und die Altersarmut stark zunimmt". Im gemeinsamen Interview fordern die beiden Fraktionsvorsitzenden ein Ende der Weiter-so-Politik und einen politischen Wechsel in Deutschland.

  

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat seinen Sozialbericht vorgestellt. Darin wird prognostiziert, dass die Sozialleistungen im Jahr 2021 bei über einer Billion Euro liegen werden. Außerdem würden die Sozialleistungen schneller wachsen als die Wirtschaftsleistung. Das klingt nach einer ziemlich untragbaren Entwicklung. Und jetzt kommt DIE LINKE daher und verlangt noch mehr Sozialleistungen – beispielsweise die Erhöhung des Rentenniveaus und eine Verlängerung der Bezugsdauer bei beim Arbeitslosengeld. Wer soll das denn finanzieren?

Dietmar Bartsch: Erst einmal finde ich, dass eine Versachlichung der Debatte zwingend erforderlich ist. Man muss sich hier wirklich mal die sprachlichen Bilder ansehen, die gemalt werden: Kostenexplosion, Ausgabenkarussell, Bleiwesten für Unternehmen. Panikmache hat einer demokratischen Debatte noch nie gut getan.

Sahra Wagenknecht: Es kommt darauf an, warum die Sozialausgaben steigen. Wenn sie steigen, weil durch die Ausbreitung des Niedriglohnsektors immer mehr Menschen trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen sind, dann ist das schlecht. Das allein macht rund 10 Milliarden Euro pro Jahr aus. Wenn die Sozialausgaben steigen, weil der Sozialstaat ausgebaut wird, dann kann das sinnvoll sein. Denn dramatisch und äußerst beunruhigend ist hierzulande unter anderem, dass immer mehr Rentner, bald jeder fünfte, in Armut leben müssen. Das muss sich ändern. Unser Nachbarland Österreich zeigt, dass dies auch machbar ist. Dort ist die Durchschnittsrente knapp 800 Euro höher als bei uns und vor Altersarmut schützt eine Mindestrente von 1.030 Euro. Deshalb müssen wir in Deutschland die Weiter-so-Politik beenden. Wir müssen den Niedriglohnsektor austrocknen, das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent anheben, den Arbeitgebern wieder höhere Sozialbeiträge abverlangen, die Beitragsbemessungsgrenzen aufheben und auch Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rente einbeziehen. So können durch mehr Gerechtigkeit höhere Sozialausgaben ohne Schulden finanziert werden. In diesem Fall würde das Sozialbudget eine Weile schneller wachsen als die Wirtschaft. Und das wäre in diesem Fall gut so.

Die Arbeitgeber stöhnen doch jetzt schon über zu hohe Abgaben. Wie wollen Sie denn verhindern, dass Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden?

Sahra Wagenknecht: Schon beim Mindestlohn wurde behauptet, dass er zigtausende Arbeitsstellen kosten würde. Nichts davon hat sich bewahrheitet. Es stimmt auch nicht, dass die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber in Deutschland so hoch seien. 2016 lagen unsere Lohnnebenkosten unter dem EU-Durchschnitt.

Stichwort steuerfinanzierte Leistungen, insbesondere Kindergeld. Das will DIE LINKE erhöhen, genauso wie die Leistungen für Langzeiterwerbslose. Sind das nicht – salopp formuliert – billige Wahlkampfversprechen für die eigene Klientel?

Dietmar Bartsch: Das soziale Netz ist keine Frage von Versprechen oder Geschenken, sondern Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Darüber wird demokratisch abgestimmt. Wenn der BDA-Präsident Kramer davon spricht, dass die Politik in der letzten Wahlperiode „die Spendierhosen“ an hatte, dann hat er von sozialstaatlicher Demokratie wenig verstanden. Und Kinderarmut ist ein massives Problem. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm oder armutsgefährdet, damit werden Rechte auf Teilhabe und Gesundheit tagtäglich verletzt. Kinderarmut ist immer auch Elternarmut. Hier muss wirklich gehandelt werden.

Die Problembeschreibung mag ja stimmen. Aber es bleibt doch der Fakt, dass die Sozialleistungsquote langfristig stark gestiegen ist.

Sahra Wagenknecht: Wie gesagt, man muss sich genau anschauen warum die Sozialleistungsquote steigt. Aber in einer sich entwickelnden Ökonomie ist das in der Regel normal. Die Sozialleistungsquote war im 19 Jahrhundert erheblich niedriger, was aber mit niedrigeren Sozialleistungen einherging. Problematisch ist doch in unserer Zeit, dass in Deutschland, einem der reichsten Länder mit kontinuierlich wachsender Wirtschaftsleistung, der Sozialstaat zunehmend unter die Räder kommt und die Altersarmut stark zunimmt. Außerdem: Sozialausgaben sind produktiv. Der Sozialstaat ist ein Wirtschaftsfaktor. Leistungen an einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger fließen unmittelbar in den Konsum, nicht aufs Konto, das steigert die Kaufkraft. Und der Sozialstaat schafft Arbeitsplätze, weil er soziale Dienstleistungen anbietet. Wichtig ist aber, dass diese Jobs auch vernünftig entlohnt werden.

Sehen Sie gar nicht die Gefahr, dass für alles der Staat verantwortlich gemacht wird? Wo bleibt denn da die individuelle Verantwortlichkeit?

Dietmar Bartsch: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft kann niemand allein für sich sorgen. Es ist nicht neu, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Das gab oder gibt es etwa in Dörfern, religiösen Gemeinschaften und Zünften, weil von einer geteilten Verantwortung alle profitieren. Im Sozialstaat wurde vieles davon demokratisiert, so dass Teilhabemöglichkeiten gleichmäßiger verteilt sind. Das erweitert die individuelle Handlungsfreiheit und begrenzt sie nicht. Zum Beispiel bleiben Pflege und Sorgearbeit meist an den Frauen hängen, wenn der Sozialstaat versagt. Umgekehrt hatte Schweden mit seinem sehr umfassenden Sozialstaat schon früh eine hohe Frauenerwerbstätigkeit. Die soziale Frage ist ganz eng mit der Geschlechterfrage verknüpft. Dass soziale Sicherheit auch zur Lebenszufriedenheit in einer Gesellschaft beiträgt, wird übrigens zunehmend mit Messwerten wie dem World Happiness Report der UNO beschrieben. Allein anhand der Wirtschaftsleistung lässt sich gar nicht feststellen, wie gut es den Menschen in einer Gesellschaft wirklich geht.

Die Diskussion um Sozialleistungen hat ja schon eine ziemliche Geschichte auf dem Buckel. Die SPD ist mit ihr entstanden. Wo sieht DIE LINKE hierbei ihre Aufgabe?

Dietmar Bartsch: Seit der Agenda 2010 braucht es mehr Druck für soziale Sicherheit. Da machen Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände viel. Einige fordern im Bündnis „Reichtum umverteilen“ eine Vermögensteuer. Aber diese Themen ins Parlament zu tragen, macht vor allem DIE LINKE, denn da ist auf SPD und Grüne leider kein Verlass.

Sahra Wagenknecht: Eine Voraussetzung zur Wiedererrichtung eines funktionierenden Sozialstaats ist ein Ende der Weiter-so-Politik in Deutschland. Leider ist die Schulz-SPD, die auf Agenda-Kanzler Schröder als Zugpferd setzt und gerne mit der FDP regieren will, dafür offensichtlich immer noch nicht bereit. Nur DIE LINKE steht konsequent für einen grundlegenden Politikwechsel. Jede Wählerin und jeder Wähler kann durch seine Stimme dieses Ziel unterstützen. Denn ohne eine starke LINKE gibt es kein Umdenken bei der SPD und keine soziale Wende in diesem Land.