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Wege aus der Krise

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht,

Ökonomie. Hintergründe und Perspektiven der Staatsverschuldung (Teil 2 und Schluß).

Inzwischen wird deutlich, daß zumindest in Europa der Ausgleich von Nachfrageeinbrüchen durch expansive staatliche Ausgabenpolitik nicht mehr auf der Agenda steht. Die gegenwärtigen Sparprogramme bedeuten den sicheren Weg in den nächsten wirtschaftlichen Einbruch und eine hohe Deflationsgefahr. In einer Deflation allerdings werden Schulden, die ja ihren Nominalwert behalten, umso drückender, und die Realzinsen steigen, selbst wenn die Nominalzinsen niedrig bleiben. Auch ist nicht unwahrscheinlich – und für mehrere Euro-Länder bereits Realität –, daß unabhängig von den Leitzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) die Kapitalmärkte den Staaten aufgrund ihrer wachsenden Defizite höhere Zinsen abverlangen werden. Das würde das weitere Schuldenwachstum zusätzlich beschleunigen. Das heißt aber: Selbst wenn wir von weiteren Bankenrettungen und einer fortgesetzten Übertragung fauler privater Schulden auf die öffentliche Hand absehen, ist die staatliche Finanzsituation explosiv.

Gesetzt, alle Länder der Euro-Zone könnten ab sofort einen ausgeglichenen Primärhaushalt erreichen (was nicht nur wirtschaftlich unsinnig wäre, sondern real auch nirgends in Reichweite ist), würde die staatliche Schuldenquote weiterhin jedes Jahr um die Differenz zwischen Realzins und Wachstumsrate anschwellen. Bei Nullwachstum und Nullinflation wäre das aktuell eine Zunahme der staatlichen Schuldenquote um etwa vier Bruttoinlandsprodukt (BIP)-Prozentpunkte pro Jahr. Steigen die Kapitalmarktzinsen oder kommt die Wirtschaft tatsächlich in eine neue Rezession oder Deflation, wäre es noch deutlich mehr. Bei ausgeglichenem Primärhaushalt wohlgemerkt, den kein Land in einer Rezession – selbst bei den verrücktesten Sparbemühungen – erreichen wird. Ganz abgesehen davon, daß es, je schlechter die Wirtschaftslage ist, desto wahrscheinlicher zu neuen akuten Problemen bei Banken oder Versicherungen kommt, die die öffentliche Hand dann zusätzlich belasten dürften. Spaniens Staatsanleihen etwa stehen in erster Linie wegen der Probleme der spanischen Banken unter Druck, die in erheblicher Größenordnung faule Kredite aus der vorangegangenen Immobilienblase in ihren Bilanzen haben. Wie selbstverständlich wird im Handel mit spanischen Anleihen eingepreist, daß der Staat im Notfall seine Banken stützen wird.

Es braucht also keiner prophetischen Fähigkeiten, um vorherzusagen, daß es ein »Weiter so« in der Frage der Staatsverschuldung nicht geben kann. Drei Jahrzehnte neoliberaler Umverteilung von unten nach oben haben eine globale Vermögens- und Schuldenblase von historisch beispielloser Dimension erzeugt, und die entscheidende Aufgabe der Zukunft besteht darin, aus dieser Vermögens- und Schuldenblase geordnet die Luft wieder herauszulassen. Und zwar so, daß es möglichst genau jene Vermögen trifft, deren enormer Zuwachs tatsächlich auf der Blasenökonomie der letzten drei Jahrzehnte beruht, also auf Dividenden, Zinseszins und Spekulation. In Deutschland beispielsweise sind die privaten Geldvermögen allein seit der Jahrtausendwende von 3,6 auf 4,6 Billionen Euro angeschwollen. Diese zusätzliche Billion befindet sich nahezu ausnahmslos auf den Konten der oberen Zehntausend, also der Millionäre und Multimillionäre, während die Spareinlagen der Mehrheit der Bevölkerung eher geschrumpft sind. Diese Billion ist ein Beispiel für das, was ich mit Vermögensblase meine.

Die faulen Schulden müssen also so abgeschrieben werden, daß in der Gegenbuchung diese blasenbasierten Vermögen verschwinden – und nicht die Spargroschen der Mittelschicht.

Die Schuldenblase wird irgendwann platzen. Die ganze Frage ist, auf welche Weise, zu wessen Lasten und mit welchen volkswirtschaftlichen Folgewirkungen.

1. Erste Variante: Weiter so bis zum Crash

Eine denkbare (und verheerende) Variante ist die, die sich zur Zeit in Europa andeutet: Die Staaten versuchen, durch irrwitzige Sparprogramme ihrer eskalierenden Defizite Herr zu werden. In der Folge erlebt die Wirtschaft einen erneuten Einbruch, verstärkt eventuell durch eine Deflation. Spätestens das dürfte bald wieder größere Finanzinstitute ins Wanken bringen, die dann erneut mit Staatsgeld gerettet werden. Einige Euro-Länder, die das besonders betrifft und deren Defizite besonders schnell steigen, werden von den Kapitalmärkten mit steigenden Zinsen abgestraft und können sich womöglich bald gar nicht mehr zu vernünftigen Bedingungen refinanzieren. Dann greift zwar vielleicht der Euro-Rettungsmechanismus, das hat aber nur zur Folge, daß die Schulden nun nicht mehr von der privaten auf die öffentliche Hand, sondern von den schwächeren auf die stärkeren Euro-Länder abgewälzt werden. Da das aber nicht auf Dauer funktioniert – spätestens wenn Länder wie Spanien mit derzeit etwa 700 Milliarden an Schulden oder gar Italien mit knapp zwei Billionen staatlicher Außenstände in Probleme geraten –, wird es irgendwann das erste Land geben, das einen Zahlungstopp verkündet und eine Umschuldung einleitet. Dann werden die Kreditzinsen für Staaten in vergleichbarer Situation explodieren, so daß auch diese Länder bald nicht mehr zahlungsfähig sein werden. Es wird dann Bankencrashs geben, sicher auch einen Run auf bestimmte Banken, und am Ende kann eigentlich nur der Zusammenbruch der Währung und des gesamten Euro-Finanzsystems stehen. Dabei werden zwar auch die Reichen verlieren, aber am Schlimmsten getroffen werden die Mittelschichten, so wie es bei Währungsreformen bisher immer war. Letztlich ist das ein Szenario mit unabsehbaren politischen Folgen und in jedem Falle eins, das sich kein Linker wünschen sollte.

2. Können wir aus den Schulden » herauswachsen«?

Was wäre die Alternative? Kurzfristig ist die Forderung vollkommen richtig, daß die öffentliche Hand in der aktuellen Krisensituation nicht sparen darf, sondern die öffentlichen Defizite sogar ausweiten und damit öffentliche Investitionen und nach Möglichkeit verbesserte Sozialleistungen finanzieren muß. Mittelfristig ist aber ebenso klar, daß es nicht darum gehen kann, den Wegbruch an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage durch Ausfall des schuldenfinanzierten Privatkonsums (der für Deutschland den Ausfall entsprechender Exporte bedeutet) jetzt wieder durch riesige öffentliche Defizite auszugleichen. Perspektivisch kann die für ein volkswirtschaftliches Gleichgewicht nötige Nachfrage nur durch eine radikale Umverteilung der Einkommen erreicht werden. Das bedeutet: Mindestlöhne, Stärkung der Gewerkschaften und Re-Regulierung des Arbeitsmarktes zur Veränderung der primären Einkommensverteilung und ein fundamental verändertes Steuersystem sowie Ausbau des Sozialstaates und höhere Renten zur Veränderung der sekundären Einkommensverteilung. Eine solche Konzeption auf Deutschland angewandt würde zugleich dazu beitragen, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu verringern.

Offen bleibt damit aber immer noch die Frage der staatlichen und privaten Altschulden. Bei der Bewertung der Schuldenblase sollte man davon ausgehen, daß selbst bei einer wirtschaftlichen Erholung aus faulen privaten Schulden keine guten Schulden mehr werden. Viele amerikanische Hypothekenbesitzer werden ihre Hypothek auch dann nicht mehr in voller Höhe bedienen können, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Auch die spanische Immobilienblase ist unwiderruflich geplatzt, und es sollte in niemandes Interesse liegen, solche Blasen künstlich wiederzubeleben. Damit lagern unverändert Billionen an toxischen Krediten (verbrieft oder unverbrieft, ausgewiesen oder versteckt) in den Bilanzen der Banken, und sie werden sich auch im Falle einer wirtschaftlichen Erholung störend bemerkbar machen: in der permanenten Gefahr einer Kreditklemme. Es ist also unter allen Bedingungen – auch im Falle einer vernünftigen Wirtschaftspolitik – davon auszugehen, daß uns dieses Problem erhalten bleibt.

In der Euro-Zone liegt der BIP-Anteil der staatlichen Schulden bereits bei knapp 90 Prozent. Alle Berechnungen gehen davon aus, daß es bald deutlich über 100 Prozent sein werden. Als Faustregel gilt, daß Staaten dann aus ihren Schulden »hinauswachsen« können, wenn der Realzins um zwei Prozent niedriger als das wirtschaftliche Wachstum ist. Zur Zeit bezahlt selbst die Bundesrepublik durchschnittlich 3,6 Prozent Zinsen auf ihre Anleihen. Bei einer Preissteigerung von derzeit ein Prozent müßte das Wachstum bei knapp fünf Prozent liegen, um ein »Herauswachsen« aus den Schulden zu ermöglichen. Selbst bei zwei Prozent Inflation ergäbe sich ein notwendiges Wachstum von knapp vier Prozent. Ganz abgesehen von der Frage, ob bei einem Anziehen der Inflation oder höherem Wachstum die Zinsen stabil bleiben, wofür wenig spricht, ist mit solchen Wachstumsraten auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Es ist also in der heutigen Situation völlig abwegig, auf ein »Herauswachsen« aus dem Schuldenberg zu hoffen.

Bleibt als Möglichkeit die These: Dann wachsen die Schulden eben weiter, sie stören ja nicht; Japan lebt auch mit einem Schuldenberg von 200 Prozent des BIP. Unabhängig davon, daß das japanische Modell ganz sicher kein Vorbild ist, bedeuten wachsende Schulden wachsende Zinszahlungen und damit eine permanente Einschränkung der öffentlichen Handlungsfähigkeit. Sie bedeuten außerdem zunehmende Abhängigkeit von den Launen der Finanzmärkte, denn auch Deutschland ist nicht davor gefeit, seine Anleihen irgendwann nur noch zu erhöhten Zinssätzen am Markt unterbringen zu können. Das ist spätestens dann wahrscheinlich, wenn sich im Land politische Konstellationen ergeben, die einen grundlegenden Politikwechsel möglich machen, also genau dann, wenn es vielleicht auch von Der Linken abhängen wird, wie der Staat mit seinen Altschulden umgeht.

3. Lassen sich die Altschulden durch höhere Steuern reduzieren?

Bleibt als dritte Variante das Vorhaben, durch höhere Steuern die Staatsschulden abzutragen. Bei dieser Lösung besteht allerdings das Problem, daß die Veränderungen im Steuersystem eigentlich die primäre Aufgabe haben sollten, durch Umverteilung von oben nach unten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern. Höhere Steuern auf Spitzeneinkommen und Vermögen, die für die Schuldentilgung verwandt werden, tun genau das nicht. Natürlich ist denkbar, eine so harte Vermögensbesteuerung einzuführen, daß dadurch tatsächlich Luft aus der Vermögensblase gelassen wird und damit Schulden gestrichen werden können. Aber man muß sich im klaren darüber sein, um welche Dimension es dabei geht: Von 1998 bis 2010 sind die deutschen Staatsschulden um fast eine Billion Euro angestiegen. Und das ist allein schon aufgrund der noch in den Tresoren der Hypo Real Estate (HRE) schlummernden toxischen Assets längst nicht das Ende der Fahnenstange. Umgekehrt hatte ich bereits die eine Billion Zugewinn auf den Geldvermögenskonten der deutschen Oberschicht erwähnt. Zum Vergleich: Die Millionärsteuer von fünf Prozent, wie Die Linke sie fordert, soll im Jahr 80 Milliarden bringen, wobei das zum überwiegenden Teil lediglich eine Abschöpfung von Vermögenserträgen wäre und nur zu einem sehr geringen Teil (wenn überhaupt) eine Umverteilung der Vermögenssubstanz. Und der größte Teil der 80 Milliarden ist konsequenterweise ja auch bereits auf der Ausgabenseite verplant: für öffentliche Beschäftigung, öffentliche Investitionen, Industriebeteiligungen usw. Wer also sagt, die Staatsschulden sollten durch Steuern verringert werden, muß sagen, durch welche. Auch sollte man sich über die bei massiver Substanzbesteuerung einsetzenden Ausweichreaktionen im klaren sein.

Die einzige denkbare Variante scheint mir eine einmalige Vermögensabgabe zur Abschöpfung der Vermögen der oberen Zehntausend bei gleichzeitiger Tilgung eines Teils der Staatsschulden zu sein. Das könnte funktionieren, ist aber faktisch ein ähnlich gravierender Eingriff wie die Umschuldung und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß in diesem Fall ausschließlich die ortsansässigen Reichen zur Kasse gebeten werden, während eine Umschuldung im Falle deutscher Staatsanleihen zu gut 50 Prozent ausländische Anleger träfe. (Sofern solche Maßnahmen allerdings im gesamten Euro-Gebiet durchgeführt werden, relativiert sich dieser Unterschied.)

4. Entwertung der Schulden durch Inflation

Eine vierte Variante ist eine historisch schon mehrfach erprobte: Inflation. Das wäre tatsächlich ein Weg, sowohl Vermögens- wie Schuldenblase zu entwerten, aber es ist trotzdem einer, den kein Linker anstreben sollte. Denn Inflation, ähnlich wie ein Crash der Finanzmärkte, belastet vor allem die Mittelschichten, die dabei ihre Spargroschen verlieren, während die wirklich Reichen ihr Vermögen in der Regel zwischen Geldvermögen, Aktien und Betriebsvermögen, Immobilienvermögen, zusätzlich oft Gold und anderes Sachvermögen aufgeteilt haben. Sie können daher selbst einen völligen Wertverlust des Geldes ganz gut verkraften, während Otto Normalverbraucher seine mühsam zusammengetragenen Ersparnisse verliert. Inflation ist zudem in der Regel verheerend für die Bezieher von Renten und Sozialleistungen. Ein solches Szenario bedeutet daher auf jeden Fall, daß es wieder einmal die Falschen wären, die für die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu zahlen hätten. Hinzu kommt, daß Inflation die Vermögens- und Schuldenblase natürlich auch nur dann entwertet, wenn die Zinsen niedrig bleiben. Steigen die Zinsen rapide an, sinkt zwar die Last der Altschulden, aber ihre Refinanzierung wird dafür umso teurer. Verlieren werden dann nur diejenigen, die ihr Geld langfristig angelegt haben. Wer viel kurzfristige Spekulationskasse hält, ist dagegen fein raus.

5. Abkoppelung der Staatsschulden von den Kapitalmärkten

Eine fünfte Variante ist die Abkoppelung der öffentlichen Finanzen von den Kapitalmärkten und die Finanzierung der öffentlichen Defizite durch niedrigverzinste bzw. in einem bestimmten Rahmen zins- und tilgungsfreie Direktkredite der EZB. Dies würde faktisch bedeuten, daß Zentralbankgeld über öffentliche Ausgaben statt über das Kreditgeschäft privater Banken in Umlauf gebracht wird. Für die öffentlichen Finanzen hätte dies zur Folge, daß der Umfang der Neuverschuldung durch die sinkenden bzw. wegfallenden Zinsen extrem reduziert würde. Mindestens ebenso wichtig aber wäre, daß die öffentlichen Finanzen berechenbarer würden und die Abhängigkeit von den Kapitalmärkten und deren (teils, wie Griechenland zeigt, rein spekulationsgetriebene) Zinssetzungen überwunden wird. Möglich und durchaus kurzfristig regelbar wäre eine solche Umstellung durch eine Änderung der europäischen Verträge und des EZB-Statuts.

In der ökonomischen Debatte wird gegen die Notenbankfinanzierung von Staatsschulden in der Regel eingewandt, daß das die Inflation nach oben treiben würde. Dahinter steckt die stillschweigende Annahme, daß private Banken bei ihrer Kreditgewährung genauer hinsehen, ob der Kreditnehmer zahlungsfähig bleibt, während der Notenbank als öffentlicher Institution verantwortungslose Kreditexpansion unterstellt wird. Dieses Argument ist angesichts des privaten Kreditrauschs der letzten 15 Jahre eigentlich nicht mehr ernstzunehmen. Die modernen Finanzmärkte haben ihre Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung hinlänglich unter Beweis gestellt; keine öffentliche Kreissparkasse könnte sich derartige Fehleinschätzungen leisten. Natürlich gibt es die historischen Beispiele exzessiver Notenbankkredite, die in Hyperinflation mündeten. Aber tatsächlich lag die Wurzel der Probleme in den meisten Fällen tiefer. Entscheidend wäre ohnehin, daß der Umfang der Direktkredite bestimmten Regeln unterliegt (also z.B. im Abschwung deutlich höher ist als in einem Konjunkturaufschwung) und so eine willkürliche Ausweitung der Kreditvergabe verhindert wird.

Die Notenbankfinanzierung würde gewährleisten, daß öffentliche Finanzen nicht länger ein renditeträchtiges Geschäfts- und Spekulationsobjekt privater Banken wären. Eine Situation, in der das Urteil der Finanzkonzerne über die Politik eines Landes sich unverzüglich in milliardenschweren Belastungen (oder auch Entlastungen) der öffentlichen Hand geltend macht, hat zudem mit Demokratie wenig zu tun. Gerade Linke sollten ein großes Interesse haben, diesen Zustand zu überwinden, denn es ist davon auszugehen, daß eine Politik nach unseren Vorstellungen im Falle der Umsetzung wenig Begeisterung auf den Finanzmärkten auslösen dürfte – mit allen Konsequenzen.

Es ist daher richtig, daß Die Linke die Forderung auf ihre Agenda genommen hat, die Staatsschulden von den Kapitalmärkten zu entkoppeln. Der große Vorteil einer Direktfinanzierung durch die Notenbank wäre, daß der Staat jedes Jahr in einer gewissen Größenordnung mehr ausgeben als einnehmen kann, ohne daß sich daraus künftige Schulden oder die Pflicht zu Zinszahlungen ergeben. Es gibt kein Argument, weshalb ein solches System inflationstreibender sein sollte als das heutige. Jedes Wachstum beruht auf Kredit, der Unterschied zu heute wäre nur, daß das zusätzliche Geld über den Staat statt über die Banken in Umlauf kommt.

Aber was bedeutet das für die Altschulden? Theoretisch könnte die EZB natürlich auch die Refinanzierung der Altschulden übernehmen. Schon heute kauft sie vorhandene Bonds vom Markt auf, und denkbar wäre natürlich, daß der Staat sich die für die Refinanzierung seiner Schulden bei Fälligkeit nötige Summe dann bei der EZB beschafft und so die staatlichen Gesamtschulden schrittweise auf die EZB übertragen werden. Oder auch, daß die EZB sämtliche Staatsbonds vom Markt aufkauft. Das Problem einer solchen Lösung wäre, daß die Vermögensblase so eben nicht entwertet würde, sondern in vollem Umfang bestehen bliebe, nur daß die Finanzkonzerne eine Anlagemöglichkeit für diese Vermögen weniger hätten. Das würde die infolge jahrelanger Umverteilungspolitik ohnehin schon vorhandene Situation eines Überhangs an Liquidität, die nach lukrativen Anlagemöglichkeiten sucht, zusätzlich verschärfen und dürfte zu neuen Kredit- und Spekulationsblasen führen.

6. Reduzierung der Altschulden durch Umschuldung

Der einzige nachhaltige Ausweg aus den Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte, den ich sehe, ist daher die politisch kontrollierte Entwertung der Vermögens- und Schuldenblase, und zwar möglichst in einer konzertierten Aktion in der gesamten Euro-Zone oder vielleicht sogar der Gesamt-EU. Dieser Ausweg beinhaltet zum ersten die Verstaatlichung der großen Finanzkonzerne, womit die faulen Schulden zwar definitiv auf die öffentliche Hand übergehen, aber eben auch die werthaltigen Assets der Banken und Versicherungen, die es ja auch noch gibt. Anschließend ist ein Großteil der öffentlichen Schulden, die auf die verfehlte Politik der letzten Jahrzehnte zurückgehen, zu streichen, allerdings mit einer Einschränkung, die Argentinien seinerzeit auch praktiziert hat: Kleinanleger unterhalb einer gewissen Anlagesumme dürfen nicht getroffen werden. In Deutschland könnten z.B. Bundesschatzbriefe generell ausgenommen werden. Ein Teil der Entwertung wird Finanzkonzerne außerhalb der Euro-Zone oder private Vermögensanleger (jene oberhalb der garantierten Mindestsumme) treffen, der andere wird bei den hiesigen Finanzinstituten zu Buche schlagen. Die Staatspapiere müssen dann ebenso wie sämtliche toxische Wertpapiere, die sich noch in den Bankbilanzen befinden, abgeschrieben werden.

Toxisch würden durch eine Umschuldung der Staaten natürlich auch die auf die Staatsanleihen abgeschlossenen Kreditausfallversicherungen (Credit default swaps, CDS). Denn es ist eine Illusion zu glauben, daß die Versicherungsnehmer der CDS (also diejenigen, die auf die Staatspleiten wetten) von einer eintretenden Pleite eines größeren Landes am Ende tatsächlich profitieren könnten. Die CDS unterscheiden sich auch dadurch von normalen Versicherungen, daß es keine regulatorischen Vorschriften für die Anbieter gibt, sie angemessen mit Eigenkapital zu unterlegen. Schon bei der Subprime-Krise hätte niemand Profit aus seinen Wetten gegen amerikanische Hypothekenpapiere ziehen können, wenn nicht die Staaten die größeren Anbieter der CDS gerettet und ihre Verpflichtungen mit Steuergeld erfüllt hätten. Einer der Großanbieter von CDS (u.a. auf US-Hypothekenpapiere) war der Versicherungsriese AIG, der gerade darüber in die Pleite stürzte. Es war aber juristisch keineswegs notwendig, daß der Staat mit der Verstaatlichung von AIG auch diese Verpflichtungen übernahm, und entsprechend groß war die Kritik daran.

Die Finanzinstitute sind danach mit öffentlichem Geld zu rekapitalisieren und durch strikte Regeln auf das klassische Kredit- und Einlagengeschäft zu reduzieren. Die nötigen Mittel sollte sich der Staat durch eine einmalige Vermögensabgabe auf sehr hohe Vermögen (jenseits einer Million Euro) zurückholen. Damit wären die Altlasten der Vergangenheit beseitigt, Vermögens- wie Schuldenblase wären abgetragen, die Banken könnten sich wieder um die Kreditversorgung der Wirtschaft kümmern, und die öffentliche Hand wäre wieder handlungsfähig, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Es geht also gar nicht um die Frage, ob die öffentliche Hand zahlungsfähig oder bankrott ist. Es geht um die Frage, ob es politisch vertretbar ist, daß der großen Mehrheit der Menschen auf unabsehbare Zeit ein Schuldenberg auf die Schultern geladen wird, der auf drei Jahrzehnte wirtschaftlicher Fehlentwicklungen zurückgeht, von denen sie weder profitiert haben, noch dafür Verantwortung tragen.

Es wurde von Linken immer kritisiert, daß lateinamerikanische Länder wie Argentinien, als sie nach Jahren der Militärdiktatur endlich zu demokratisch verfaßten Staaten wurden, die Schulden dieser Militärdiktaturen anerkannt und übernommen haben. In vieler Hinsicht war damit der spätere Niedergang vorgezeichnet. Natürlich kann die politische Entscheidungsfindung in den heutigen Industrieländern nicht mit der in Militärdiktaturen gleichgesetzt werden. Dennoch: Die heutigen Staatsschulden sind das Ergebnis einer Finanzdiktatur und einer jahrelangen Politik gegen die Mehrheit der Menschen. Sie sind daher nicht weniger illegitim als die Hinterlassenschaften der südamerikanischen Diktatoren.

 

Von Sahra Wagenknecht

junge Welt, 26. Juli 2010