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Was Lafontaine von Europa hält

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Was hat Karl Marx mit der EU-Verfassung zu tun? Weshalb schadet die europäische Wirtschaftspolitik den Arbeitnehmern? In seinem Essay für stern.de knöpft sich Linkspartei-Fraktionschef Oskar Lafontaine die Brüsseler Politik vor.

"Nie wieder Krieg" war nach zwei Weltkriegen die Vision eines geeinten Europas. Die Sehnsucht der Menschen nach Frieden ist, zumindest in Westeuropa, erfüllt worden. Das ist ein großer Erfolg. Der jüngste Krieg zwischen Israel und dem Libanon hat allerdings erneut gezeigt, dass sich die Europäer noch schwer tun, gemeinsam und mit der gebotenen Entschlossenheit für den Frieden in der Welt einzutreten. Das gilt in diesem Fall besonders für die deutsche Bundesregierung, die beispielsweise die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon ablehnte.

Freihandel beherrscht Europapolitik

Die Europapolitik wurde jedoch sehr früh auch von wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Zielsetzungen beherrscht. Der oberste ordnungspolitische Grundsatz, dem die europäische Wirtschaftspolitik dabei bis heute folgt, ist der Freihandel. Die Errichtung eines gemeinsamen, von allen Hindernissen befreiten Marktes war das vorrangige Ziel der 1958 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die im EWG-Vertrag festgeschriebenen Maßnahmen waren auf den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr und die uneingeschränkte Mobilität von Arbeitskräften und Kapital gerichtet. Sie begleiten uns bis heute.

Ein Beispiel ist die auch in einer breiten Öffentlichkeit umstrittene Dienstleistungsrichtlinie. Dem Freihandel wurde auch die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften untergeordnet. Der EWG-Vertrag forderte lediglich "die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist."

"Ein 'weiter so' darf es nicht geben"

Die Geschichte, die die heutige Europäische Union seitdem durchlebt hat, lässt dann auch zumindest eine Sorge ganz sicher nicht zu, dass von ihr die Wirtschaft und damit auch die Interessen der Wirtschaft hinten angestellt werden könnten. Unbestritten sind die ökonomischen Erfolge, die bei der wirtschaftlichen Integration, der Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes, erzielt worden sind.

Welche Aussichten hält diese Entwicklung aber für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die soziale Sicherheit der Menschen insgesamt bereit? Diese Frage fällt in den Debatten über die Perspektiven Europas weitgehend unter den Tisch. Dass die Menschen sich ein soziales Europa wünschen und kein Vertrauen in einen allein auf wirtschaftliche Integration setzenden europäischen Einigungsprozess haben, hat nicht zu letzt die Ablehnung der EU-Verfassung durch die Franzosen und Niederländer gezeigt. Ein "weiter so", wie es die gegenwärtige Bundesregierung bezogen auf die EU-Verfassung betreibt, darf es daher nicht geben. Der deutsche Einigungsprozess zeigt, dass eine einseitig an Interessen der Wirtschaft ausgerichtete Politik die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Das gilt auch für Europa. Diese Politik gefährdet auf Dauer den sozialen Frieden. Sie ist ein schlechter Nährboden für Demokratie und Freiheit.

Was haben die arbeitenden Klassen davon?

Warum aber fällt es den Regierenden und Sachverständigen in der Europäischen Union so schwer, die "soziale Frage" zu berücksichtigen oder überhaupt zu stellen? Eine Erklärung könnte eben in der Doktrin des Freihandels selbst begründet liegen. Die Frage nach Wohlstand wird in der neoliberalen Welt von heute gleichsam mit Freihandel beantwortet. Sind nur erst jedwede Beschränkungen für alle Märkte aufgehoben, wird der Wohlstand für alle sich schon einstellen.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nützlich, auf einen Freihandelskongress hinzuweisen, der in Brüssel, dem heutigen politischen Zentrum der EU, stattgefunden hat. Dort diskutierten hochrangige Vertreter - Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer - die für viele Ohren sicher etwas altmodisch klingende Frage: "Wird die Verwirklichung eines allgemeinen Freihandels den arbeitenden Klassen nützlich sein?"

Was ein deutscher Ökonom davon hält

Ein deutscher Wissenschaftler fand dort mit folgender Antwort kein Gehör: "Das Problem, welchen Einfluss die vollkommene Befreiung des Handels auf die Lage der Arbeiterklasse haben wird, ist sehr leicht zu lösen. Es ist eigentlich gar kein Problem. Wenn etwas in der Ökonomie klar dargelegt ist, so ist es das Schicksal, das die Arbeiterklasse unter der Herrschaft des Freihandels erwartet." Der Redner bezieht sich dann auf den einflussreichen englischen Ökonomen und wohl bekanntesten Befürworter des Freihandels David Ricardo, dass dessen Gesetz, "dass der niedrigste Lohnsatz der natürliche Preis der Ware Arbeit ist, sich in demselben Maße durchsetzen (wird) wie Ricardos Voraussage, dass der Freihandel eine Realität werden wird." Er zitiert den englischen Ökonomen mit den Worten, dass, unter der Voraussetzung des Freihandels, "Arbeit, eine Ware gleich anderen, ebenfalls zum niedrigeren Preis verkauft werden wird, dass man sie tatsächlich für sehr wenig Geld haben kann, genauso wie Pfeffer und Salz." Diese ökonomischen "Gesetze", so der deutsche Ökonom, "werden in demselben Maße zutreffender, genauer und hören auf, bloße Abstraktionen zu sein, wie sich der Freihandel durchsetzt." Die altbekannten Vorteile des Freihandels, die Effizienz- und Produktivitätsgewinne aus einer weltweit intensivierten Arbeitsteilung werden von ihm gleichzeitig ausdrücklich hervorgehoben.

Die Interessen der sozial Schwachen müssen stärker vertreten werden

Der Beitrag ist deswegen bewerkenswert, weil die Frage nach dem Nutzen des Freihandels für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von den führenden Vertretern der EU kaum gestellt wird. Und wenn, kommen sie zu völlig anderen Ergebnissen als die führenden Köpfe der Nationalökonomie. Denn nach ihrer neoliberalen Ideologie ist das, was für die Wirtschaft gut ist, auch gut für die Arbeitnehmer. Der Redner weist ferner darauf hin, dass der Freihandel bei all seinen Vorteilen nicht per se für alle Bevölkerungsteile eine Steigerung des Wohlstands mit sich bringt. Das genau muss aber das Ziel einer Europapolitik sein, die die Menschen und nicht allein die Interessen der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt. Die Verwirklichung eines sozialen Europas verlangt daher, dass die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der sozial Schwachen stärker vertreten werden als dies bisher geschehen ist.

Karl Marx und Europa

Der erwähnte Freihandelskongress hat im September des Jahres 1847 stattgefunden, also vor 160 Jahren. Der zitierte Redner war Karl Marx. Er stellte ebendort auch fest, dass "soziale Reformen immer durch die Stärke der Schwachen bewirkt werden." Genau diese Erkenntnis hat die EU-Verfassung ignoriert. Die aktuelle Ablehnung der einseitig dem Freihandel verpflichteten EU-Verfassung, die Diskussionen über und Proteste gegen das "Dumping" von Löhnen, Steuern und sozialen Standards in Europa zeigen, dass der alleinige Freihandel nicht "das Ende der Geschichte" ist.