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Wahn und Wirklichkeit

Im Wortlaut von Jan Korte,

Der Antikommunismus der frühen Bundesrepublik prägt den Umgang mit der NS-Vergangenheit bis heute

Von Jan Korte, Politikwissenschaftler M.A., ehem. Stipendiat der RLS und gehört seit dem Jahr 2005 der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Vergangenheitspolitik, Antikommunismus und Innenpolitik, u.a. «Kriegsverrat» (2011, zusammen mit Dominic Heilig) und «Instrument Antikommunismus» (2009)


Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von wichtigen Forschungsarbeiten und Artikeln. Auch politisch spielt diese Frage immer wieder eine Rolle. Zuletzt etwa, als es um die braunen Wurzeln der Geheimdienste ging. Ein wesentlicher Aspekt aber, ohne den man diese Vorgänge kaum verstehen kann, wird viel zu oft ausgeblendet: Die Rolle des Antikommunismus sowohl bei der Verhinderung einer kritischen Geschichtsaufarbeitung als auch bei der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie. Deshalb sollte die Auseinandersetzung mit der antidemokratischen Tradition des Antikommunismus ein zentrales Moment in der gegenwärtigen geschichtspolitischen Diskussionen in Wissenschaft und Politik sein. Hier gibt es zahlreiche Leerstellen, die es auszufüllen gilt. Die Frage, wie sich der Antikommunismus, als fast schon staatsreligiöse Ideologie, in weiten Teilen von Staat und Gesellschaft bis heute halten konnte, sollte dabei im Zentrum stehen. Eine Beschäftigung mit den Mechanismen, sozialpsychologischen, juristischen und demokratietheoretischen Wirkungen des Antikommunismus kann sicherlich einiges zum Verständnis der heutigen Entwicklungen, wie etwa dem Agieren der Sicherheitsbehörden in Bezug auf den Naziterror, beitragen.

ANTIKOMMUNISMUS UND RESTAURATION

Mein Freund Walter Timpe1  war in den 1950er Jahren Redakteur der kommunistischen Tageszeitung Die Wahrheit/Niedersächsische Volksstimme. Er wurde 1955 zu einem Jahr Haft, drei Jahren Berufsverbot und Führerscheinentzug verurteilt. Sein Vergehen war kommunistische Propaganda. Als junger Redakteur hatte er umfassend über die braune Vergangenheit der Bonner Politiker berichtet und analog zur damaligen Programmatik der KPD zum revolutionären Sturz der Adenauerregierung aufgerufen. Letzteres – so berichtete es Walter Timpe in seiner wunderbaren Art, äußerst selbstironisch, später – sei allerdings ohne jeglichen Widerhall in der Arbeiterklasse geblieben.

Der Fall Walter Timpe2 zeigt anhand eines konkreten Schicksals, dass es eine politische Justiz in der Bundesrepublik gegeben hat, die sich fast ausschließlich gegen KommunistInnen und andere Linke richtete. Alexander von Brünneck hat in seinem Standardwerk über die «Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968» die Entwicklung und den Umfang der Verfolgung von KommunistInnen erfasst: Spätestens ab 1950 wurde mit massiver Polizeigewalt gegen Veranstaltungen und Kundgebungen von FDJ und KPD vorgegangen. Der wohl bekannteste und bestürzendste Höhepunkt dieser ersten Stufe des staatlichen Antikommunismus war der Tod des jungen FDJ-Mitglieds Philipp Müller am 11. Mai 1952.3  Der neue Staat hatte sich ein politisches Strafrecht zusammenbeschlossen, welches Rolf Gössner zu Recht als ein «wahres Panoptikum des Verrats, der Zersetzung, Verunglimpfung und Geheimbündelei» bezeichnete.4  So gab es etwa die Bestimmungen «hochverräterische Unternehmen», «landesverräterische Fälschungen», «Staatsgefährdung», «staatsgefährdende Störungen» oder den «fahrlässigen Landesverrat».5 Also alles dehn- und interpretierbare Begriffe, die von jenen angewandt wurden, die bis 1945 bereits Erfahrung mit der Verfolgung von KommunistInnen hatten. Kurz: Das politische Strafrecht wurden von alten Nazis angewandt, die bereits Anfang der 1950er Jahre in die Behörden im Allgemeinen und in den bundesdeutschen Justiz- und Polizeiapparat im Speziellen zurückgeströmt waren. Laut Alexander von Brünneck wurden von 1951 bis 1958 allein auf dem Verwaltungsweg über 80 Verbote gegen reale oder vermeintliche kommunistische Organisationen ausgesprochen. Schon 1951 wurde die FDJ verboten. Im selben Jahr stellte die Bundesregierung die Verbotsanträge gegen die nazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) und gegen die KPD. Ganz im Sinne der Totalitarismustheorie wurden damit Verbotsverfahren gegen eine rechte und eine linke Partei eingeleitet. Letztendlich stellte das Verbot der SRP lediglich die ideologische Untermauerung im Kampf gegen die KPD dar.

Der Höhepunkt der antikommunistischen Welle war schließlich das Verbot der KPD am 17. August 1956. Dieses bezog sich im Übrigen auf eine verbalradikale Programmatik, die zum Zeitpunkt des Verbots gar keine Gültigkeit mehr hatte. Nicht zuletzt brauchte das Bundesverfassungsgericht fast fünf Jahre, um das Verbot auszusprechen, was auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken schließen lässt. Und das alles gegen eine KPD, die Mitte der 1950er Jahre in der politischen Isolation stand und auf dem Weg zu einer Splitterpartei war. Bei den zweiten Bundestagswahlen bekam die KPD nur noch knapp über zwei Prozent der Stimmen. Mit dem KPD-Verbot setzen dann im großen Umfang Ermittlungen, Verhaftungen und Verurteilungen ein. Laut von Brünneck gab es in jenen Jahren jährlich rund 14.000 staatsanwaltliche Ermittlungen und ca. 500 verurteilte Personen. In der Zeit von 1951 bis 1968, so von Brünneck bilanzierend, wurden 125.000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungen durchgeführt. Verurteilt wurden in dieser Zeit 6.758 Personen, zum Teil zu hohen Haftstrafen.6

EIN DEUTSCHER SONDERWEG

Mit der politischen Justiz gegen KommunistInnen und einem geradezu staatsreligiösen Antikommunismus wurde nicht nur die Idee des Potsdamer Abkommens, das die grundlegende Erneuerung Deutschlands unter Mitwirkung der KommunistInnen vorsah, aufgekündigt. Es wurde auch ein europäischer Sonderweg beschritten. Abgesehen von den Diktaturen in Spanien, Griechenland oder Portugal gab es nirgends in Europa ein so massives Vorgehen gegen KommunistInnen. Undenkbar wäre es etwa gewesen, die Kommunistische Partei Frankreichs zu verbieten oder KP-Vorsitzende, wie Togliatti in Italien, zu verhaften. Dieser Sonderweg des «Frontstaates» BRD wurde mit der Konfrontation des Kalten Krieges, in der sich die BRD an vorderster Front sah, begründet und bildete eine der Legitimationsgrundlagen für den herrschenden Antikommunismus. Auf die andere machte im Jahre 2009 das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Zusammenhang mit einer Analyse der Dimensionen der Kommunistenverfolgung aufmerksam. Dort hieß es: «Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen NS-Täter – obwohl die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten, während man westdeutschen Kommunisten politische Straftaten wie Landesverrat vorwarf.»7

Der Spiegel legt hier den ideologischen Kern des Antikommunismus frei. Er diente in erster Linie der Exkulpation der bundesdeutschen Gesellschaft vom Nationalsozialismus. Dieser Antikommunismus in vergangenheitspolitischer Absicht wurde von den ehemaligen Funktionseliten und dem Bonner Politestablishment genutzt, um die Rückkehr der alten Nazis zu rechtfertigen. Aber auch die Mehrheit der Bevölkerung war für den Antikommunismus äußerst empfänglich, da er eine komplette Ausblendung der eigenen Unterstützung für den Nationalsozialismus ermöglichte.

ANTIKOMMUNISMUS UND VERGANGENHEITSPOLITIK: GESTERN UND HEUTE

Im Zuge des Verbotes der KPD trieb der Antikommunismus außerordentlich skurrile und skandalöse Blüten. Schon von Brünneck machte vor Jahrzehnten auf einen besonders verwerflichen Vorgang aufmerksam. Im Zuge der Wiedergutmachung für während der NS-Zeit erlittenes Unrecht wurde das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) verabschiedet. Das BEG sollte eine gewisse materielle Entschädigung, etwa für Haft im Konzentrationslager, darstellen. Außerdem war es natürlich auch eine sozialpsychologisch wichtige Anerkennung für die Opfer des NS-Regimes. Im Zuge des KPD-Verbots wurde auch diese Praxis im BEG geändert. Nunmehr war es möglich, kommunistische WiderstandskämpferInnen von Entschädigungszahlungen auszuschließen, zum Teil wurden sogar Rückzahlungen gefordert. Boris Spernol hat in einem Beitrag für den Sammelband «Die Praxis der Wiedergutmachung» die Ausschlüsse von KommunistInnen aus der Reihe der NS-Opfer und Widerständler folgendermaßen skizziert:

«Dieselbe ausgeprägte kommunistische Gesinnung, die sie in den dreißiger Jahren zu Verfolgten des NS-Regimes hatte werden lassen, konnte bewirken, daß Kommunisten ihre daraus resultierenden Wiedergutmachungsansprüche in der Bundesrepublik wieder verloren, wenn sie an ihrer politischen Überzeugung festhielten.»8

So gab es zahlreiche Fälle, in denen kommunistischen WiderstandskämpferInnen, die jahrelange KZ-Haft überlebt hatten, die Ansprüche aberkannt und verweigert wurden. Diese Praxis galt allerdings nicht zwangsläufig, sondern wurde durchaus unterschiedlich und willkürlich gehandhabt. Neben den materiellen Verlusten für die Betroffenen war es natürlich auch ein symbolischer Ausschluss aus den Reihen des Widerstands. Fortan galt der Widerstand des 20. Juli als legitim (wenn auch dies erst, etwa im März 1952 durch Fritz Bauer im Remer-Prozess, erkämpft werden musste), derjenige der Arbeiterbewegung und dort bis heute derjenige der KommunistInnen dagegen galt, trotz der Erwähnung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, als illegitim beziehungsweise als weitgehend nicht existent.

Um zumindest eine symbolische Anerkennung des kommunistischen Widerstands zu erreichen, fand bereits im Jahre 2006 eine Bundestagsdebatte auf Antrag der LINKEN statt. Die Fraktion der LINKEN hatte gefordert, das oben skizzierte Unrecht anzuerkennen und die wichtige Rolle des Widerstands von KommunistInnen zu würdigen.9  Wie weit auch heute noch der Antikommunismus verbreitet ist, zeigte die Debatte zu diesem Thema: Der CDU-Abgeordnete Günter Baumann etwa stellte zum Antrag fest: «Es ist der Versuch, diejenigen, die erst einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat beseitigen wollten und einen Unrechtsstaat nach DDR-Vorbild etablieren wollten, von Kollaborateuren zu Opfern zu stilisieren, nicht zuletzt um das sozialistische Regime der DDR mit dem der Bundesrepublik auf eine Stufe zu stellen.»10  Einige Zeilen weiter bringt es der Unionspolitiker dann auf den Punkt: «Die Opfer, die Sie in ihrem Antrag ansprechen, sind gerade keine Opfer einer Diktatur.»11  Das NS-Regime war keine Diktatur? Bei der Debatte ging es explizit um erlittene Qualen und Unrecht durch die Nazis. Es ging nicht um die Rolle von KommunistInnen nach 1945.

Die gleiche Argumentation vonseiten der Union konnte man nun kürzlich auch bei der Debatte um die Große Anfrage «Umgang mit der NS-Vergangenheit» und andere vergangenheitspolitische Anträge der Linksfraktion im Bundestag im November dieses Jahres erleben.12  Die LINKE hatte in einem neuerlichen Anlauf versucht, mit ihrem Antrag, «Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen»13,  einen Härtefonds für NS-Verfolgte, denen Leistungen nach dem BEG aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der KPD, der Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes (VVN) oder in anderen, als kommunistisch beeinflusst geltenden Organisationen aberkannt beziehungsweise verweigert wurden, einzurichten und durch eine öffentliche Geste die Zugehörigkeit deutscher KommunistInnen zum Erbe des Widerstands gegen das NS-Regime zum Ausdruck zu bringen und damit deren Rehabilitierung vorzunehmen.14  Wie sechs Jahre zuvor begründete auch diesmal die Regierungskoalition ihre Ablehnung damit, «dass dieser Personenkreis bewusst gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gearbeitet hat».15

Dieser kurze Auszug aus den Protokollen des Bundestages zeigt, dass es bis heute eine starre Verweigerungshaltung gibt, sich kritisch mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik auseinanderzusetzen. Die Geschichte der Aufarbeitung wird als eine ausschließliche Erfolgsgeschichte erzählt, ohne die Brüche und teilweise unbeschreiblichen Verfehlungen und moralischen Fehlleistungen politisch anzuerkennen und aufzuarbeiten.

Noch heute wird so die Rolle des Widerstands von KommunistInnen im Wesentlichen verdrängt und verschwiegen. Anders dagegen in der Wissenschaft: Hier gibt es mittlerweile einige gute Untersuchungen zu diesen Fragen. Die Politik allerdings hinkt auch hier der Wissenschaft massiv hinterher.

URSACHEN DER VERFOLGUNG

Eine wesentliche Frage, die sich bei der Beschäftigung mit politischer Justiz und Antikommunismus stellt, ist, warum eigentlich so wenig Gegenwehr und öffentliche Kritik geübt wurde? Neudeutsch müsste man fragen, warum die Zivilgesellschaft eigentlich nicht gegen diese antidemokratischen und antikommunistischen Auswüchse aktiv wurde. Daher hier der Versuch, einige Gedanken zu den Spezifika des deutschen Antikommunismus zu formulieren:
Erstens: Zunächst einmal ist Antikommunismus eine Ideologie des Bürgertums gegen alle Ideen und Ausformungen der revolutionären und reformistischen Arbeiterbewegung. In der Weimarer Republik paarte sich dieser Antikommunismus mit einem fanatischen Antisemitismus, was schließlich von den NationalsozialistInnen zur «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung» verschmolzen wurde. Der Antikommunismus war im Übrigen das wesentliche Argument, wodurch die konservativen Eliten schließlich auf den Kurs von Hitler einschwenkten. Das heißt, dass der Antikommunismus die wesentliche Leitidee in der Weimarer Republik und schließlich – eliminatorisch radikalisiert – im Nationalsozialismus war.

Zweitens: In den 1950er Jahren hatte der Antikommunismus in erster Linie eine vergangenheitspolitische Funktion: Er legitimierte ideologisch die Rückkehr der alten Eliten in Amt und Würden. Und er diente als Exkulpationsangebot an die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft. Weil – so die Logik – der Kommunismus/Sozialismus genauso schlimm wie das NS-System ist, braucht man sich nicht mit der eigenen Verstrickung auseinanderzusetzen.

Drittens: Der Antikommunismus in der Bundesrepublik war eine Massenideologie und kein Projekt der Eliten, wie es besonders orthodoxe KommunistInnen behaupteten. Es gab einen extrem verbreiteten Antikommunismus der Arbeiterklasse. Dieser war vergangenheitspolitisch determiniert (s. o.), durch zwölf Jahre staatlich verordneten Antikommunismus in den Köpfen, aber eben auch materiell und politisch fest verankert. In Zeiten des materiellen Wirtschaftswunders war der Verweis auf die DDR nicht besonders attraktiv. Und politisch zeigte sich, dass die fehlenden individuellen Freiheitsrechte im Ostblock eine keinesfalls erstrebenswerte Zukunft darstellten.

Viertens: Die KPD war Mitte der 1950er Jahre politisch bereits weitgehend am Ende. Dies hatte, neben den oben skizzierten gesellschaftlichen Gründen, auch viele andere Ursachen. Besonders schädlich für die Attraktivität war die Fixierung der KPD auf Moskau und Ost-Berlin, was keinerlei Anziehungskraft in allen gesellschaftlichen Schichten in der BRD hatte. Interne Säuberungswellen, wie der «Kampf gegen den Titoismus» gegen Ende der 1940er Jahre, und ein isolationistischer Kurs innerhalb der Gewerkschaften bewirken das ihrige. Dann darf selbstverständlich nicht vergessen werden, dass die KPD durch den NS-Faschismus extrem geschwächt war. Sie hatte Tausende von Opfern zu beklagen.

Last but not least ist auch in dieser Frage die Verbindung von Antikommunismus und Vergangenheitspolitik der Schlüssel zum Verständnis. Die großen SozialpsychologInnen Margarete und Alexander Mitscherlich haben es in ihrem epochalen Werk über die «Unfähigkeit zu trauern» beschrieben:

«Das Folgenreichste [der NS-Gesellschaft] dürfte der emotionelle Antikommunismus sein. Er ist die offizielle staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich die ideologischen Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Westens amalgamiert. So ist eine differenzierte Realitätsprüfung für alles, was mit dem Begriff ‹kommunistisch› bezeichnet werden kann, ausgeblieben. Das unter Adolf Hitler eingeübte Dressat, den eigenen aggressiven Triebüberschuss auf das propagandistisch ausgenutzte Stereotyp ‹Kommunismus› zu projizieren, bleibt weiter gültig; es stellt eine Konditionierung dar, die bis heute nicht ausgelöscht wurde, da sie in der weltpolitischen Entwicklung eine Unterstützung fand. Für unsere psychische Ökonomie waren der jüdische und der bolschewistische Untermensch nahe Verwandte. Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das von ihm im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden Jahrzehnten kaum korrigiert worden.»16

WAHNHAFTES UND GEGENPOSITIONEN

Um die Internalisierung des Antikommunismus in den Reihen der Politik nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick etwa in die Kabinettsprotokolle der ersten beiden Regierungen von Konrad Adenauer. Liest man sie heute, ist es kaum zu glauben, mit welchen Fragen man sich damals auseinandersetzte. Man findet dort teilweise Skurriles. Dazu zwei Beispiele aus dem Jahr 1950: «Der Bundesminister für die Angelegenheiten des Bundesrates macht auf die überparteiliche Jugendarbeit gegen die FDJ aufmerksam, die u. a. die Absicht habe, einen Stafettenlauf nach Bonn zu organisieren.»17  Die Skurrilität wird aber noch gesteigert. In einem Tagesordnungspunkt ging es um «Maßnahmen gegen sowjetische Propaganda in Berlin». Dort heißt es: «Die Einrichtung eines Hauses der Sowjet-Kultur und eines Hauses der deutsch-polnischen Freundschaft im Ostsektor erfordern Gegenmaßnahmen von westlicher Seite, erklärt der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Einer Anregung des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin folgend, schlage er vor a) die Einrichtung eines Hauses der Ostdeutschen zur nationalen Pflege der ostdeutschen Kultur und b) die Veranstaltung einer ostdeutschen Ausstellung in Berlin.»18

Diese zwei Auszüge illustrieren sehr gut, wie tief der Antikommunismus bis in die direkte Regierungspolitik vorgedrungen war und bereits wahnhafte Züge angenommen hatte.

Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass es von Anfang an auch Gegenstandpunkte zu restaurativer Vergangenheitspolitik und Antikommunismus gegeben hat, die Ende der 1960er Jahre schließlich zu wesentlichen Änderungen in der Bundesrepublik führen sollten. Erinnert sei etwa an Martin Niemöller, der sich schon sehr früh gegen den Antikommunismus wandte, weil er in ihm ein Relikt des Nationalsozialismus erkannte. Nicht zu vergessen auch Gustav Heinemann, der sich klar gegen den Antikommunismus positionierte. Eine wichtige Gegenstimme war auch Eugen Kogon, der Verfasser des Buches «Der SS-Staat» und spätere einflussreiche Fernsehjournalist. All die Angeführten waren dezidiert keine Kommunisten. Im Gegenteil, sie waren entschiedene Gegner des autoritären Staatssozialismus. Aber sie hatten eine Gemeinsamkeit: Aufgrund ihrer (furchtbaren) Erfahrungen mit dem NS-Regime waren sie aus politischen Gründen entschiedene Gegner des Antikommunismus und einer restaurativen Vergangenheitspolitik. Sie standen damals ziemlich alleine. Aber sie legten den Grundstein für eine spätere, kritische Auseinandersetzung mit der braunen Vergangenheit. Und hierzu zählte eben auch die Auseinandersetzung mit dem Antikommunismus in vergangenheitspolitischer Absicht. Eine direkte Folge dieser Interventionen war das Erscheinen eines umfangreichen Artikels von Georg Lukács im Spiegel unter dem Titel «Von Nietzsche zu Hitler» im Jahr 1966. Man stelle es sich vor: Ein Marxist kann seitenlang im führenden Nachrichtenmagazin seine kritische Sicht auf die deutsche Geschichte darlegen. Heute unvorstellbar. Adorno konnte seinen Vortrag «Erziehung nach Auschwitz» zur besten Sendezeiten im Rundfunk verbreiten. Und schließlich ebneten diese Gegenpositionen den Weg in die 1968er Jahre.

Um die Brüche und Veränderungen der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik zu begreifen, erscheinen die Vergegenwärtigung dieser Gegenpositionen und die Veränderungen der gesellschaftlichen Zustände in diesen Bereichen besonders wichtig. Ohne Engagement, ohne partielle Bündnisse zwischen Linken, Linksliberalen und gesellschaftlichen Multiplikatoren hätte es diese Fortschritte kaum gegeben. Sie zeigen die Veränderbarkeit der bundesdeutschen Gesellschaft und sie machen klar, dass es keine stringente Linie von 1945 bis in die Gegenwart gibt.

Heute muss es um die weitere Aufarbeitung der Aufarbeitung gehen. Die Geschichte der Bundesrepublik war eben keine reine Erfolgsgeschichte. Die verheerenden Folgen des Antikommunismus auf Staat und Gesellschaft sind bis heute weder wissenschaftlich noch politisch aufgearbeitet worden. Die Perspektive der Opfer fehlt gänzlich.

Ralph Giordano hat vor längerer Zeit eine aktuelle Definition des Antikommunismus formuliert:
«Er [der Antikommunismus] ist, aus der Tiefe der Vergangenheit, eine destruktive Kraft, die Verfolgungsobjekte braucht, Hatzgeschöpfe, Erzfeinde, Pauschalgegner, denen gegenüber demokratische Grundsätze zu verletzen legitim sein soll.»19
Wie aktuell.

1 Walter Timpe trat mit 18 Jahren in FDJ und KPD ein, wurde kurz danach das erste Mal auf einer Demonstration gegen die Remilitarisierung verhaftet; schließlich wurde er von einem Justizangehörigen, der eine blutige Vergangenheit in der NS-Zeit aufweisen konnte, verurteilt. 2006 stellte er seine bewegende Geschichte bei der Anhörung der linken Bundestagsfraktion zum Jahrestag des KPD-Verbots vor. Dort erlebten ihn viele und waren begeistert von seiner Analysefähigkeit und dem Glauben an die Möglichkeiten einer gerechteren Gesellschaft. Im Juni 2008 starb Walter Timpe überraschend.
2 Vgl. Korte, Jan: Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009
3 Philipp Müller starb, als die Polizei in Essen auf TeilnehmerInnen einer kurz zuvor von Karl Arnold (CDU), dem Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, verbotenen Demonstration gegen die bundesdeutsche Wiederbewaffnung schoss. Dies war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Demonstrant durch die Polizei getötet wurde.
4 Gössner, Rolf: Die vergessenen Justizopfer des kalten Krieges. Über den unterschiedlichen Umgang mit der deutschen Geschichte in Ost und West, Hamburg 1994, S. 51.
5 Ebd.
6 Brünneck, Alexander von: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt am Main 1978, S. 278
7 Der Spiegel, Nr. 2, 5.1.2009
8 Spernol, Boris: Im Kreuzfeuer des Kalten Krieges. Der Fall Marcel Frenkel und die Verdrängung der Kommunisten, in: Frei, Norbert/Brunner, José/Goschler, Constantin: Die Praxis der Wiedergutmachung
9 Antrag «Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung». Bundestagsdrucksache 16/3536
10 Günter Baumann am 30.11.2006 im Bundestag, in: BT-Plenarprotokoll 16/70, S. 7050
11 Ebd.
12 Bundestagsdebatte am 8.11.2012, Tagesordnungspunkt 4 a-f
13 Bundestagsdrucksache 17/2201
14 Ebd.
15 Detlef Seif (CDU, MdB) am 8.11.2012 im Bundestag, in: BT-Plenarprotokoll 17/204, S. 24722
16 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, 16. Aufl., München 2001
17 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Band 2. 1950, Boppard am Rhein 1984, S. 741
18 Ebd., S. 544
19 Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein, Berlin 1990

RLS-Standpunkte, Dezember 2012