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Das Reichstagsgebäude in Berlin durch eine Glaskugel betrachtet auf dem Kopf © iStock/foto-ruhrgebiet

Wahlrechtsreform besonders prüfen!

Nachricht von Amira Mohamed Ali, Dietmar Bartsch, Janine Wissler,

Brief der Vorsitzenden der Bundestagsfraktion und der Partei DIE LINKE an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

in Erwartung Ihrer baldigen Befassung mit der Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Bundestagsdrucksachen 20/5370 und 20/6015) fühlen wir uns verpflichtet, auf die besonderen Umstände bezüglich des gegenständlichen Gesetzgebungsverfahrens sowie auf die verfassungspolitischen Auswirkungen hinzuweisen.

Am letzten Freitag haben die Abgeordneten der Koalition ein neues Wahlrecht gegen die Stimmen der Union, der Linken sowie die überwiegende Anzahl der Stimmen der AfD beschlossen. Von einem politisch besonders relevanten Aspekt der Gesetzesänderung, nämlich der faktischen Abschaffung der so genannten Grundmandatsklausel haben die Abgeordneten der Opposition erst eine knappe Woche vor der Abstimmung durch die Presse erfahren.

Seit vielen Jahrzehnten ist es geübte parlamentarische Praxis, bei Wahlrechtsänderungen einen möglichst großen überparteilichen Konsens herzustellen. Dadurch soll stets ein hohes Maß an Akzeptanz in der Bevölkerung gewährleistet werden. Es soll insbesondere der Eindruck vermieden werden, dass die jeweils regierungstragenden Teile des politischen Spektrums ihre Position nutzen, um durch Wahlrechtsänderungen ihre Chancen auf Wiederwahl zu verbessern.

Wir halten es für geboten, aus verfassungspolitischer Sicht auf die geplante Gesetzesänderung zu blicken.

Das Grundgesetz gewährt dem parlamentarischen Gesetzgeber ein hohes Maß an Gestaltungsspielraum, wenn es um das Wahlrecht geht. Die Existenz der Grundmandatsklausel ist dabei nicht zwingend.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann das Wahlrecht auch in Form eines reinen Verhältniswahlrechts bestehen. Umgekehrt begegnen der Grundmandatsklausel auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Gegenteil. Nach der Bundestagswahl von 1994 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungskonformität der Grundmandatsklausel mit dem Ziel der „Integration des Staatsvolkes“ begründet und darüber hinaus ausgeführt: „Gelingt es in seltenen Ausnahmefällen einer Partei, mit ihren Kandidaten mehrere Wahlkreismandate zu erringen, ohne aber in ihrem Gesamtergebnis die Sperrklausel zu überwinden, so kann der Gesetzgeber in diesem sich bereits in Parlamentssitzen niederschlagenden Erfolg ein Indiz dafür sehen, dass diese Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen.“ (BVerfGE 95, 408 (422 f.)).

Ohne Zweifel hat die Grundmandatsklausel nach der Wiedervereinigung unseres Landes dazu beigetragen, durch die entsprechende politische Repräsentanz der Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland den Prozess des politischen Zusammenwachsens zu erleichtern.  

Ein weiterer Aspekt besteht aus unserer Sicht darin, dass die Grundmandatsklausel seit vielen Jahrzehnten zum politischen System Deutschlands gehört und dass es demzufolge zur gelebten politischen Praxis gehört, dass sich politische Formationen bewusst auf eine regionale Verankerung beschränkt haben.

Auch uns ist bewusst, dass die Regelungen zur Grundmandatsklausel nicht frei von Widersprüchen sind und dass man Regelungen finden muss, die Größe des Bundestages möglichst nah an der gesetzlichen Anzahl der Abgeordneten stabil zu halten.
Wir hatten daher in der letzten Wahlperiode gemeinsam mit FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der die mögliche Größe des Bundestages wirksam begrenzt hätte.

Wenn die Grundmandatsklausel aus vertretbaren Gründen aufgegeben wird, sollte aufgrund der dargestellten verfassungspolitischen Aspekte zumindest auch eine Absenkung der 5-Prozent-Hürde erwogen werden.    

Wir dürfen Sie um besondere Prüfung dieses Gesetzes vor Ihrer Unterzeichnung bitten.

Mit freundlichen Grüßen

Amira Mohamed Ali
Dietmar Bartsch
Janine Wissler
Martin Schirdewan