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»Verbesserungen gibt es nur, wenn wir selbst dafür sorgen«

Interview der Woche von Klaus Ernst,

 

Klaus Ernst, Leiter des Arbeitskreises Wirtschaft, Arbeit und Finanzen, spricht im Interview der Woche über die soziale Spaltung Deutschlands, deren Ursachen, die Notwendigkeit, für Veränderungen zu streiten und erklärt, weshalb der 1. Mai ein wichtiger Protesttag bleibt und jetzt – und eigentlich schon lange – Zeit ist für ein Ende der Bescheidenheit.

 

Der Mindestlohn kommt, das Rentenpaket ist auf dem Weg, die Familienministerin erfindet das Elterngeld Plus. Der 1. Mai könnte in diesem Jahr ja beinahe ausfallen, oder wie sehen Sie das?

Klaus Ernst: Die Einführung eines Mindestlohns ist ganz klar ein Fortschritt. Von daher haben viele jahrelange Kämpfe gefruchtet. Dafür steht gerade auch der 1. Mai. Leider  bleibt noch viel zu tun, denn der Mindestlohn ist viel zu niedrig – bei seiner flächendeckenden Einführung in 2017 wird seine Kaufkraft bei nur noch rund acht Euro liegen, so dass er für einen Single nicht mehr Existenz sichernd sein wird – und die Ausnahmen für Langzeiterwerbslose und Jugendliche unter 18 Jahren werden ein Einfallstor für Lohndrückerei sein. Die Folgen des Rentenpakets werden uns noch lange beschäftigen, denn die Vorteile für einzelne Gruppen werden durch die Fehlfinanzierung über die Beiträge langfristig alle Versicherten und Rentner betreffen – und zwar negativ. Die Beiträge zur Rente werden dadurch höher, das Leistungsniveau in der Rente wird aber durch die Zusatzbelastung sinken. Die Mütterrente muss unbedingt über Steuern finanziert werden. Das Elterngeld Plus ist kaum eine Zusatzfinanzierung, sondern hauptsächlich eine zeitliche Streckung. Und Eltern in Hartz IV bekommen weiterhin für ihre Erziehungsleistung keinen Penny. Also der 1. Mai bleibt nicht nur deswegen ein notweniger Protesttag.

Die Beschäftigten in der BRD hatten in den vergangenen fünfzehn Jahren die niedrigste Reallohnsteigerung in ganz Europa, während Exportüberschüsse und Konzerngewinne massiv gestiegen sind. Ist es Zeit für ein Ende der Bescheidenheit?

Das fordert die Linke schon seit Jahren. Die starken Exportüberschüsse mehren nicht nur die Profite der Unternehmen. Sie sind erkauft auf dem Rücken der Beschäftigten, die zur gleichen Zeit Reallohneinbußen hinnehmen mussten. Noch immer ist jede fünfte Stelle im Niedriglohnbereich angesiedelt. Der deutsche Exportüberschuss führt aber auch zu massiven Ungleichgewichten innerhalb Europas und vertieft dort die Krise. Die europäische Kommission hat dies bereits kritisch angemerkt, der IWF auch. Es wird mehr Binnenwachstum angemahnt und vor allem mehr Investitionstätigkeit im privaten und öffentlichen Bereich. Trotz hoher Gewinne haben wir eine Investitionsquote auf niedrigstem Niveau. Dazu müssen die Löhne steigen und die staatlichen Einnahmen über eine gerechtere Steuerpolitik, die von hohen Einkommen höhere Abgaben einfordert.

Die verbesserte Wirtschaftslage sorgt nicht unbedingt für mehr Jobs. Woran liegt das?

Die Unternehmen investieren real zu wenig. Hohe Gewinne werden an den Finanzmärkten angelegt, es wird spekuliert. Es gibt einen Zuwachs an Jobs im Dienstleistungssektor, der Gesundheitssektor beispielsweise wächst sehr stark, aber die Jobs sind überwiegend prekär, schlecht bezahlt und viel Teilzeitarbeit. Mehrheitlich arbeiten dort Frauen. Im europäischen Niveau ist der deutsche Dienstleistungssektor in der Entlohnung im unteren Bereich angesiedelt. Und ein typisch deutsches Phänomen ist auch, dass die Anzahl der Jobs seit 2000 signifikant zugenommen hat, aber das Volumen an Arbeit kaum. Das ist das Erbe der Agenda 2010: Das Arbeitsvolumen war zwischen 2000 und 2010 fast konstant, aber die Anzahl der Beschäftigten ist sehr gestiegen, weil die Arbeit lediglich unter den Beschäftigten neu aufgeteilt wurde – leider zu schlechteren Konditionen.

Gerade Langzeitarbeitslose können offenbar nicht vom Aufschwung profitieren. Weshalb verfestigt sich deren Zahl, immerhin rund eine Million Menschen?

Wenn das Angebot an Arbeit nicht wächst – und das ist vom Volumen her seit 2000 kaum geschehen –, dann können Erwerbslose nur integriert werden, wenn man den Druck auf die Beschäftigten erhöht, schlechtere Bedingungen einführt: weniger Rechte, mehr Teilzeit, mehr Befristungen. Darüber erhöht man auch die Fluktuation am Arbeitsmarkt. Das ist alles geschehen durch die Agenda-Politik. Aber das erhöht auch die Konkurrenz unter den Arbeitssuchenden. Wer über keine aktuell nachgefragten Qualifikationen verfügt, hat kaum eine Chance. Die Mehrheit der Erwerbslosen hat eine Berufsausbildung, aber insbesondere Langzeiterwerbslose brauchen eine Qualifizierung oder zumindest eine Anpassung an die aktuellen Anforderungen. Doch die Politik unter Ursula von der Leyen hat hier fast alle Förderprogramme eingespart und insbesondere die Langzeiterwerbslosen völlig abgehängt von allen Integrationsbemühungen. Für Nichtqualifizierte brauchen wir einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, der Menschen wieder in Arbeit integriert und gemeinnützige Aufgaben übernimmt, die heute völlig vernachlässigt werden. Die SPD hatte Programme  gefordert, das aber in Regierungsverantwortung leider unter den Tisch fallen lassen.

Nicht nur ältere Menschen sind von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zeigt deutlich, dass es in Deutschland ein Ausbildungsproblem gibt: Tausende junge Menschen ohne Lehrstelle, im sogenannten "Übergangssystem", ohne Schul- oder Berufsabschluss. Ist der Ausbildungspakt am Ende?

Der Ausbildungspakt hat nie funktioniert, weil er freiwillig war. Das ist wie mit der Frauenquote in der Wirtschaft, die rot-grün als Goodwill „vereinbart“ hat. Das Kapital ist eine harte Nuss, die sie nicht mit Freundlichkeit und shaking hands knacken können. Es muss eine Ausbildungsabgabe geben, die die Linke schon lange fordert. Nur, wenn gezahlt werden muss für unterlassene Leistungen, wird sich was ändern. Alle sorgen sich um einen Fachkräftemangel, aber ich frage mich: Wer bildet denn aus, wenn nicht die Unternehmen? Sie beweinen mit Krokodilstränen ihre eigene Unterlassung, weil sie nicht mal mehr in ihre eigene Zukunft an Fachpersonal investieren! Ich vermute, dass die Ausbildungsverweigerung der Wirtschaft häufig auch eine Folge davon ist, dass die Gewinne in den Finanzsektor fließen und nicht mehr in den Ausbau der realen Ökonomie.

Zudem verfestigt unser Bildungssystem die soziale Spaltung der Gesellschaft. Es reproduziert soziale Schranken, statt sie zu überwinden. Das ist ja international „amtlich“ festgestellt. Es gibt genügend Ressourcen in unserer Gesellschaft, um für alle gleiche Chancen ab dem ersten Lebensjahr zu gewährleisten. Außer der Linken gibt es aber keine politische Kraft, die das ernsthaft herstellen will.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte vergangene Woche eine Studie vorgestellt, die dieses Bild untermauert. Wie können wir dieser Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken?

Das erste ist: Wir müssen den Arbeitsmarkt wieder re-regulieren, damit die Arbeitnehmer wieder am wirtschaftlichen Zuwachs beteiligt werden, den sie erarbeitet haben. Die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit haben sich durch die Agenda-Politik von rot-grün so extrem zulasten der Beschäftigten verschoben, dass man von sozialer Marktwirtschaft nicht mehr reden kann. Dieses Ungleichgewicht hat sich negativ auf ganz Europa ausgebreitet. Der Binnenmarkt muss wieder angekurbelt werden. Das geht nur über eine Erhöhung von Löhnen, Renten und den Transfereinkommen, um die Hauptkonsumenten zu stärken. Sie brachen mehr vom Kuchen.

Das zweite ist: Wir müssen für eine größere Steuergerechtigkeit sorgen, damit der Staat über mehr Handlungsoptionen verfügt, mehr für das Allgemeinwohl machen kann. Wir müssen die Reichen mehr besteuern und die Erleichterungen für diese Seite, die Rot-Grün mit den Steuerreformen ab 2001 geschaffen hat, wieder zurück drehen. Die Armen können sich einen armen Staat nicht leisten, die Reichen wohl. Auch die zusätzliche Belastung der mittleren Einkommen ist nicht hinnehmbar. Damit muss Schluss gemacht werden. Der Staat muss viel mehr an öffentlicher, vor allem sozialer,  Infrastruktur vorhalten, damit alle gleiche Chancen bekommen – unabhängig von ihrer sozialen Lage. Dafür braucht der Staat mehr Einnahmen.

Das dritte ist: Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme für alle schützen und ausbauen. Dafür müssen die Arbeitgeber wieder gleich an den Kosten der sozialen Sicherung beteiligt werden, die Arbeitnehmer über gute Entlohnung verfügen, damit sie die Beiträge leisten können, und der Staat muss über Steuerfinanzierung die Vorsorge für diejenigen treffen, die es nicht selber leisten können.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich für den diesjährigen 1. Mai »Gute Arbeit. Soziales Europa.« auf die Fahnen geschrieben. Was ist Ihnen in diesem Zusammenhang am wichtigsten? Das, was Sie hier skizzieren, zeichnet das Bild eines sozial gespaltenen Deutschlands.

Das ist ja auch amtlich und nicht nur meine persönliche Meinung. Deutschland ist sozial extrem gespalten. Das besagt ja schon der offizielle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Die untere Hälfte der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein Prozent des gesellschaftlichen Nettovermögens. Die oberen zehn Prozent der Haushalte „teilen“ sich die Hälfte des gesellschaftlichen Reichtums. Der DGB und ich sind da völlig gleicher Meinung. Dissens haben wir wohl in der Ansicht, wie man mit diesem Drama verfährt. Ich sorge mich, weil ich befürchte, dass die Führungsetage des DGB und die anderer Mitglieds-Gewerkschaften leider oft Realpolitik mit der Nähe zur Regierung verwechselt. Man kriegt Kleines auf kurzem Wege, aber der Weg aufs Ganze wird einem über so eine Strategie verbaut. Wir stehen einer Großen Koalition gegenüber, das sollten wir nicht vergessen. Einlullen wird ihre Strategie sein. Wir sollten da „hab acht“ sein. Raus zum ersten Mai, fordern, was wir wollen, Präsenz zeigen! Wir haben nix im Sack. Verbesserungen gibt es nur, wenn wir selbst dafür sorgen.

linksfraktion.de, 28. April 2014