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»...und irgendwann kracht´s dann«

Interview der Woche von Sabine Leidig,

Sabine Leidig über die Reform der Deutschen Bahn, die vor 20 Jahren begann, die Probleme damals und heute sowie die Folgen des Strebens nach Gewinnmaximierung und die Möglichkeit einer "echten Bürgerbahn"

 


Welche Erinnerungen haben Sie an den Tag vor zwanzig Jahren, als der Bundestag beinahe einstimmig für die Bahnreform stimmte?

Sabine Leidig: Ehrlich gesagt gar keine. Ich war damals als Jugendbildungsreferentin beim DGB für ganz Nordbaden zuständig, mit "Rock gegen Rechts", Ausbildungsplätzen… jedenfall mit anderen Themen beschäftigt und viel mit dem Auto unterwegs. Mein Interesse für die Bahn wuchs erst als ich 2002 Bundesgeschäftsführerin von Attac und autofrei wurde. Intensiv engagiert habe ich mich, als 2006 der Börsengang der DB-AG beschlossen wurde und ich die Bündniskampagne "Bahn für Alle" mit auf´s Gleis setzte.

Die wirtschaftliche Ausgangslage war Anfang der 1990er Jahre weder für Bundesbahn noch für die Reichsbahn rosig. Welche Schwierigkeiten gab es, welche Herausforderungen waren zu bewältigen?

Die Bundesbahn befand sich bereits Ende der 1980er Jahre in der Klemme. Knapp 40 Jahre lang waren die Verluste der Staatsbahn nicht – wie zum Beispiel in Österreich oder der Schweiz der Fall – durch den Eigentümer, den Staat, ausgeglichen worden. Die Bahn schob einen immer größeren Schuldenberg vor sich her; der 1990 auf über 23 Milliarden Euro (gut 47 Milliarden DM) angeschwollen war. Und für diese Schuldensumme musste sie Zinsen und Zinseszinsen zahlen. Oft lagen die Zinsen höher als der eigentliche Verlustbetrag aus dem sogenannten operativen Geschäft. Mit der Wende explodierten die Schulden, weil neue Aufgaben zu bewältigen waren. Die Reichsbahn der DDR hatte zunächst keine Altschulden. Aber es gab einen immensen Aufholbedarf bei Investitionen in Infrastruktur und Züge. Und nach drei Jahren war auch die Reichsbahn hoch verschuldet. Kurz: der Eigentümer, der Bund, hat bei Bundesbahn und Reichsbahn die finanziellen Probleme nicht angepackt und die Bahn bewusst in die Schuldenkrise treiben lassen. So konnte die Bahnreform, die formelle Privatisierung, als probate Lösung präsentiert werden.

Welche Rolle spielten dabei europäische Richtlinien?

Die damals gültige EU-Richtlinie forderte eine rechnerische Trennung von Fahrweg und Betrieb, aber keine eigentumsmäßige. 1994 gab es keinerlei Zwang zur Bildung einer auf Gewinn ausgerichteten Aktiengesellschaft, die wir formelle Bahnprivatisierung nennen, weil einziger Aktionär und Eigentümer der Bund ist. Die Grundgesetzänderungen vom Dezember 1993 sahen allerdings bereits vor, dass der Bahnbetrieb ganz privatisiert werden kann, und dass der der Bund lediglich an der Infrastruktur eine Eigentums-Mehrheit, also 51 Prozent, behalten muss.

Musste denn für die Reformierung der Deutschen Bahn die Form einer Aktiengesellschaft gewählt werden?

Nein. Es hätte Alternativen gegeben. Möglich war ein Zusammenfügen von Bundesbahn und Reichsbahn in einem Unternehmen, das als "Sondervermögen des Bundes" geführt wird, so wie die Bundesbahn seit 1949. Denkbar war auch die Form der Anstalt des öffentlichen Rechts, wie dies der ARD oder der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zugrunde liegt. Das wäre ein Unternehmen in hundertprozentigem öffentlichem Eigentum, aber mit der wichtigen Unabhängigkeit von der jeweiligen Regierungspolitik; zugleich mit der Möglichkeit,  den "Shareholdern" (Umweltorganisationen, Beschäftigten, Fahrgastverbänden…) maßgeblichen Einfluss zu geben. Indem man die Form der Aktiengesellschaft wählte, tat man so, als könne ein Eisenbahnunternehmen wie ein Stahlkonzern, ein Autohersteller oder ein Teigwarenunternehmen rein nach dem Prinzip der Profitmaximierung arbeiten. Dabei wird komplett unterschlagen, dass das Unternehmen Deutsche Bahn zu einem erheblichen Teil von öffentlicher Finanzierung abhängig war, abhängig ist und abhängig bleiben wird.

Nach jahrelangem Ringen im Mai 2008 im Bundestag beschlossen, fiel der Börsengang der Bahn dann wegen der Finanzkrise erst einmal aus. Hat die Krise also doch auch ihre guten Seiten?

Sicher gibt es das auch – gute Seiten der Krise. Immerhin hat sich in weiten Teilen der Gesellschaft die Erkenntnis verbreitet, dass die entfesselten Finanzinstitute für die Krise verantwortlich sind und dass diese dafür erstens bezahlen und zweitens an die Kandare genommen, sprich unter öffentliche Kontrolle gebracht werden müssen. Kapitalismuskritik hat sich bin ins Feuilleton der FAZ ausgebreitet. Aber es war nicht nur und vielleicht nicht mal in erster Linie die Krise, die den Börsengang verhinderte. Im Juli 2008 gab es den ICE-Achsbruch in Köln, der jedem Investor signalisierte, dass es bei der DB AG enorme Risiken gibt. Vor allem aber gab es  eine recht erfolgreiche Kampagne gegen die Bahnprivatisierung, die vor allem vom Bündnis "Bahn für Alle" organisiert wurde. Dies hat erheblich dazu beigetragen, dass der SPD-Parteitag im Oktober 2007 mehrheitlich "Nein" zur Bahnprivatisierung gesagt hat. Und schließlich hat sich die deutliche und immer größer werdende Mehrheit in der Bevölkerung in Befragungen deutlich gegen eine Bahnprivatisierung ausgesprochen und davor bekamen Union und SPD angesichts der heranrückenden Bundestagswahl schlicht das Muffensausen.

Sind die Probleme der Bahn nicht auch zu einem großen Teil hausgemacht? Stichwort: Winterchaos 2011?

Ja und Nein. Es gab diese Höhepunkte der Bahnmisere wie Winterchaos, Sauna-ICE, S-Bahn Berlin-Desaster und die Tragödie in Mainz im vergangenen August. Doch diese haben alle den gemeinsamen Nenner: Die Bahn fährt spätestens seit der Entscheidung pro Börsengang im Jahr 2003 auf Verschleiß und das ist auch heute so: Die Deutsche Bahn AG verfolgt, unterstützt durch die jeweiligen Bundesregierungen, seit einem Jahrzehnt eine Geschäftspolitik, die die Krisentendenzen im Kerngeschäft vertiefen muss. Auf der einen Seite entwickelte sich die DB AG zum Global Player, indem im Ausland massiv in die Übernahme von Logistik- und Bahnunternehmen investiert wurde. Auf der anderen Seite baut die Deutsche Bahn im Inland das Schienennetz ab und investiert vor allem in Großprojekte, die den Bahnverkehr behindern, wenn nicht direkt schädigen. Stuttgart21 ist dafür ein Beispiel von vielen. Die Orientierung auf unterschiedliche Privatisierungsmodelle, die auch von der gegenwärtigen Bundesregierung beibehalten wird, läuft darauf hinaus, dass im Schienenverkehr anstelle des Gemeinwohls das Ziel der Gewinnmaximierung im Zentrum steht. Die Folge war ein massiver Abbau der Bahnbelegschaft, das Streichen von Serviceleistungen und nicht zuletzt das Sparen bei Instandhaltung, Wartung und Sicherheit. Die Investitionen sind geringer als das, was verschleißt, der Investitionsstau wächst – und irgendwann kracht´s dann.

"Wir stehen zum integrierten Konzern DB AG." - so steht es im Koalitionsvertrag. Was ist von der aktuellen Großen Koalition zu erwarten, deren Mitglieder federführend Bahnreform und insbesondere den Börsengang vorangetrieben haben?

Im Vertrag steht – nach dem Zitierten – noch etwas anderes und zwar: "Die Eisenbahninfrastruktur ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und bleibt in der Hand des Bundes." Doch genau diese Formulierung öffnet erneut das Tor für den (Teil-)Verkauf des Eisenbahnbetriebs, also der unter dem Dach der 2008 gegründeten Subholding DB Mobility Logistics (DB ML) zusammengefassten Transportsparten DB Regio, DB Fernverkehr, DB Schenker Railion und DB Schenker Logistics. Entgegen anderslautender Presseartikel gibt es keine garantierte Abkehr  von Privatisierungsplänen dieser Unternehmensbereiche, die von der Infrastruktur getrennt sind. Wenn die GroKo zum integrierten Bahnunternehmen in öffentlicher Hand stehen würde, dann hätte es der Koalitionsvertrag eine Passage enthalten wie: "Mit Union und SPD wird es keinen Bahnbörsengang und keine Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG geben." Das steht da aber nicht. Und wir haben Signale aus der SPD, dass das kein Zufall ist und dass unsere Vermutungen begründet sind.

Gibt es dennoch Chancen, eine leistungsfähige, bezahlbare öffentliche Bahn für alle zu gestalten?

Sagen wir so: Fast niemand hatte im Mai 2008 erwartet, dass der Bahnbörsengang noch gestoppt werden könnte. "Bahn für Alle" machte weiter mit der Kampagne und am Ende wurde diese Privatisierung drei vor zwölf gestoppt. Niemand hatte vor vier Jahren auf dem Schirm, dass sich in Stuttgart eine Bewegung gegen das Großprojekt Stuttgart 21 entfalten würde, die die Republik verändert. Der Protest dort gegen ein zerstörerisches Projekt geht – auch nach der 200. Montagsdemo – weiter und könnte am Ende auch noch Erfolg haben. Und kaum jemand glaubt, dass es einmal eine echte Bürgerbahn und eine überzeugende Flächenbahn geben könnte, die optimalen Schienenverkehr mit optimalem Betriebsklima verbindet. Aber wir engagieren uns weiter genau dafür – zusammen mit Fahrgastverbänden, mit Umweltorganisationen, Initiativen für solidarische Mobilität und mit den engagierten Beschäftigten bei der Bahn, damit aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird.

linksfraktion.de, 30. Dezember 2013