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Sterbehilfe: Gründliche Evaluierung statt Schnellschüsse

Im Wortlaut von Harald Weinberg,

Harald Weinberg, gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion, nimmt eine differenzierte Bestandsaufnahme der Debatte um aktive Sterbehilfe in Deutschland und den Nachbarländern vor und fordert die Abgeordneten aller Fraktionen auf, zunächst ernsthaft und umfassend die derzeitigen Bedingungen und Möglichkeiten schwerkranker Menschen zu evaluieren, statt rechtliche Regelungen im Schnellschussverfahren zu beschließen.

 

Wann empfinde ich das eigene Leben noch als lebenswert und wann nicht mehr? Das ist die Kernfrage, die sich hinter der Debatte um die Sterbehilfe verbirgt. Sind unerträgliche Schmerzen die Grenze? Ist die völlige Abhängigkeit von anderen Menschen oder von Maschinen die Grenze? Ist der selbständige Toilettengang, der von Vielen in diesem Zusammenhang aufgeführt wird, die Grenze? Oder ist der Wille des unheilbar kranken Menschen zum Suizid, den er aber nicht selbst ausführen kann (oder will?) die Grenze?

Im dritten Reich wurde die Grenze zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben von einem von Nazis beherrschten Staat festgelegt. Es ging dabei nicht um den Wunsch des Einzelnen zu sterben. Dass sich dies nicht wiederholen darf, darin sind sich heute alle einig. Auch dass überhaupt ein Staat oder die Gesellschaft dem Individuum von außen keine Kriterien vorgeben darf, wann sein Leben nicht mehr lebenswert ist, ist politischer Konsens. Deshalb rate ich auch dazu, niemandem, der sich an dieser aktuellen Diskussion beteiligt, die Menschlichkeit abzusprechen, die vor rund 70 Jahren so kläglich versagt hat in Deutschland. Unabhängig davon, welche Position er oder sie vertritt.

Wenn man aktive Sterbehilfe entkriminalisieren will, dann wird es an dem Punkt schwierig, an dem man festlegen muss, wann die Tötung eines sterbewilligen Menschen straffrei sein soll. Reicht der Wille des Betroffenen zum Sterben aus? Müssen zusätzlich gewisse Voraussetzungen erfüllt sein? Wenn ja welche?

Regelungen in anderen Staaten

Wie haben diese Frage die Staaten beantwortet, die aktive Sterbehilfe liberalisiert haben? Es gibt nur vier europäische Staaten, die in unterschiedlichem Maße diesen Weg gegangen sind. Alle vier sind Nachbarstaaten Deutschlands: Niederlande, Belgien, Luxemburg und die Schweiz. Grundsätzlich legen Gesetze dort fest, dass zwei Bedingungen erfüllt sein müssen: Erstens muss der oder die Sterbewillige urteilsfähig sein und den Wunsch zu sterben ernsthaft sowie gegebenenfalls über einen längeren Zeitraum verfolgt haben. Und zweitens muss eine schwere und unheilbare Erkrankung vorliegen. Auch formale Kriterien gibt es. In den Niederlanden dürfen nur Ärztinnen und Ärzte Sterbehilfe leisten und auch nur dann, wenn mindestens eine Zweitmeinung eingeholt wurde. Auch muss die Sterbehilfe an eine Ärztekommission gemeldet werden, die zu prüfen hat, ob sorgfältig entschieden wurde und die Gesetze eingehalten wurden.

Aber auch mit diesen Regelungen kann man nicht alle individuellen Einzelfälle erfassen, die das Leben mit sich bringt. Wie schwer muss eine Krankheit sein? Wie wahrscheinlich muss die Unheilbarkeit der Krankheit sein? Wie zurechnungsfähig muss der Mensch sein?

Das sind keine akademischen Fragen, sondern ganz reale: So wurde Ende 2012 Sterbehilfe an einer körperlich gesunden 35-jährigen Frau mit einer schweren Psychose geleistet. Ihre Situation war aus ihrer Sicht und der der vier Mediziner, die ihre Lage beurteilten, unerträglich, aber ob sie wirklich unheilbar krank war und keine Möglichkeit einer Besserung bestanden hat, war unter den vier Ärzten umstritten. Der Fall landet nun wohl vor Gericht. In Belgien wurde gerade die Möglichkeit der Sterbehilfe für Kinder eröffnet, obwohl klar ist, dass Kinder nur eingeschränkt urteilsfähig sind.

So etwas befeuert die Befürchtung von Gegnern der Sterbehilfe, dass mit der Eröffnung der Möglichkeit Druck auf Kranke und auf die Medizinerinnen und Mediziner aufgebaut wird. Wenn es möglich wird, zu sterben, damit man den Angehörigen und der Gesellschaft nicht zur Last wird, kann sich an diejenigen, die keine Sterbehilfe wünschen, die Frage richten , warum sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen, so die Befürchtung.

Wird Sterbehilfe zur sozialen Norm oder schafft die Legalisierung Transparenz?

Wird in den Niederlanden mehr Sterbehilfe geleistet, seit sie 2002 legalisiert wurde? Wird Sterbehilfe zur sozialen Norm? Die Zahlen dazu sind widersprüchlich. Zum einen stieg in den Jahren 2008 bis 2012 die Anzahl der gemeldeten Sterbehilfen pro Jahr von 2331 auf 4188. Andererseits ist diese Zunahme womöglich dadurch begründet, dass immer mehr Transparenz in das Geschehen rund um die Sterbehilfe gebracht wurde und dadurch Licht in eine vormals vorhandene Grauzone gebracht worden ist. Dies könnte ein Grund für das Ansteigen der Zahlen auch lange nach der Liberalisierung sein. In relativen Zahlen ausgedrückt liegt der Anteil der Sterbehilfe an allen Todesfällen in den Niederlanden bei etwa 2,5 Prozent. Wissenschaftler der Universitäten Rotterdam und Amsterdam veröffentlichten 2012 im britischen Medizinjournal „Lancet“ eine Studie, wonach die Zahlen von 1990 und 2001 vergleichbar mit denen von 2010 sind. Im Jahr 2005, also drei Jahre nach der Legalisierung waren es sogar nur 1,7 Prozent. Das deutet darauf hin, dass Sterbehilfe offenbar keine soziale Norm in den Niederlanden geworden ist.

Im Gegensatz zu den Niederlanden ist in Deutschland die aktive Sterbehilfe zwar verboten, die Beihilfe zum Suizid aber auch Nicht-Medizinern ohne weitergehende gesetzliche Regelungen erlaubt. Wie viele solcher Fälle es gibt, ist nicht bekannt. Medizinerinnen und Medizinern ist in Deutschland die Sterbehilfe berufsrechtlich seitens der Ärztekammer untersagt. Ein Grund dafür, dass die Debatte um die Sterbehilfe nun geführt wird, liegt darin, dass diese gesetzliche Lücke von Vereinen wie dem von Roger Kusch genutzt wird. Das Fehlen weitergehender Regelungen setzt solchen Vereinen keine Grenzen bzw. knüpft ihr Wirken an keine überprüfbaren Bedingungen. Ob tatsächlich eine unheilbare und schwere Erkrankung vorliegt, hat nur der Sterbewillige und der Verein zu beurteilen. Dieser Zustand ist sehr zweifelhaft und unbefriedigend. So werden auch viele Befürworter einer Liberalisierung der Sterbehilfe mit dem Fall, den ein Handbuch des Vereins beschreibt, in dem ein unter 40-Jähriger psychisch Kranker beim Suizid unterstützt wurde, der aber formal geschäftsfähig war, ihre Probleme haben. Eine genauere gesetzliche Regelung ist unumgänglich.

Evaluation als wichtige Vorbereitung einer Diskussion über rechtliche Regelungen

Wir werden also in Deutschland die Sterbehilfe neu regeln müssen.

Die Diskussion wird sich bewegen zwischen einer weitgehenden Illegalisierung der Beihilfe zum Suizid auch für Nicht-Mediziner ohne die Eröffnung eines geregelten Verfahrens zur aktiven Sterbehilfe und der Schaffung eines entsprechenden Verfahrens.

Die niederländische Regelung genießt in Umfragen eine hohe Zustimmung. Auch in Deutschland gibt es eine Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung für eine Liberalisierung. Im Bundestag scheint jedoch insbesondere die Union mit großer Mehrheit weiterhin eine strafrechtliche Sanktionierung der aktiven Sterbehilfe sowie Einschränkungen bei der Beihilfe zum Suizid zu bevorzugen. Zusammen mit einigen Abgeordneten aus anderen Fraktionen könnte das für eine Mehrheit im Parlament ausreichen.

Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass meine Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten sich eingehend mit dieser Entscheidung beschäftigen. Dazu gehört für mich eine umfangreiche Evaluation, die die Bedingungen für ein würdevolles Sterben in den Blick nimmt, die es jetzt bereits in Deutschland gibt. Dabei geht es um den Stand und die Entwicklung der Palliativmedizin, den Stand und die Entwicklung von Palliativstationen und Palliativkliniken, die Entwicklung von schmerztherapeutischen Einrichtungen, der Stand an Hospizen, die Bedingungen, unter denen solche Einrichtungen arbeiten müssen, und vieles mehr. Natürlich sind auch die Erfahrungen und Bedingungen in der Altenpflege und in den Altenpflegeeinrichtungen einzubeziehen.

Sehr wichtig ist mir hierbei auch, dass wir die Erfahrungen auswerten, die unsere Nachbarstaaten mit der Liberalisierung gemacht haben.

Dieser Prozess der Evaluation bestehender gesetzlicher Regelungen im Ausland sowie der Situation rund um ein würdevolles Sterben bei uns in Deutschland sollte am besten abgeschlossen sein, bevor die ersten Gruppenanträge oder Gesetzesentwürfe  geschrieben werden.

Nur eine solidarische Gesellschaft und eine hervorragende Betreuung kranker und leidender Menschen ermöglicht es diesen überhaupt, sich selbstbestimmt für oder gegen das Leben zu entscheiden. Nur so kann in vielen Fällen ein würdiges Leben gelebt und zu Ende gebracht werden – egal wie man die Sterbehilfe strafrechtlich gestaltet. Dafür muss man insbesondere in der Pflegeversicherung Geld, viel Geld in die Hand nehmen. Wer hier nicht ernsthaft handeln will, sondern Pflegebedürftige, ihre pflegenden Angehörigen und die Pflegekräfte mit einer Teilkaskopflege alleine lässt, der sollte zur Sterbehilfe besser schweigen.

linksfraktion.de, 12. März 2014