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»SPD und Grüne werden eigenen Ansprüchen nicht gerecht«

Interview der Woche von Katja Kipping,

Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, über die wachsende soziale Ungleichheit in Europa und in Deutschland, den Kampf der LINKEN gegen Hartz IV und die Sanktionen sowie das doppelte Spiel von SPD und Grünen



Der US-Ökonom James Galbraith warnte kürzlich in einem Interview, dass die Euro-Krise zu einer "Explosion der Ungleichheit innerhalb Europas" führen werde. Wie sehen Sie die Situation?

  Der von Schwarz-Gelb beförderte und wahrscheinlich von SPD und Grünen unterstützte Fiskalpakt wird diese Richtung tatsächlich befördern. Aber es ist kein Naturgesetz, dass es so kommt. Diese "Explosion der Ungleichheit" kann verhindert werden – der politische Wille vorausgesetzt. Wie sagte Che Guevara einst so schön: "Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten." Wir müssen deshalb versuchen, gemeinsame soziale Protestformen in Europa zu praktizieren. Da sind auch die Gewerkschaften gefragt. Wir brauchen eine europäische Tarifbewegung.   Steckt Sozialpolitik in Zeiten der Krise selbst in einer Krise?   Gerade wenn man der Krise gerecht werden will, muss das Masseneinkommen gestärkt werden, denn wenn Menschen mit niedrigen bis mittleren Einkommen mehr Geld zur Verfügung haben, geben sie dieses aus und kurbeln damit die Wirtschaft an. Reichere hingegen legen mehr Geld eher an. Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik wie für eine volkswirtschaftliche produktive Politik ist die Umverteilung von oben nach unten. Dafür ist viel Spielraum, schließlich besitzen die reichsten zehn Prozent in Deutschland zwei Drittel des Vermögens, während die restlichen 90 Prozent sich den Rest teilen.   In Deutschland wächst die Ungleichheit als Folge der rot-grünen Arbeitsmarktreformen seit Jahren. Rund 23 Prozent der Menschen arbeiten inzwischen im Niedriglohnbereich. Aber manche meinen, gerade deshalb sei Deutschland vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Was entgegnen Sie?
  Wenn 23 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbereich tätig sind, finde ich, kann keine Rede von gut aus der Krise gekommen sein. Und es ist gerade die Lohnzurückhaltung in Deutschland, die den Exportüberschuss beförderte. Und dieser wiederum hat die Krise innerhalb der EU befördert.   Zynisch gesprochen: mehr Ungleichheit, mehr prekäre Arbeit, mehr Lohndumping, um mehr Arbeit zu schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Sind die Menschen in Deutschland in Zeiten der Krise bereit, mehr Ungleichheit in Kauf zu nehmen? Warum erhebt sich kein Proteststurm?   Viele erfahren die Krise nicht unmittelbar als ihre Krise. Sie erleben sie nur als Medienevent. Ich nenne mal ein Beispiel: Die sogenannte Schuldenbremse wird mittelfristig wichtige Infrastrukturprojekte verhindern, soziale Rechte abbauen und kulturelle Aktivitäten versiegen lassen. Das passiert aber schleichend und wird erst in den kommenden Jahren für die Menschen spürbar. Wenn wir über den deutschen Tellerrand hinaus schauen, dann konnten wir in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von Protesten beobachten: die Sozialproteste in Israel, die Jugendproteste in Spanien, Occupy in den USA oder die Proteste gegen die Abschaffung der Demokratie und des Sozialstaates in Griechenland. Es wird eine Frage der Zeit sein, bis die Proteste auch in Deutschland ankommen. Schauen wir doch mal, wie die Blockupy-Proteste Mitte Mai in Frankfurt verlaufen, zu denen auch DIE LINKE im Bundestag aufruft. Aber wenn ich noch einen Satz zur Schuldenbremse sagen darf?   Gerne.   Das ist ein klassischer Fall, wie man mit Sprache manipulieren kann. Treffender wäre von Demokratiebremse beziehungsweise Investitionsbremse zu sprechen, denn die direkte Folge des Fiskalpaketes wird ein Abbau von Demokratie sein, da die gewählten Parlamente ebenso wie Formen direkter Demokratie enorm eingeschränkt werden. Die Kürzungen werden – wie so oft – nicht die Banken, sondern diejenigen treffen, die ohnehin wenig bis nichts haben. Die Einsparungen werden im sozialen Bereich einschlagen, werden Bereiche, wie den Gesundheitsbereich, in dem überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten, besonders hart treffen. Griechische Aktivisten berichten davon, dass im Ergebnis der Kürzungsauflagen inzwischen schwangere Frauen nur dann in einem Krankenhaus zur Geburt aufgenommen werden, wenn sie zuvor 1000 Euro bezahlen. 1000 Euro Wegezoll für den Weg zum Kreißsaal – das ist offensichtlich der Takt, den die Herrschenden heute Europa vorgeben wollen.   Eine DGB-Studie belegte kürzlich, dass immer mehr Menschen aus dem Job direkt in Hartz IV fallen. 
Die soziale Rutsche wird demnach immer steiler – mit welchen Folgen für das soziale Klima im Land? 


Im Londoner Stadtteil Tottenham gab es im vergangenen Jahr Straßenschlachten und Plünderungen. Sowas kommt von sowas. Die Mittelklasse sollte sich deshalb einmal gut überlegen, ob sie und ihre Kinder in einer Gesellschaft leben wollen, die durch Gettoisierung, Sozialaufstände und Abstiegsangst gekennzeichnet ist. Wenn man sich die wachsende Zahl an psychischen Krankheiten ansieht, dann merkt man, was eine Gesellschaft, die auf soziale Ungleichheit setzt, und glaubt, die Menschen mit Existenzängsten zu mehr Leistung zu bringen, mit den Menschen macht. Die Glücksforschung sagt übrigens, dass Menschen in ungleichen Gesellschaften unglücklicher sind.   Die Arbeitsagentur meldete jüngst neue Rekorde bei den Sanktionen gegen erwerbslose Hartz-IV-Empfänger. Die Sanktionspraxis verschärft sich offenbar, obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits Anfang 2010 forderte, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten...

Ja, das ist ein Skandal. Wir haben damals ausgerechnet, dass der Regelsatz mindestens 514 Euro betragen müsste. Stattdessen erhöhte die Bundesregierung den Regelsatz nur um zynische fünf auf 364 Euro. Wir als Fraktion der LINKEN wollten deshalb eine Normenkontrollklage anstreben, um die Bundesregierung zu zwingen, einen verfassungskonformen Regelsatz festzusetzen. Hierfür benötigt man aber 25 Prozent der Bundestagsabgeordneten. Um die Klage einzureichen, brauchten wir also die Unterstützung von SPD oder von Bündnis 90/Die Grünen. Aber weder die SPD noch Bündnis 90/Die Grünen waren dazu bereit.   In dieser Woche stimmt der Bundestag namentlich über einen Antrag der Fraktion DIE LINKE, mit dem die Sanktionen abgeschafft werden sollen. Was erwarten Sie von den Hartz-IV-Parteien, der SPD und den Grünen?   Von den Grünen erwarte ich Unterstützung, weil sie sich gerne als Bürgerrechtspartei inszenieren und sie sich deshalb gegen die demütigenden Sanktionen stellen sollten. Von der SPD erwarte ich Unterstützung, weil die Gewerkschaften zurecht beschrieben haben, dass Hartz-IV ungeheuren Druck auf die Löhne ausübt. Aber wissen Sie was? Im Ausschuss haben weder SPD noch Die Grünen für die Abschaffung der Sanktionen gestimmt. Hier zeigt sich, wie wenig beide ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Wir werden auf jeden Fall das Ergebnis der namentlichen Abstimmung öffentlich machen, sodass jeder nachschauen kann, wie sich die Abgeordneten seiner Region verhalten haben.    Obwohl Ungleichheit und prekäre Beschäftigung in Deutschland zunehmen und immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, drückt sich das nicht in mehr Stimmen für DIE LINKE aus. Haben Sie eine Erklärung dafür?   Oh, dafür habe ich mehrere. Aber das Räsonieren über verschüttete Milch ist eher etwas für lange Strategiepapiere als für Interviews. Deswegen schaue ich lieber nach vorne und schlage dafür Folgendes vor: Wir müssen Motor des Umdenkens werden. Der französische Linkskandidat Mèlenchon will 100 Prozent Einkommenssteuer ab 320.000 Euro Jahreseinkommen. Ich finde das unterstützenswert. DIE LINKE muss den Mut haben, neue Wege zu gehen, dazu gehört für mich die Forderung nach einem Einkommenskorridor: Keiner darf unter 1000 Euro fallen. Das garantiert ein Grundeinkommen für alle am besten. Und ab dem 40-Fachen des Grundeinkommens greift ein 100-prozentiger Steuersatz. Grundeinkommen und Höchsteinkommen gehören zusammen.   Wie können die Menschen wieder für das soziale Projekt der LINKEN gewonnen werden?
  Eine neue soziale Idee – das ist ein starkes Versprechen, dessen Einlösung noch aussteht. Wir sollten folgende Alternativen stärker in den Vordergrund stellen: erstens eine Mindestrente, die jeden Rentner und jede Rentnerin vor Armut schützt. Zweitens eine bedarfsunabhängige Kindergrundsicherung, die allen Kindern und Jugendlichen Teilhabe garantiert, drittens den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. Warum nicht auch in Form eines entgeltfreien ÖPNV?

linksfraktion.de, 23. April 2012